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Studentenbewegung und »Frankfurter Schule« Politische und mentale Barrieren

Wenn man über das Verhältnis der studentischen Protestbewegung von 1968 zur »Frankfurter Schule« und die permanente Bezugnahme auf diese nachdenkt, ist es wichtig, auf zwei Punkte hinzuweisen: Zum einen war die Studentenbewegung mit Sicherheit keine lokale oder gar provinzielle Frankfurter Veranstaltung. Sie erfasste gleichzeitig fast die ganze Welt, einschließlich hermetisch abgeschotteter Regionen wie den damaligen sogenannten »Ostblock« oder Länder wie China. Auch ihre Bezugspunkte waren global: der Vietnamkrieg, der Völkermord in Biafra, die Ausbeutung der »Dritten« durch die »Erste Welt«, der Prager Frühling, die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die Ermordung Martin Luther Kings spielten in allen Ländern, in denen die Studenten protestierten, eine mehr oder weniger große Rolle und bildeten so etwas wie das internationale Umfeld der unterschiedlichen nationalen Ausprägungen und Reichweiten der Proteste. Die Bezeichnungen »Go-in« und »Tech-in« zum Beispiel bezogen die europäischen Protestbewegungen direkt von der nordamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Dort meinte »Go-in« die Taktik, Wirte zur Bedienung schwarzer Gäste zu zwingen, indem man sich einfach in die Restaurants und Cafés setzte und auf Bedienung bestand. Der Berliner Doktorand Theodor Ebert, der sich in den USA aufhielt, übersetzte »Go-in« 1965 in seiner Arbeit über »gewaltfreien Widerstand« wörtlich mit »Sitz-Hinein-Methode«. Ein Jahr später fand am 22. Juni 1966 im Rahmen einer Demonstration für die Demokratisierung des Hochschulbetriebs in Berlin das erste »Sit-in« statt.

Daneben war das Verhältnis von Protestbewegung und »Frankfurter Schule« allein in Frankfurt (Main) ein unmittelbares, denn die Studenten hatten direkt mit den Koryphäen der »Frankfurter Schule«, d. h. den 1933 ins Exil vertriebenen Professoren und Intellektuellen zu tun. Diese waren nach 1945 an das neu gegründete Frankfurter »Institut für Sozialforschung« zurückgekehrt und lehrten an der Frankfurter Universität. So bildete in Frankfurt die Auseinandersetzung mit der »Frankfurter Schule« bzw. der »Kritischen Theorie« – neben den globalen Anknüpfungspunkten – das wichtigste Ziel des Protests.

Im Zentrum der deutschen Protestbewegung standen aber 1968 nicht die beiden Remigranten Theodor W. Adorno (1903–1969) und Max Horkheimer (1895–1973). Zum Hauptgegner und zur Zielscheibe wurde der junge, 1929 geborene Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas.

Diese Konstellation führte zu einer Art schiefen Schlachtordnung. Denn Habermas war als »58er« ein Vorläufer der »68er«, d. h. ein Anhänger der Anti-Remilitarisierungs- und Antiatombewegung, die während des Jahres 1958 landesweit mehr Protestierende mobilisierte als die Studentenbewegung zehn Jahre später. In einer Rede auf der von Gewerkschaftern und Pazifisten organisierten Kundgebung am 20. Mai 1958 in Frankfurt rief der 28-jährige Habermas, damals Assistent Adornos, etwa zu »Zivilcourage«, »Unruhe als Bürgerpflicht« und einer »Politik der Entspannung« auf – angesichts der gegenseitigen militärischen Bedrohung durch tatsächlich vorhandene, nicht nur propagandistisch herbeigeredete Massenvernichtungsmittel und der mentalen Verhetzung der Bürger durch den Kalten Krieg zwischen den ideologischen Blöcken ein durchaus angebrachter Schritt.

Dass sich der Nachwuchswissenschaftler Habermas in der Antiatom- bzw. Friedensbewegung engagierte und gegen die amerikanische »Politik der Stärke« vernünftige Gründe vortrug, brachte Max Horkheimer in Rage. In den Protestmärschen und Demonstrationen sah er nur »verärmlichte, verflachte und vulgarisierte« Kopien der Französischen Revolution. Habermas’ Literaturbericht »Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus« in der angesehenen Philosophischen Rundschau brachte das Fass zum Überlaufen. Horkheimer schrieb im September 1958, auf dem Höhepunkt der Proteste der Friedensbewegung, den längsten Brief seines Lebens – neun Druckseiten – an Adorno. Horkheimer legte Adorno nahe, den »studentischen Propagandisten« Habermas, der mit seiner Marxinterpretation »nur den Geschäften der Herren im Osten Vorschub« leiste, möglichst schnell und lautlos aus dem Institut zu entfernen, da er diesem nur Schaden zufügen könne. Die Öffentlichkeit erfuhr von diesem Brief erst 1973 – vier Jahre nach Adornos Tod. Horkheimer revidierte sein krasses Fehlurteil über Habermas von 1958 bereits 1960 und empfahl den 30-Jährigen dem »American Jewish Committee« als »meistversprechenden Intellektuellen der Bundesrepublik«.

Eine erste, eher sanfte Kontroverse zwischen der Kritischen Theorie und der Studentenbewegung ergab sich im Sommer 1965 nach einem Vortrag Adornos in Berlin. Der damals zur »Subversiven Aktion« gehörende Rudi Dutschke – einer Gruppe aus dem Umfeld der »Situationistischen Internationale« Guy Debords – stellte Adorno kritische Fragen zum Verständnis und Verhältnis von Theorie und Praxis der »institutionalisierten Kulturkritik« (Dutschke) in der aktuellen politischen Lage.

Zum Eklat zwischen der gerade entstehenden Studentenbewegung kam es nach einem Vortrag Horkheimers zur Eröffnung der »Deutsch-Amerikanischen Freundschaftswoche« im Frankfurter Amerika-Haus am 7. Mai 1967. Horkheimer verteidigte den Vietnamkrieg der USA, gegen den es in der Bundesrepublik seit 1966 Proteste und Demonstrationen gab, als »Verteidigung der Verfassung« und »Verteidigung der Menschenrechte« sowie der »Welt, in der es noch ein bisschen so etwas wie Freiheit gibt«. Der Frankfurter Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) warf Horkheimer daraufhin eine »blinde, privatistisch verkleidete Apologie der amerikanischen Außenpolitik« sowie »Unwissenschaftlichkeit« und »Apologie des Faschismus und Imperialismus« vor. Nicht minder schroff reagierte Herbert Marcuse (1898–1979), der nach 1945 in den USA blieb, aber seit den 60er Jahren regelmäßig Europa besuchte, auf Horkheimers Rede: »Was in Vietnam geschieht, sind Kriegsverbrechen und Verbrechen an der Menschheit. Die ›andere Seite‹ begegnet dem Terror mit Terror, aber sie hat weder Napalm, noch ›fragmentation bombs‹, noch ›saturation raids‹«.

Zehn Tage nach der Ermordung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 diskutierten Adorno und Horkheimer in einem Frankfurter Studentenheim mit dem SDS über Horkheimers Rede. Adorno vertrat zwar einen »emphatischen Praxisbegriff«, verglich aber Demonstrationen ungeniert mit den »Bewegungen eingesperrter Tiere«. Auf die aktuelle Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis angesichts des von einem Polizisten erschossenen Studenten, bekamen die Studenten von den beiden Vertretern der »Kritischen Theorie« keine Antwort. Hans-Jürgen Krahl vom Frankfurter SDS raunte von »anderen Mitteln als jene der klassischen Aufklärung«.

Der gewaltsame Tod von Benno Ohnesorg markiert nicht den Anfang der Studentenbewegung, aber sicher ein Schlüsselereignis. Am 5. Juni 1967 – dem Tag von Ohnesorgs Beerdigung – demonstrierten Studenten in allen Universitätsstädten. Vereinzelt ordneten Rektoren an, die universitären Veranstaltungen an diesem Tag ruhen zu lassen – zum Gedenken an den getöteten Kommilitonen. Nach der Beerdigung in Hannover tagte dort am 9. Juni 1967 der Kongress »Student und Demokratie« des SDS. Jürgen Habermas intervenierte gegen Dutschkes ebenso langwierigen wie diffusen Redebeitrag zum Begriff »Gewalt«: »Herr Dutschke hat (…) nur vorgeschlagen, dass ein Sitzstreik stattfinden soll, das ist eine Demonstration mit gewaltlosen Mitteln. Ich frage mich, warum nennt er das nicht so, warum braucht er eine dreiviertel Stunde, um eine voluntaristische Ideologie« zu entwickeln. Diese bezeichnete Habermas als »linken Faschismus«, Dutschke sprach von »organisierter Gegengewalt unsererseits«.

Habermas bestand als einziger Frankfurter Professor im Juni 1967 öffentlich darauf, dass die Umstände der Erschießung Benno Ohnesorgs unabhängig ermittelt werden: »Die Bürger der Bundesrepublik haben (…) Anspruch darauf, durch beschleunigte und minutiöse Untersuchungen darüber Gewissheit zu erlangen, ob ihre Polizei Terror übt – oder ob dieser Verdacht zu Unrecht besteht. Wenn die Interpretation der Berliner Kriminalpolizei, die in dieser Sache Partei ist, ohne für die breite Öffentlichkeit überzeugende Kontrolle hingenommen würde, bestünde die Gefahr einer stillschweigenden Umwandlung unseres demokratischen Rechtsstaates in einen Polizeistaat«.

Habermas stellte später mehrmals und energisch klar, dass er die Studentenbewegung nicht pauschal in die Nähe eines links motivierten Faschismus rücken wollte, blieb aber bei seiner Kritik am leerlaufenden Aktionismus, der sich oft auf Herbert Marcuse – den »Philosophen der Jugendrevolte« (Habermas) – berief, vor allem auf dessen Satz im Essay über »Repressive Toleranz«: »Wenn sie [Anm.: unterdrückte Minderheiten] Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigstens der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen«. An den normativen Grundlagen dieses Satzes – rechtlichen wie politischen – ist sozusagen alles unklar und Habermas replizierte deshalb aus der Ferne: »Ich würde wünschen, dass Marcuse diesen Satz noch einmal erläuterte«.

Marcuse war der unumstrittene und einflussreichste Mentor der deutschen wie der europäischen Protestbewegung, obendrein der mit Abstand meistgelesene Autor der ersten Generation der »Kritischen Theorie«. Im Rahmen der Vortragsreihe »Das Ende der Utopie« (10. bis 13. Juli 1967) in Berlin sprach Marcuse über »Das Problem der Gewalt in der Opposition«. Darin griff er zwar das Thema »Widerstand« auf, verfehlte jedoch eine Präzisierung und ließ die Zuhörer, darunter Hans-Jürgen Krahl, ratlos zurück vor dem Problem, das Krahl formulierte: »Wie ist es möglich, eine waffenlose Opposition mit konkret revolutionärem, gegengewaltigem Anspruch darzustellen?«

Mit dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968, Blockaden gegen das Haus des Springer-Verlags in Berlin und die Societätsdruckerei in Frankfurt sowie den Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze und den Streiks an mehreren Universitäten verschärften sich die politischen Auseinandersetzungen. Krahl beschwor in seiner Römerbergrede in Frankfurt am 27. Mai 1968 den »Faschismus von morgen« und predigte »aktiven Widerstand«. Habermas warf ihm und dem SDS wegen solcher verbaler Zuspitzungen vor, er verwechsle den symbolischen Protest mit dem faktischen Machtkampf, was er für eine »Wahnvorstellung« hielt.

Im Winter 1968 eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen Studentenbewegung und »Kritischer Theorie«. Den Anlass bildete die von technokratischen Hochschulpolitikern geplante Studienzeitverkürzung für Lehramtsstudierende. Deren Streik schlossen sich Anfang Dezember 1968 die Soziologiestudenten an und riefen zum »aktiven Streik« auf, d. h. zum Boykott der offiziellen Lehrveranstaltungen und zur Selbstorganisation des Studiums. Ludwig von Friedeburg (1924–2010), Adorno und Habermas »begrüßten und unterstützten« die studentische Forderung nach selbstverantwortlicher Organisation des Studiums, akzeptierten die drittelparitätische Leitung des Instituts, lehnten aber die maßlose Forderung nach »Zerschlagung des herkömmlichen Wissenschaftsbetriebs« (Reimut Reiche) als Angriff auf die Basis der Aufklärung ebenso entschieden ab: »Wer einzelne theoretische Ansätze durch institutionellen Zwang dogmatisieren will, (…) schickt sich an, die Bedingungen vernünftiger Rede und damit die Grundlage von Humanität abzuschaffen« (Habermas). Professoren, die sich monatelang mit den Studenten über die Hochschulreform gestritten hatten, wurden in den Augen verblendeter »Revolutionäre« über Nacht zu »Bütteln des autoritären Staates« abgestempelt, als sie nach der Besetzung des soziologischen Seminars und des »Instituts für Sozialforschung« ihr Hausrecht polizeilich durchsetzen ließen.

Unmittelbar vor seinem Tod am 6. August 1969 schlug Adorno einen versöhnlichen Ton an und konzedierte der Studentenbewegung, »den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen« zu haben, obwohl ihr »ein Quentchen Wahn beigemischt« gewesen sei, »dem das Totalitäre teleologisch innewohnt«.

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