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Bücher zur Geschichte des Antisemitismus Pontinische Sümpfe

Johann Gottfried Herder, Johann Gottlieb Fichte, Clemens Brentano, Achim von Arnim, Ernst Moritz Arndt, Friedrich Schleiermacher – wohlklingende Namen der deutschen Geistesgeschichte. Philosophen, Schriftsteller, Denker, die als Lichtgestalten der Aufklärung gelten. Als Mitglieder der »Deutschen Tischgesellschaft«, der die meisten von ihnen angehörten, suhlten sie sich zugleich in antijüdischen Pöbeleien.

Peter Longerichs Buch Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte setzt hier ein. Für den in London lehrenden Historiker, der dort das Holocaust Research Centre gegründet und aufgebaut hat, handelt es sich bei der Geschichte des Antisemitismus in erster Linie um eine deutsche Geschichte. Er will die historischen Wurzeln des heutigen Antisemitismus als Aspekt des deutschen Nationalismus darstellen und damit vielleicht auch erklären.

Herder also beschimpfte das »Volk Gottes« als »parasitische Pflanze«. Für die Brüder Grimm war das Jiddische eine »Unsprache«. Und der Jenaer Philosophieprofessor Jakob Friedrich Fries meinte, wenn es schon nicht gelinge, »der Judenschaft bald möglichst ein Ende zu machen«, so solle man sich an die historischen Ereignisse in Spanien erinnern, wo »allem Volke zur Freude wurde, sie zu tausenden auf den Scheiterhaufen verbrennen zu sehen«. Auch in behördlichen Akten finden sich Gedankenspiele darüber, wie die Juden zu »vertilgen« oder gar »auszurotten« seien.

Doch dabei blieb es nicht: 1819 hallten durch die Straßen von Würzburg bis nach Dänemark die Schlachtrufe: »Hepp-Hepp, Jude verreck«. Das war der Anfang einer langen Kette antijüdischer Gewalt, die sich bis in die Gegenwart verfolgen lässt. Nachdem über Jahrzehnte Verwaltung, Politik, Wissenschaft und Publizistik bekräftigt hatten, dass Juden keine gleichberechtigten deutschen Staatsbürger sein könnten, war damit eine »Judenfrage« eigentlich erst geschaffen: nämlich das verbreitete Bewusstsein, dass die jüdische Minderheit auch jenseits religiöser Differenzen eine Sonderexistenz führte. Ludwig Börne schrieb: »Der Judenhaß ist einer der pontinischen Sümpfe, welche das schöne Frühlingsland unserer Freiheit verpesten.«

Die nächste Zäsur setzt Longerich mit der Reichsgründung von 1870/71. Nun kam der Begriff Antisemitismus in die Welt, um auszudrücken, dass die angebliche jüdische Vorherrschaft als »Semitismus« bereits eingetreten und deshalb mit »Antisemitismus« zu bekämpfen sei. Der protestantische Pfarrer Adolf Stöcker, Domprediger in Berlin, gründete die christlich-soziale Arbeiterpartei mit sozialreformerischer und antisemitischer Tendenz: »Die Juden bleiben ein Volk im Volk, ein Staat im Staat, ein Stamm für sich unter einer fremden Rasse.« Der Journalist Wilhelm Marr, Begründer einer »Antisemitenliga«, fabelte über den »Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum«, und der einflussreiche Historiker Heinrich Treitschke urteilte: »Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf (…) ertönt es heute aus einem Munde: Die Juden sind unser Unglück!« Eugen Dühring, ein SPD-naher Jurist und Nationalökonom, spitzte das Thema in seinem Buch Die Judenfrage als »Racen-, Sitten- und Culturfrage« weiter zu. Er forderte, die Presse zu »entjuden«, »gemischte« Ehen zu vermeiden und jüdische Geschäfte unter staatliche Überwachung und Mitverwaltung zu stellen. Die deutsche antisemitische Bewegung, so lautet Longerichs Zwischenbilanz, wirkte seit den 1870er Jahren als Vorbild und Schrittmacher des Antisemitismus in Europa. Zwar habe es sich um ein gesamteuropäisches Phänomen gehandelt, doch mit unterschiedlichen nationalen Wurzeln und Ausprägungen.

Peter Schäfer, Judaist und ehemaliger Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, beschreibt in seiner Kurzen Geschichte des Antisemitismus das Phänomen im erweiterten historischen Zusammenhang und gleichsam aus der Vogelperspektive. Für ihn beginnt Antisemitismus in der vorchristlichen Antike und reicht bis in die Gegenwart. Er verwendet den Begriff Antisemitismus für alle Formen der Judenfeindschaft von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ausdrücklich widerspricht er der These, wonach erst das Christentum mit dem Vorwurf des Messias- und Gottesmordes die Judenfeindschaft in die Welt gebracht habe.

Als älteste Quelle eines Vernichtungsantisemitismus zitiert Schäfer das biblische Buch Esther, das in der Zeit des Perserkönigs Xerxes spielt, aber wahrscheinlich erst 200 Jahre später entstanden ist. Dort beauftragt König Ahasveros seinen Vasallen Haman, das unbotmäßige Volk der Juden zu vernichten: »Umzubringen alle Juden, jung und alt, Kinder und Frauen (…) und ihr Hab und Gut zu plündern«. Schäfer kommentiert: »Es fällt schwer, in diesen noch in der vorchristlichen Antike einem persischen König in den Mund gelegten Worten nicht ein Modell der monströsen Einstellung zu sehen, die die Geschichte der Juden durch die Jahrhunderte hindurch bis zu ihrem bisherigen Höhepunkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begleiten sollte.«

Für Schäfer markiert das hellenistische Ägypten des ersten nachchristlichen Jahrhunderts den Höhepunkt des antiken Antisemitismus. Viele Juden hatten sich nach der Eroberung Ägyptens durch Alexander dort niedergelassen. In römischer Zeit, zur Zeit des Kaisers Caligula, eskalierte ein Steuerstreit, in dessen Verlauf der Präfekt Avillius Flaccus dem Mob erlaubte, »die Juden auszuplündern wie bei der Einnahme einer Stadt«. Die ansässigen Juden verloren das Bürgerrecht und wurden in einem engen Quartier Alexandrias wie in einem Getto zusammengepfercht. Daraus entwickelte sich der größte Pogrom, der aus dem Altertum bekannt ist.

Weitere Spuren in der Geschichte des Antisemitismus findet Schäfer im christlichen Antisemitismus des Neuen Testaments und im Islam, und zwar von der Spätantike bis ins Mittelalter. Der christliche Hebraist Johannes Reuchlin (1455–1522) ist für Schäfer das seltene Beispiel eines Intellektuellen, der mit Respekt und Wissbegier jüdische Sprache und Literatur, insbesondere die Kabbala, studierte, wenngleich weniger von dem Wunsch getrieben, den Juden zu ihrem Recht zu verhelfen, als vielmehr um sein neues Verständnis von Wissenschaft gegenüber der dogmatischen Theologie durchzusetzen. Dies hätte der Beginn einer neuen Zeit sein können, doch schon bald betrat mit dem Reformator Martin Luther ein neuer Akteur die Bühne. Seine Thesen mögen diese neue Zeit angekündigt und initiiert haben, doch sein Verhältnis zum Judentum war von den übelsten Vorurteilen und antijüdischen Ressentiments bestimmt. Dem wissenschaftlichen Aufbruch eines Reuchlin stand Luther so fern wie dem Papst.

Schäfers Darstellung des Antisemitismus seit der Aufklärung unterscheidet sich nicht grundlegend von der Darstellung Peter Longerichs. Beide Autoren widmen der Shoah vergleichsweise schmalen Raum, vermutlich in der Annahme, dass die historischen Fakten weitgehend bekannt sind. Und beide gelangen auch zu einer ähnlichen Beurteilung des Antisemitismus in der Gegenwart: Nach Weltkrieg und Shoah seien antisemitische Einstellungen und Ressentiments keineswegs verschwunden. Longerich rekapituliert ausführlich die Debatte um das Holocaust-Mahnmal, die Zwangsarbeiter-Entschädigung und den Eklat um die Verleihung des Friedenspreises an den Schriftsteller Martin Walser. Insbesondere erinnert er an die Rolle des damaligen Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein, der gegen das Holocaust-Mahnmal mit den Worten polemisierte: »Man ahnt, dass dieses Schandmal gegen die Hauptstadt und das in Berlin neu formierte Deutschland gerichtet ist.« Und es ist noch nicht lange her, dass der Vorsitzende der größten im Bundestag vertretenen Oppositionspartei die Zeit des Nationalsozialismus als »Vogelschiss in der Geschichte« bagatellisierte.

Beide Bücher sind vorzügliche Darstellungen des gewaltigen Themas: Peter Schäfer historisch weitgespannt, doch im Umfang knapp, Peter Longerich fokussiert auf die deutschen Aspekte, aber ausführlich und detailliert, mit nützlichen Quellenverweisen.

Peter Longerich: Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute. Siedler, Berlin 2021, 640 S., 34 €. – Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus. C.H.Beck, München 2020, 335 S., 26,95 €.

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