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© picture alliance/dpa | Jörg Carstensen

Zum Umgang mit Antisemitismus in der deutschen Einwanderungsgesellschaft Raus aus dem Dilemma

Die eine Seite: Vor ungefähr 25 Jahren sprach mich eine alte Dame auf Englisch an, die wie ich zu einer internationalen Konferenz nach Jerusalem wollte. Sie fragte mich, woher ich komme. Als meine Antwort »aus Deutschland« war, blieb sie abrupt stehen und sagte in muttersprachlichem Deutsch: »Dann können wir doch deutsch sprechen. Wissen Sie,« fügte sie hinzu, »ich bin Hamburgerin«.

Sie erzählte mir ihre Geschichte – 1928 in Hamburg geboren, Vertreibung, Flucht, die halbe Familie im KZ verloren und irgendwann in Israel angekommen. Am Abend bat sie mich, bei ihr zu übernachten, damit wir noch ein bisschen deutsch reden und von Deutschland erzählen könnten. »Jetzt in meinem Alter komme ich nicht mehr so oft dahin, wie ich möchte, obwohl die Gräber der Großeltern dort sind und alles andere auch. Umziehen geht auch nicht mehr, die Kinder und die Enkel sind alle hier, aber im Herzen bin ich immer dort.« Eine Frau, die bei der Machtübernahme Hitlers fünf Jahre alt gewesen war und so manches Leid erfuhr, sitzt mit 70 Jahren in Jerusalem, bezeichnet sich als stolze Hamburgerin und hat Heimweh.

Dann der Besuch in Yad Vashem. Das Grauen der Shoah und die Systematik, mit dem alles Jüdische ausgelöscht werden sollte, ist in dieser Intensität wohl nirgendwo anders zu spüren. Alle sollten ermordet werden; vom deutschen Universitätsprofessor bis zum einfachen Fischer auf einer griechischen Insel.

»Diese Wunde in der deutschen Geschichte wird immer bluten.«

Den Juden ist also durch die Politik Nazideutschlands unendliches Leid angetan worden. Diese Wunde in der deutschen Geschichte wird immer bluten. Wer nach Deutschland kommt und hier leben will, muss akzeptieren, dass Antisemitismus in Deutschland mehr noch als anderswo bekämpft werden muss und Israel als Schutzraum für Juden für die deutsche Politik immer eine besondere Rolle spielen wird, auch wenn dadurch die Schuld an den ermordeten Juden nicht abgegolten wird. Der Umgang mit Israel mag schon im nächsten europäischen Land anders aussehen, aber in Deutschland sollte man keine andere Position erwarten.

Die andere Seite: In Deutschland leben rund 5,5 Millionen Muslime, etwa 28 Prozent davon aus dem Nahen und Mittleren Osten, 45 Prozent türkischer Herkunft. Die Vorurteile gegenüber Juden und Kritik an der Rolle Deutschlands gegenüber Israel gibt es unter den eingewanderten Menschen aus arabischen Ländern und der Türkei nicht erst jetzt, da der Nahostkonflikt so eskaliert ist. In vielen dieser Communities hierzulande sind Antisemitismus und der antiisraelische Reflex weit verbreitet. Das ist zum großen Teil der Prägung durch die Politik der Ursprungsländer zu verdanken, bei der Antisemitismus zum politischen Alltag gehört. Überall da, wo der politische Islam herrscht, ist Antisemitismus gar Teil seiner DNA.

Wer den Bericht »Antisemitismus im Islamismus« des Bundesamtes für Verfassungsschutz liest, trifft auf bekannte Namen wie Milli Görüş und die Muslimbrüder. Inzwischen gibt es auch gegen Ditib Vorwürfe wegen Antisemitismus. Es stellt sich die Frage, warum die Vertreter dieser Organisationen als Mitglieder des Koordinationsrates der Muslime am Tisch der Innenministerin sitzen und »die Muslime« vertreten dürfen? Warum sie den islamischen Bekenntnisunterricht mitgestalten und ihre Ideologien in die Köpfe der Kinder und Jugendlichen pflanzen dürfen? Nein, diese Islamverbände vertreten wahrlich nicht die Muslime in Deutschland.

Viele Bürger und Bürgerinnen Deutschlands, die sich als Muslime verstehen, sind über die Ermordung von 1.200 israelischen Zivilisten nebst der Verschleppung von 240 Menschen durch die Terrororganisation Hamas genauso empört wie Nicht-Muslime. Sie sind genauso empört über die widerliche »Feier« dieses Mordens durch Verteilung von Süßigkeiten auf den Straßen von Berlin. Die Fundamentalisten, die die Gunst der Stunde nutzen, um nach dem Kalifat zu rufen, stellen eben nicht die Mehrheit der Muslime, aber sie sind ein Problem für das friedliche Zusammenleben.

Die Integrationspolitik

Die Kategorisierung nach Ethnien und Religionen war jahrzehntelang das Herzstück der deutschen Integrationspolitik. Heute haben knapp 20 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund. Noch immer kommt die Politik von dem paternalistischen »Wir« und »Ihr« nicht weg und erklärt nunmehr die religiöse und ethnische Zugehörigkeit und deren Erhalt zum wichtigen Integrationsziel. Indem das Konservieren der kulturellen Herkunft hingenommen beziehungsweise unterstützt wird, wird aber dazu beigetragen, dass auch die mitgebrachten religiösen und ethnischen Vorurteile nicht kritisch hinterfragt und abgelegt werden. Jahrelang hat man weggehört, wenn sich Jugendliche als stolze Araber oder Türken bezeichneten; ja mehr noch: Lehrerinnen und Lehrer bescheinigten ihnen, Bürger »stolzer Nationen« zu sein. Die Konservierung der Migranten als die »Anderen« und die damit zusammenhängende Ausgrenzungspolitik wurde euphemistisch als »Respekt und kulturelle Bereicherung« deklariert.

»Wer Menschen vor allem durch ihre Religion und Ethnie definiert, macht sie zur leichten Beute für Fundamentalisten.«

Allein die in den vergangenen Tagen immer wieder gestellte rhetorische Frage, wie es zu einer Veränderung und einer Verständigung zwischen jüdischen und muslimischen Communities kommen kann, zeigt, dass offensichtlich nur in religiös konnotierten Teilgesellschaften gedacht wird; anscheinend nehmen etliche Menschen in diesem Land Eingewanderte nicht als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, als Citoyen wahr. Wer aber Menschen vor allem durch ihre Religion und Ethnie definiert, macht sie zur leichten Beute für Fundamentalisten. Gerade, wenn sie nicht zu den Eliten des Landes zählen.

Wer von Geburt an als Araber oder Türke wahrgenommen und so angesprochen wird, fühlt sich eines Tages nur noch als Araber und Türke. Allein der Begriff »Passdeutscher« zeigt, welchen Rang die zugewanderten Deutschen für einen Teil der Mehrheitsgesellschaft einnehmen. Wie kann man unter diesen Bedingungen erwarten, dass sie sich mit den deutschen Werten und der Verantwortung für die neuere deutsche Geschichte identifizieren?

Unterstützt wird diese Art der Integrationspolitik von der sogenannten Identitätspolitik. Sie degradiert die Menschen zu Objekten einer Gruppe. Es wird eine Gruppe konstruiert, die dann eine Identität und bestimmte Eigenschaften haben soll. Eine wahrlich perfekte Vorlage für diejenigen, die ihre Politik auf einer islamischen Identität aufbauen wollen. Gruppenidentität wird im Moment als die Lösung für alle möglichen rassistischen Probleme gehandelt. Man sollte allerdings nicht übersehen, dass Gruppenidentität kein Menschenrecht ist und in unserer Verfassung Gruppenidentitäten und Gruppenrechte nicht vorgesehen sind. Für unsere Verfassung steht immer der Mensch im Mittelpunkt.

Diejenigen Muslime, die den Antisemitismus als Teil ihrer Ideologie hinnehmen, sehen sich selbst nicht als Individuen, sondern als Teil der islamischen Umma. Und auch die Objekte ihres Hasses werden nicht als Individuen erkannt. Mit dieser Verallgemeinerung fängt Rassismus an.

»Rechtliche Instrumente sind ein stumpfes Schwert.«

Derzeit sind rechtliche Schritte gegen den Antisemitismus im Einwanderermilieu im Gespräch. Rechtliche Instrumente sind aber ein stumpfes Schwert, wenn es darum geht, die Gesellschaft vom Gift des Antisemitismus zu befreien. Verbote, Vereinsschließungen, Abschiebungen und Lippenbekenntnisse zu Israel sind vielleicht wirksame Mittel für den Moment. Aber sie sind nicht nachhaltig. Das Ziel muss die Einsicht der Zielgruppe sein, dass Antisemitismus ein auf Hass und Vorurteilen basierendes Gedankengut ist, auf die irgendwann Taten folgen.

Die Frage der Loyalität

Es wird Zeit, dass sich die Gesellschaft Gedanken darüber macht, wie die Loyalität der Eingewanderten zur deutschen Gesellschaft erhöht werden kann. Wie man im Moment am Beispiel des Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft erleben kann, reicht es anscheinend nicht, nur Steuern zu zahlen und an der roten Ampel stehenzubleiben.

Jede Einwanderungsgesellschaft braucht eine Supraidentität, jenseits von Ethnie, Religion und Herkunft, einen Kitt für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, eine Identität als deutscher Staatsbürger für alle. »Ich bin Deutscher« scheint aber den Eingewanderten genauso schwer über die Lippen zu kommen wie den Einheimischen die Feststellung gegenüber den Eingewanderten »Du bist Deutscher«.

»Empörung auffangen und Antisemitismus bekämpfen.«

Deutschland steckt in einem echten Dilemma: Als Land der Täter muss es an der Seite der Menschen in Israel stehen, als Einwanderungsland muss es die Empörung bestimmter Einwanderergruppen auffangen, als Rechtsstaat muss es den Antisemitismus über alle Bevölkerungsgruppen hinweg bekämpfen und letztendlich muss es auf der Seite der Gerechtigkeit stehen, gegen jedermann und jede Frau. Diese verschiedenen Aspekte können nicht lose nebeneinanderstehen, sie müssen gesellschaftspolitisch miteinander verbunden werden.

»Niemand ist durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe gut oder schlecht. Wir leben hier in Deutschland zusammen und wir haben unsere gemeinsame Wirklichkeit. Wir sind eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleich wertvoll sind.« Diese schlichte Botschaft mus allen Kindern und Eltern vermittelt werden. Die Antisemitismusarbeit muss also bereits im Kindergarten beginnen. Wenn der Staat den Antisemitismus erfolgreich bekämpfen will, muss er den Vorurteilen des Elternhauses die Wirklichkeit eines Hier und Jetzt entgegensetzen.

Deutschland muss säkularer werden und endlich das Betonen der religiösen Identität hinter sich lassen, gerade bei den eingewanderten Gruppen. Ist die Identität der Eingewanderten wirklich auf die Religionszugehörigkeit beschränkt? Zu befürchten ist, dass eine solche Denkart eher fundamentalistischen Gruppierungen Tür und Tor öffnet. Sehr oft höre ich in Gesprächen den Ausdruck »muslimische Kinder«; den Ausdruck »christliche Kinder« höre ich dagegen sehr selten. Bei ihnen ist der Blick bezüglich ihrer Identität also durchaus differenzierter; warum nicht bei allen Kindern?

Ein gemeinsamer Ethikunterricht für alle ist besser als der praktizierte Bekenntnisunterricht. Die Äquidistanz des Staates zu den Religionsgemeinschaften muss auf die Höhe des säkularen Zeitgeistes gehoben werden. Religion sollte respektierte Privatsache sein. Wer immer noch meint, über den Glauben und mit dem Besuch von Moscheen Integrationspolitik betreiben zu können, irrt sich gewaltig.

»Ein Einwanderungsland lebt auch von der Symbolpolitik und dem Gefühl.«

Ein Einwanderungsland lebt auch von der Symbolpolitik und dem Gefühl, Teil dieses Landes geworden zu sein. Das genau ist die Definition des Wir-Gefühls. Die jungen Migranten müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, wo sie leben, warum sie hier leben und was sie mit diesem Land verbindet. Und dass sie eben jetzt Deutsche sind. Seit dem Jahr 2000 werden Kinder von Ausländern unter Bedingungen, die sehr niederschwellig sind, als Deutsche geboren. Das neue deutsche Recht kennt keine »Passdeutschen«, sondern nur Deutsche. Jetzt muss die Gesellschaft nachziehen. Und alle sollten mit gutgemeinten, aber überflüssigen sprachlichen Verbiegungen wie »Migrationshintergrund« oder »ausländische Wurzeln« aufhören.

Zentral für den Kampf gegen Antisemitismus sind gesellschaftliche und politische Bildung, aber auch die Übernahme der gesellschaftlichen Werte des jeweiligen Landes. Ohne Akzeptanz der deutschen Geschichte und Werte kann es keine Teilhabe an der deutschen Erinnerungskultur und keine Akzeptanz der deutschen Verantwortung für die Shoah und Israel geben.

Wenn eine Jüdin sich 65 Jahre nach ihrer schmerzvollen Vertreibung aus ihrer Heimat als Deutsche empfindet, sollten wir alle uns ein Beispiel an ihrer Größe nehmen und die Verantwortung für die Geschichte dieses Landes gemeinsam tragen; die Autochthonen genauso wie diejenigen, die irgendwann in dieses Land gekommen sind.

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