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Das Musical Hamilton Politisches Musiktheater – wie geht das?

Wo sind die Musicals zu Hause? Auf dem Broadway und im West End natürlich. Oder am Off-Broadway, wenn sie noch nicht groß sind. Doch das Musiktheater spielt auch auf anderen Brettern: den Bühnen der kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen und politischen Imagination. Gute Stücke werden zu Ereignissen auch jenseits der Bühnen und des Feuilletons. Sie bewegen Menschen, motivieren sie, werden integriert ins Lebensgefühl von Generationen. Und sie sind auf produktive Weise kontrovers.

So entzündete sich nach der Uraufführung von George Gershwins Oper Porgy and Bess 1935 in Boston und seine darauffolgenden Broadway-Aufführungen eine erbitterte Debatte über die Besetzung, die aus afroamerikanischen Sänger/innen bestand. Es war eine rassistische Debatte darüber, wie gut denn diese schwarzen Künstler/innen überhaupt sein könnten (viele waren an den besten Konservatorien wie Juilliard oder dem New England Conservatory ausgebildet worden). 30 Jahre später provozierten die Neuaufnahmen im Windschatten der Bürgerrechtsbewegung eine ganz andere Diskussion: Die Handlung des Stücks, die sich im Armenviertel Catfish Row zuträgt, das sich eng an das reale Viertel Cabbage Row von Charleston (South Carolina) anlehnt, könnte zur Stereotypenbildung führen, da schwarze Menschen mit Armut identifiziert würden, also eine Form der Unterdrückung erführen, die sich auf der Bühne wiederhole und durch die Institution Bühne verstärke. So lehnten sowohl die puritanischen Rassisten als auch später die aufgeklärten Antirassisten Amerikas Gershwins Werk ab; ein Stück, das Duke Ellington als das Meisterstück seiner Generation bezeichnete. Künstlerpech oder eine Frage des Rezeptionshorizontes?

Dennoch avancierten derartige sozialen und kulturellen Verwerfungen, die Theaterstücke, Opern oder Musicals herausfordern, schnell zum Gestaltungsprinzip und Erfolgsmotor zahlreicher Bühnenstücke des 20. Jahrhunderts. Man denke hier nicht nur an Langston Hughes Libretto für Kurt Weills Street Scene (1946) oder an den Erfolg von Bertolt Brechts Musiktheater in Kalifornien und am Broadway, sondern auch an atemberaubende und vielgeliebte Musicals wie Jerome Kerns Show Boat (1927), Leonard Bernsteins West Side Story (1957) oder Jerry Bocks Fiddler on the Roof (1964). Der Skandal, die Kontroverse, die Empörung sind hier ebenso eingepreist wie auch der Zuspruch und Applaus des Publikums. Manche sehen in solchen Ansätzen die angeblich besonders gefährliche Fähigkeit des Kapitalismus, sich auch die härteste Systemkritik einzuverleiben und in ihrer Ästhetisierung die Warenförmigkeit zu neutralisieren. Andere erkennen darin einfach ein gutes Gespür für gutes Musiktheater. Theodor W. Adorno meinte in seiner Musiksoziologie etwas apodiktisch zum Jazz: »Nur die Unsitte, aus allem und jedem eine hochtrabende Weltanschauung zu machen, vernebelt das in Deutschland und installiert ihn [den Jazz] als heilig-unheiliges Gut, die Norm dessen, was gegen die musikalische Norm zu rebellieren wähnt.« Aber ist die Weltanschauung nicht alles, ist Lebensgefühl und Rhythmus der Gedanken nicht gerade das, was Musik und Kunst anziehend, auch – sagen wir es offen – relevant macht?

Es soll im Folgenden exemplarisch um Lin-Manuel Mirandas 2015 uraufgeführtes Musical Hamilton gehen. Bereits in seinem 2005 uraufgeführten In the Heights erkundete der Komponist und Librettist den veränderten Einfluss von Minderheiten auf die amerikanische Selbstauslegung. In the Heights spielt im dominikanisch-amerikanischen Milieu des Washington Heights-Viertels von Manhattan. Anders als Theaterschreiber wie etwa Arthur Miller und Tennessee Williams oder das Komponistenduo Richard Rodgers und Oscar Hammerstein, die freilich allesamt an der Schmelztiegelmythologie Amerikas mitschrieben, sind die Werke Lin-Manuel Mirandas eine dezidierte Wendung hin zum 21. Jahrhundert.

Das Musical Hamilton dramatisiert die ersten Jahre der jungen US-amerikanischen Republik durch die Perspektive des ersten Finanzministers Alexander Hamilton. Es beginnt auf der damals unter dem Joch des Empire stehenden Karibikinsel Nevis, dem Geburtsort Hamiltons. Das Stück thematisiert die zerrüttete Kindheit und Jugend des Protagonisten: seinen stigmatisierten Status als Bastard, das Verschwinden des Vaters, der frühe Tod der Mutter, den Selbstmord des Pflegeonkels. Zugleich entwickelt Lin-Manuel Miranda hier die Mythologie des opportunen, selbsthandelnden Subjekts der Neuen Welt: »Wie wird ein Bastard, Waise, ein Hurensohn und Schotte, der auf einem abgelegenen Flecken in der Karibik in Armut und Elend aufwächst, zu einem Helden und einem Gelehrten? Der Gründervater ohne Vater auf dem Zehndollarschein, kam viel weiter, indem er härter arbeitete, indem er sich selbst startete, und mit 14 Jahren bereits die Handelscharter verantwortete« (Prosaübersetzung). Was darauf folgt, ist ein wilder Ritt durch die frühen Jahre von Hamiltons Biografie: Studium, Aufnahme in den Stab George Washingtons, die Freundschaft zu seinem späteren Mörder Edward Burr und dem streitbaren Marquis de Lafayette, seine Heirat, der Sturm auf Yorktown sowie die Wende im Unabhängigkeitskrieg, die Wahl von 1800 und seine Beziehung zu Maria Reynolds mit dem daraus resultierenden politischen Skandal.

Performance und Politik

Die Komposition fordert jedoch in ihrem Duktus und ihrer Performancepolitik die Epoche um den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg heraus. Es geht nicht einfach darum, Nuancen und Akzente in einem Historikerstreit zu setzen, sondern um die schlichte Frage: Wie sind wir geworden wer wir sind? Diese Frage zu öffnen und offen zu halten und sie in die Gegenwart zu transponieren nach dem Motto »Schaut, das können wir sein!« ist ein zentrales Moment der Komposition. Es geht also nicht nur um Geschichtserkundung und Lehren aus der Vergangenheit, sondern ganz konkret um kollektive Bewusstseinssensibilisierung im Medium des Musiktheaters. Nicht um Pädagogik mit anderen Mitteln oder gar Volkspädagogik, sondern um Musik, die ihre Zuhörer/innen mit Stolz, Glück und Inspiration erfüllt.

Einerseits präsentieren die von Hip-Hop, Rap oder Pop-Techniken modellierten Nummern des Stücks eine Fraktur, eine krasse Gegenklangwelt zur sonst meist sehr symphonischen und vornehmen Auseinandersetzung mit der amerikanischen Geschichte auf der Bühne. Man vergleiche hierzu nur den behäbigen Klamauk in Sherman Edwards 1969 uraufgeführtem Musical 1776, das die Geschehnisse um die Unabhängigkeitserklärung dramatisiert.

Andererseits operiert das Musical mit einer Produktions- und Performancepolitik, die komplett mit Künstler/innen aus der Minderheitenbevölkerung arbeitet. Auch der Komponist selbst, Lin-Manuel Miranda, hat Wurzeln in der großen puerto-ricanischen Community New Yorks und war häufig, zuletzt 2017 nach dem Hurrikan Maria, für das Außengebiet Puerto Rico aktiv. Hier wird kein Migrantentheater gespielt oder, wie man im Umfeld des Berliner Maxim Gorki Theaters zu sagen pflegt, kein »Integrationstheater«, sondern eine inspirierende Öffnung des Resonanzraums vorangetrieben.

Die unglaubliche Musikalität und gymnastische, vitale Performativitätder Inszenierung entwickelt eine Atmosphäre der Leichtigkeit und Gravitas zugleich. Das Stück zirkuliert zwischen Balladen, Pop-Rezitativen der 70er Jahre, Rap-Segmenten und arhytmischen Passagen. Das Geschick seines Protagonisten steht in einer Weise im Vordergrund, dass man sich im 21. Jahrhundert mit ihm identifizieren kann, weil Themen verhandelt werden, die die Gegenwart ebenfalls beschäftigen. Das Einzelgeschick ist klassisch eingebettet in einen weltgeschichtlichen Handlungsbogen – den Kampf um die Unabhängigkeit von England und den Kampf um die Stabilisierung der jungen Nation angesichts rivalisierender innenpolitischer Interessen.

Aber auch hier dient die Historie nicht einfach als Folie, sondern wird archetypisch präsentiert: Washington als unentschlossener Feldherr, Burr und Hamilton als Beispiele für persönliche Ambition im Konflikt mit den Erfordernissen einer Demokratie, die Geschichte Marquis de Lafayettes als der eines Migranten, der vom solidarisierenden Geist der (amerikanischen) Revolution motiviert wird, die Schuyler-Schwestern oder Maria Reynolds als Typisierungen geschlechterspezifischer Kurzsichtigkeiten um 1800 und zugleich als tragisch-triumphale Verkörperungen von – ganz schlicht gesagt – der Kraft der Liebe. Es öffnet sich also nicht ein historisches Panorama, sondern ein symbolisch und typisierend verhandeltes Bühnengeschehen, in das sich auch der historisch unkundigste Zuschauer hineinversetzen kann. Die Rebellen bzw. gesellschaftlichen Außenseiter der amerikanischen Revolution treffen auf die ethnokulturell kodierte Musik des 21. Jahrhunderts.

Man könnte fragen, warum ausgerechnet hierfür Alexander Hamilton, Begründer der Federal Reserve Bank mit einer sehr stark nationalökonomischen Ausrichtung, später in seinem Leben sogar ein – auch entgegen seiner eigenen Herkunft – entschiedener nationaler Nativist, der in der von ihm selbst begründeten New York Post anonym 1802 schrieb: »Nicht nur Beispiele aus der Antike, sondern auch aus der Gegenwart (…) beweisen doch schon zu Genüge, was man von den Haltungen von Ausländern erwarten dürfte, denen erlaubt wird, viel zu früh in diesem Land Fuß zu fassen.« Der historische Hamilton griff hier erbost und fremdenfeindlich einen Antrag Thomas Jeffersons an, die vierzehnjährige Wartezeit auf Einbürgerung zu überarbeiten, und damit die Gesetzgebung zu verändern.

Warum wird also eine solche Figur ausgerechnet zur Ikone, Gallionsfigur der progressivsten linken Segmente im amerikanischen Kultursektor? Der atemberaubende Erfolg des Musicals führte das Ensemble auf Einladung Barack Obamas immerhin ins Weiße Haus, verhalf ihm zu elf Tony Awards (Best Musical 2016), einem Pulitzer-Preis für Drama, britischen Oliver Awards und vermehrte die Aufführungsorte rasant auf Bühnen etwa in Chicago und London und – wahrscheinlich ab Herbst 2020 – in Hamburg. Angeblich seien Schwarzmarkt-Tickets für die auf Monate hin ausgebuchten Vorstellungen für mehr als 1.000 Dollar im Umlauf.

Die größere Vision erzählen

Worin besteht also der Magnetismus dieses Stücks? Liegt es nur daran, dass die Schauspieler/innen ihre Aufführungen unterbrachen, um ein Statement gegen Rassismus zu verlesen, als 2016 Donald Trumps Vize Mike Pence das Musical während des Wahljahrs besuchen wollte, dies von vielen Kameras erfasst wurde und das Video viral ging? Liegt es daran, dass es sich als ein aktivistisches Stück gibt, das mehr daran interessiert ist, Menschen für einen Typus zu begeistern, als ihn depressiv zu problematisieren? Liegt es daran, dass dieses Musical in der Entscheidungsmächtigkeit des Augenblicks zentrale Themen mündigkeitsorientiert entwickelt und Figuren entwirft, die als Vorbilder und Inspirationsquellen angesehen werden können?

Woher kommt der Enthusiasmus? Warum zitierten während des Amtsenthebungsverfahrens Donald Trumps sowohl Demokraten als auch Republikaner Zeilen aus diesem Musical (»History has it's eyes on you«)? Es ist eine Frage, die sich auch hierzulande einige Intendanten stellen könnten (und sollten), bevor sie wieder Einschläferndes wie den Zigeunerbaron von Johann Strauss oder Die lustige Witwe von Franz Lehár ins Programm nehmen.

Selbstverständlich weckte das Musical Hamilton auch zahlreiche amerikanische Historiker auf, die sich über die ungenierte Romantisierung der Figur Alexander Hamiltons echauffierten. Häufig stellten sie die Quelle des Komponisten in Frage, nämlich die Hamilton-Biografie von Ron Chernow. Darin dominiert eine Auffassung, nach der Geschichte von großen Figuren gemacht wird. Ein bisschen altmodisch, klar. Doch vielleicht wird im Musical Hamilton nicht so sehr eine chronische Retrospektive betrieben, sondern an einem großen Narrativ gearbeitet, das ein Land und darin handelnde Menschen auf der Bühne imaginiert, nach dem sich eine neue Zuschauerschaft sehnt.

Die unerhörte Modernität des Musicals Hamilton liegt womöglich in seiner schamlosen und doch inspirierenden Wirkungsästhetik. Betrachtet man etwa die stark problemorientierten Theater- und Opernstücke jüngeren Datums, etwa der nihilistischen 90er Jahre und teilweise der Gegenwart, in denen eine dekonstruierende, alles infrage stellende Kompositionslogik herrscht (z. B. Ulf Schmidts langatmiges Bonnopoly über den größten Bauskandal in Bonn), so sieht man den Gegensatz sehr klar. Solche Bühnenarbeiten, wie sie heute noch öffentlich stark gefördert bzw. subventioniert werden, lassen die Zuschauer entweder mit Unbehagen oder noch größerer Ohnmacht zurück. Ihr kritischer Gestus ist oft lähmend und deprimierend, anstatt zwar kritisch zu sein, aber auch inspirierend und Handlungsräume öffnend. Aus diesem Grund ist Lin-Manuel Mirandas Musical Hamilton vielleicht die erste wahrhaft große Komposition des frühen 21. Jahrhunderts.

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