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Gespräch mit dem Verfassungsrechtler Christoph Möllers über das Verhältnis von Staat, Religion und Kirchen Privilegiert, überfordert und in der Krise?

Christoph Möllers, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt Universität zu Berlin, hat kürzlich für die Bundesregierung ein Gutachten zur Kunstfreiheit und staatlichen Kunstförderung aus Anlass der Antisemitismusdebatte zur documenta 15 erstellt. Er ist unter anderem Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. 2020 erschien in der edition suhrkamp sein Band »Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik«. Die Fragen stellte Klaus-Jürgen Scherer.

NG|FH:Deutschland ist einerseits kein säkularer Staat, andererseits gibt es hierzulande auch keine Staatsreligion. Wie würden Sie das Verhältnis von Staat und Religion im Sinne des Grundgesetzes beschreiben?

Möllers: Das Grundgesetz ist hinsichtlich dieser Frage ganz ungewöhnlich, weil es eine Konzeption vorsieht, nach der der Staat die Religionen integriert und man könnte sagen: positiv diskriminiert. Wenn man es dagegen negativ formuliert, domestiziert er Religion durch Nähe, also indem er sie in bestimmte öffentlich-rechtliche Strukturen einfügt und damit weder vom Staatlichen abtrennt noch verstaatlicht.

In ihrem Buch »Freiheitsgrade« liest man: »Religiöse Gründe lassen sich aus der Politik nicht verbannen.« Aber war nicht die klare Trennung von Staat und Religion gerade das alte liberale Credo?

Es geht in dem Zusammenhang weniger um die organisatorische Trennung, sondern nur darum zu sagen, der politische Prozess und die demokratische Auseinandersetzung greifen recht unmittelbar auf religiös inspirierte Argumente zurück und die Versuche, ihn davon zu reinigen, von einer notwendigen Übersetzung zu reden wie Jürgen Habermas oder Neutralität zu fordern, funktionieren allesamt nicht. Ein Phänomen wie christdemokratische Parteien und ihren Beitrag zur Demokratisierung können wir mit solchen Konzeptionen nicht verstehen.

Wie weit ist Religion damit eine öffentliche Angelegenheit?

Als das Grundgesetz entstanden ist, war sie jedenfalls eine bedeutende öffentliche Angelegenheit. Und gleichzeitig versprach man sich von ihrer starken Bedeutung Positives. Mittlerweile haben wir zwei Phasen durchlaufen: Die eine ist die Phase der Konfrontation mit religiösem Extremismus, mit Missbrauch, die die Frage aufwirft, ob das Versprechen der Religion überhaupt positiv sein muss. Dann zweitens die Phase des Bedeutungsverlustes, in der man fragen kann, ob es denn überhaupt noch weit her ist mit der öffentlichen Angelegenheit. Im Moment hat man ja gerade bei den christlichen Kirchen das Gefühl, dass sie so rasant an Relevanz verlieren, dass sie im politischen Prozess zu einer Marginalie werden könnten.

Hängt das auch mit der deutschen Einheit zusammen? In Ostdeutschland sind wohl nur noch rund 15 Prozent der Menschen in einer der christlichen Kirchen.

Ich bin nicht sicher, weil man bedenken muss, dass es auch darauf ankommt, wie viele Leute wirklich mobilisiert sind, nicht nur darauf, wie viele Leute sich zu einer Religion bekennen. Da scheint mir, dass im Osten natürlich vor allem die Protestanten, aber auch eine nicht ganz kleine Zahl an Katholiken schon ziemlich aktiv und präsent sind.

Die Frankfurter Hefte sind nach dem Krieg als linkskatholische Zeitung gegründet worden. Heute ist nur noch jeder Vierte in Deutschland Mitglied der Katholischen Kirche. Ist das jetzt eigentlich ein linksliberaler Fortschritt oder geht uns da nicht auch Wesentliches verloren?

Man kann natürlich dem Katholizismus politisch sehr viel abgewinnen, namentlich in der deutschen Geschichte mit Blick auf die Rolle des Zentrums, das politisch zeitweise der Sozialdemokratie nahestand. Es verfolgte ein sozialstaatliches, kapitalismuskritisches, gemeinschaftsorientiertes Projekt. Die nicht wenigen Überlappungen wurden in der Weimarer Republik auch genutzt. Deshalb würde ich schon sagen, dass der Verlust an Katholizität auch ein Problem für die Sozialdemokratie ist, die sowieso immer viele Probleme hat…

Die Adenauer-CDU erbrachte natürlich die große Leistung, das katholische Milieu mit dem nationalprotestantischen zu versöhnen, in gewisser Weise auch dadurch, dass das rechte Lager selbst liberaler wurde. Aber man merkte dann schon irgendwann, dass es da auch immer diesen sozialdemokratischen Kern gab. In den 80er, 90er Jahren wurde diese Bindung dann auch wieder stärker.

Warum nun diese große Krise? Was passiert da eigentlich? Es gibt die Großthese von der Säkularisierung in der Moderne. Oder jene, dass sich die Gesellschaft immer weiter individualisiert und dadurch alle Großorganisationen Schwierigkeiten haben. Oder ist die Krise sogar hausgemacht?

Es kommt hier meines Erachtens sehr viel zusammen. Es gibt eine Krise kollektiver Identitäten, man fühlt sich also nicht mehr einer Gruppe zugehörig. Das ist nochmal was anderes als die Krise großer Organisationen, die sehr schnell auch für etwas verantwortlich gemacht werden, was sie selber gar nicht kontrollieren können. Und das ist dann nochmal etwas anderes als die Tatsache, dass die Kirchen ihrerseits gerade eine Krise haben, Angebote zu machen. Die Pandemie etwa hätte ein großer Moment der Kirchen sein können, ist es aber dezidiert nicht geworden. Ich wäre vorsichtig, das jetzt zu einer unumkehrbaren Makroentwicklung zu stilisieren. Man weiß ja nicht, wie schnell das wieder umkippt, aber im Moment ist der Verfall schon sehr beschleunigt.

Kann man den Bedeutungsverlust noch an ein paar Punkten illustrieren? Zum Beispiel hatte das Begräbnis der Queen in den Medien eine viel größere Resonanz als die Trauerfeier für den deutschen Ex-Papst…

…oder dass zum traditionellen Empfang der katholischen Kirche in Berlin niemand mehr kommen will. Das hat sich innerhalb von fünf Jahren dramatisch verändert. Ich glaube, dass die Kirche sehr lange von einem positiven Assoziationsraum gelebt hat, den man mit ihr verband, ohne dass man ganz konkret wusste, was sie eigentlich tut. Und der ist jetzt für die katholische Kirche, etwa durch den Missbrauchsskandal, verloren gegangen. Das gilt für die evangelische Kirche nicht ganz so, weil diese ja allgemein das Problem hat, eigene Sichtbarkeit gegenüber den gesellschaftlichen Entwicklungen zu erlangen.

Braucht der demokratische Rechtsstaat Religion oder reicht nicht doch der irdische Verfassungspatriotismus? Umgekehrt: Was sind eigentlich Verdienste der Kirchen in einer freiheitlichen Demokratie?

Darauf gibt es keine allgemeine Antwort. Demokratien entwickeln sich relativ pfadabhängig und die Rolle der Religionsgemeinschaften ist sehr unterschiedlich. Vergleicht man etwa die Rolle des Protestantismus in der DDR, sehr ambivalent, zum Teil systemstabilisierend, zum Teil revolutionär, mit der Rolle des Katholizismus in Spanien, der sehr lange ein faschistisches Regime gedeckt hat, so steht man im Ergebnis mit leeren Händen da. Auf die Frage gibt es keine allgemeine Antwort. Theoretiker/innen haben die Sehnsucht, eine Formel zu finden. Ich glaube, dass das immer ein Irrweg ist.

Hartmut Rosa schrieb »Demokratie braucht Religion«, die Kirchen würden Praktiken, Räume und Narrationen für eine Haltung des »hörenden Herzens« liefern. Braucht es in der beschleunigten Moderne mit ihren Konkurrenzbeziehungen solche Momente des Innehaltens, der Reflexion, des Miteinanderredens?

Mir scheint, dass dies eine Sicht auf die Religion spiegelt, die weder politisch noch theologisch trägt. Wir haben ja Theologien, die das als Kitsch abtun würden. Andererseits haben wir in Deutschland durch die konfessionelle Vielfalt, in der aber der Protestantismus immer die nationale Religion war, für die es nach 1919 keinen politischen Ort mehr gab, eine seltsame Gemengelage: In Frankreich würde man wahrscheinlich sagen, der Katholizismus hat eine Tendenz, zu bestimmten Lagern zu gehen. Das ist aber bei uns nicht so ganz klar, es ist doch alles ziemlich fragmentiert.

Es gibt auch die umgekehrte These, dass die Demokratien durch die Religion gefährdet sind. Ulrich Beck hat mal vom »totalitären Kern« aller Religionen gesprochen. Kann man sagen, die Wahrheitsverkündung verträgt sich schwer mit Demokratie?

Das ist die Komplementärthese zu Benedikt XVI., der von der Diktatur des Relativismus in der Moderne gesprochen hat. Beides ist unhaltbar. Viele Leute, auch manche religiöse Menschen, stellen sich Religionen als den ganz harten Kern des Normativen vor. Vielleicht stellt sich auch die katholische Glaubenskongregation Religion so vor. Tatsächlich ist das aber empirisch falsch. Selbst in der katholischen Kirche sieht man ja, wie sich das Dogma der Geschichte anschmiegt, entwickelt und zu einem anderen wird. Man sieht, dass vieles der harten Dogmatik eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist und nichts, was mit der ewigen Offenbarung zu tun hat. Also, je genauer man hinschaut, umso besser sieht man, wie weich und veränderbar vermeintlich harte Religionsgemeinschaften sind.

Es existiert auch die These, dass in allen Religionen der Fundamentalismus und die politische Zurichtung das Problem sind, während allen ein humaner Kern innewohnt.

Das würde ich auch nicht sagen. Das ist so eine weltkonfessionelle Formel. Man kann Humanismus so abstrakt formulieren, dass man immer etwas Gemeinsames findet. Persönlich glaube ich, dass das Interessante an der Religion wenig mit Ethik und Normativität zu tun hat. Interessant ist, dass man nochmals ein Angebot an Transzendenz bekommt, das alles relativiert, Möglichkeiten offenhält, dass es auch anders sein könnte, und Distanznahme zum Weltverlauf gestattet.

Auf der anderen Seite zeichnen sich Rechtspopulisten und autoritäre Systeme oft dadurch aus, dass neben dem Nationalismus auch religiöser Fundamentalismus eine Rolle spielt. Besteht diese Gefahr bei uns, etwa durch die AfD, auch?

Ich glaube, dass dies in Europa generell keine ganz große Gefahr darstellt, weil man niemanden findet, der einem das abnimmt. Auch in Ungarn wird ja eine Art Pseudochristentum vertreten, das allerdings nur eine Art Beiwerk ist, an das selbst die nicht zu glauben scheinen, die es propagieren. Generell vermute ich, dass dieser Gebrauch von Religiosität besser als politisches, denn als religiöses Phänomen verstanden werden kann. Da schneidert sich die Politik eine Religion zurecht mit Familienwerten und kulturalistischem Nationalismus. Das sieht man bei den Hindus in Indien, bei der AKP in der Türkei oder eben in Ungarn. Diese sehen sich erstaunlich ähnlich, was dafür spricht, dass es nicht viel mit Religion zu tun hat. Selbst die Schia im Iran war ja vor der Revolution in größeren Teilen ein quietistisches Projekt, das gar nicht politisch sein wollte, und dann erst auf politische Wirksamkeit getrimmt wurde.

In einer sich vielfältig auffächernden Gesellschaft, in der kulturelle Kontroversen und Polarisierungen wichtiger geworden sind, wird Zusammenhalt zu einer gesellschaftlichen Aufgabe. Können da die Kirchen hilfreich sein?

Ich glaube eigentlich nicht. Das wäre eine Überforderung der Kirchen, weil sie aus guten Gründen momentan sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Außerdem ist ja nicht klar, warum die Kirchen bei der Masterfrage der Politik, wie man eine Gesellschaft zusammenhält ohne ihre Vielfalt infrage zu stellen, auf die wir alle keine Antwort haben, eine besondere Kompetenz haben sollten. Das ist gar kein Vorwurf. Ich denke nur, sie würden sich damit übernehmen. Sie können zwar Denkschriften produzieren, die wird aber niemand mehr lesen.

Die Kirchen haben auf Feldern, die hoch umstritten sind, wie Sexualmoral oder Reproduktionsmedizin, Transgenderdebatten und so weiter klare Positionen…

…ja, sie haben klare Positionen und sie sind immer stark, wenn diese etwas querliegen zum Rechts-Links-Schema. In manchen sozialen Kontexten eher konservativ, bei der Migration dann aber auch wieder eher progressiv. Das ist dann glaubwürdiger, als wenn sie sich ganz klar in ein Lager schlagen. In beiden christlichen Kirchen in Deutschland ist es aber auch so, dass die politische Polarisierung sie mitnimmt. Die katholische Kirche etwa ist komplett gespalten und zwar nach politischen Lagern. Und im Protestantismus deutet sich so etwas in manchen Teilen auch schon an. Und damit sind die Kirchen vielleicht eher Teil des Problems als Teil der Lösung.

Von einer Zunahme kultureller Spaltungen in der Gesellschaft würden Sie aber auch reden?

Es gibt jedenfalls eine Form der Polarisierung, in der Personen Positionen vertreten, die sie für nicht mehr diskursiv vermittelbar halten. Es ist meines Erachtens richtig zu sagen, dass sich das nicht zu einer richtigen Spaltung ausweitet, weil es unter den Bedingungen der Ausdifferenzierung immer noch vielfältig ist und man gar keine eindeutigen Lager hinbekommt.

Ein anderer Diskursfaden war oft, dass es Grenzen kultureller Toleranz geben solle, im Namen von Menschenwürde und Frauenrechten wurde etwa immer wieder über Verschleierungen und das Kopftuch gestritten…

Für mich ist das immer ein bisschen schwer nachzuvollziehen, weil Menschen, die mit so einem werteorientierten Diskurs operieren, eigentlich etwas machen, das nicht gut ist, nämlich die geschützte Freiheit von anderen zu missbilligen. Wenn man sagt, wir können eine vollverschleierte Frau nicht tolerieren, heißt das doch etwas zu verbieten, was sie darf, oder sie abzuwerten, weil sie etwas tut, was ihr durch die Grundrechte erlaubt ist. Man muss vorsichtig sein, nicht einfach Illiberalität hinter einer bestimmten Wertesemantik zu verstecken.

In diesem Sinne heißt die Stellung von Religion im Grundgesetz, dass sie in der Öffentlichkeit gezeigt werden kann.

Genau.

Verteidigen die Kirchen diese Religionsfreiheit nicht deutlich genug?

Ich fand es manchmal irritierend, was sie verteidigen und was sie nicht verteidigen. Manchmal verteidigen sie ihre Organisationsautonomie mit Zähnen und Klauen. So sind sie nach wie vor auf katholischer Seite nicht dazu bereit, eine staatliche Untersuchung des Missbrauchs zuzulassen. Und der Staat traut sich auch nicht.

Dahinter steht eine eigentümliche Vorstellung von Autonomie. Auf der anderen Seite hat man in der Coronaphase, als es zum Beispiel um Fragen des Kultus ging, gesehen, dass sie sehr schnell sehr entgegenkommend waren. Ich empfinde gerade bei der katholischen Kirche ein hohes Maß an Unsicherheit und Orientierungslosigkeit: keine gute Voraussetzung, um selbst Orientierung geben zu können.

Ist das Problem des Mißbrauchs nicht eigentlich ein gesamtgesellschaftliches? In allen Institutionen mit jungen Menschen, wie Sportvereinen oder Kinderheimen, ist das Problem doch nicht kleiner?

Es ist natürlich ein allgemeines Problem, aber wir haben dafür offensichtlich auch allgemeine Regeln und Standards und einen allgemein anerkannten Umgang entwickelt, und es ist nicht ganz klar, ob jedenfalls die katholische Kirche in der Lage ist, diese umzusetzen. Zudem kontrolliert es niemand.

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