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Wider eine mutlose Sozialdemokratie Raus aus der Schmollecke

Seit mehreren Jahren erfreut sich der Begriff der »asymmetrischen Demobilisierung« in der politischen Berichterstattung enormer Beliebtheit. Bekanntermaßen wird damit die Politik der Bundeskanzlerin charakterisiert, welche durch die Vermeidung klarer Positionierungen in kontroversen Fragen darauf abzielt, die potenziellen Wähler des politischen Gegners von der Wahlurne fernzuhalten. Von Demoskopen und Journalisten wird dieses Vorgehen, je nach politischem Standpunkt und Demokratieverständnis, entweder als geniale Wahlstrategie gepriesen oder als inhaltsleere Machtpolitik gebrandmarkt. Letztere Position wird auch seitens der SPD-Führung vertreten, wobei die Kritik in diesem Fall häufig verzweifelte Züge annimmt.

Mag die sozialdemokratische Kritik am apolitischen Charakter des Merkel’schen Politikstils noch so berechtigt sein, wirft sie gleichzeitig ein klares Schlaglicht auf den beklagenswerten Zustand der vom Wähler auf 20,5 % zurechtgestutzten SPD. Denn machen wir uns nichts vor: Zum »Erfolg« der asymmetrischen Demobilisierung gehören immer zwei! Anders formuliert, mit einer die Menschen begeisternden SPD, die auf Basis ihrer Werte klar Stellung zu den brennenden Fragen unserer Zeit bezieht, könnte man eine inhaltlich entkernte Union herrlich vor sich hertreiben. Doch statt klare Kante zu zeigen, jagen die Sozialdemokraten lieber dem Phantom der politischen Mitte hinterher.

Verfehlter Kampf um die politische Mitte

Wahlen werden in der Mitte gewonnen! Diese Einschätzung, die unter Sozialdemokraten spätestens seit den Tagen Tony Blairs und Gerhard Schröders vorherrscht, scheint im Willy-Brandt-Haus inzwischen zum Dogma geworden zu sein. In der Praxis äußert sich dies in einer fast sklavischen Haltung, bei der Formulierung der eigenen Programmatik bloß niemandem wehzutun, insbesondere nicht der vielzitierten »Mitte der Gesellschaft«, was immer das sein mag. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist in der Regel ein Programm, in dem viel von sozialer Gerechtigkeit (und wenig von sozialer Gleichheit) die Rede ist, in dem echte Vorschläge zur Verwirklichung dieses ursozialdemokratischen Ziels jedoch nur in homöopathischen Dosen enthalten sind.

Ein Blick in das letzte Wahlprogramm verdeutlicht dies. Ein bisschen weniger Rentenkürzungen hier, ein bisschen weniger Steuern für die Mitte und ein klein bisschen mehr für die Reichen da, alles sauber durchgerechnet. Nicht zu vergessen der vermeintliche Wahlkampfschlager »Arbeitslosengeld Q«, bei dem es selbst dem Bundesverband der Deutschen Industrie und seinesgleichen schwerfiel, glaubhafte Empörung zu heucheln. Geradezu lächerlich wurde der Ruf nach mehr sozialer Gerechtigkeit, als sich die SPD-Führung, um ja keine bürgerlichen Wähler/innen zu verschrecken, von der Linkspartei distanzierte und der FDP Avancen machte – als verhülle das neue Magenta-Mäntelchen der Liberalen die tief in der DNA der Partei verankerte soziale Kälte.

Das Tragische: Zu dieser aus Sicht der SPD-Führung pragmatischen, in Wirklichkeit jedoch mutlosen Wahlkampfstrategie der hängenden Köpfe gab es durchaus eine Alternative. Ironischerweise stand diese Strategie im Mittelpunkt der Antrittsrede von Sigmar Gabriel als SPD-Parteichef auf dem Parteitag 2009 in Dresden. Die politische Mitte, so Gabriel damals mit Verweis auf Willy Brandt, sei kein fester Ort, sondern vielmehr eine Frage der Deutungshoheit: »Die politische Mitte in einem Land hat der gewonnen (…), der die Deutungshoheit über die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen besitzt.« Also keine fatalistische Unterwerfung unter den herrschenden Diskurs, sondern eine Benennung der zentralen gesellschaftlichen Probleme auf Basis der eigenen Werte und eine selbstbewusste Formulierung von Lösungen, auch wenn diese aus Sicht des (noch) vorherrschenden Diskurses radikal ausfallen.

Es geht um die Deutungshoheit

Unter der Führung Sigmar Gabriels hat die Partei den Kampf um die Deutungshoheit gegen die Kanzlerin in den wichtigen politischen Fragen von der Haushaltspolitik über die Europapolitik bis zur Beurteilung der wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland eindeutig verloren. Was schlimmer ist, sie hat ihn bei ihrer Jagd nach den Stimmen der politischen Mitte niemals richtig aufgenommen. Dabei lavierte die SPD in den letzten Jahren zwischen Unterstützung der »schwarzen Null« und der Forderung nach mehr Investitionen, zwischen Beschwörung der europäischen Solidarität und Unterstützung der drakonischen Sparpolitik in Südeuropa sowie zwischen der Verteufelung der großen Ungleichheit und dem Kleinmut bei Erbschaft- und Vermögensteuer. Mal links, mal rechts blinkend, taumelten die Sozialdemokraten so recht hilflos der Bundestagswahl entgegen.

Aus dieser Perspektive stellte die euphorische Reaktion vieler Bürger/innen auf den Führungswechsel von Sigmar Gabriel zu Martin Schulz eine einmalige und, wie wir inzwischen wissen, vertane Chance für die SPD dar, ihr Schicksal zu wenden. Denn statt die Hoffnungen, die viele Menschen offensichtlich auf den neuen Parteichef projizierten, mit Leben zu füllen und eine echte Alternative zur Union zu präsentieren, entschied sich die SPD-Führung, einfach weiterzumachen wie zuvor. Der »Schulz-Hype« bot die unverhoffte Chance, eigene, durchaus radikalere Ideen in das Zentrum der politischen Debatte zu rücken und in einen offenen Kampf gegen die Konservativen um die Deutungshoheit zu ziehen. Die SPD entschied sich dagegen und strich alles wirklich Kontroverse wie etwa die Vermögensteuer aus dem Wahlprogramm – zu riskant, vielleicht beim nächsten Mal!

Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick nach Großbritannien. Gegen den massiven, teilweise aggressiven Widerstand der britischen Medien (und einen Großteil der eigenen Fraktion!) formulierte die Labour-Führung unter Jeremy Corbyn ein Wahlmanifest, das unter dem plakativen Titel »For the many, not the few« den bis dahin herrschenden neoliberalen Konsens in Großbritannien aufkündigte. Allen Unkenrufen der politischen Kommentatoren, Wahlforschern und vor allem der mächtigen Gralshüter New Labours zum Trotz gelang es Corbyn mit einem leidenschaftlichen Wahlkampf, Labour den größten Stimmenzuwachs seit 1945 zu verschaffen. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik treibt die revitalisierte Labour Party die Konservativen seitdem vor sich her, aus jederzeit möglichen Neuwahlen würden die vor Kurzem noch totgesagten britischen Sozialdemokraten wohl als Sieger hervorgehen.

Erschreckende Mutlosigkeit, fehlende Glaubwürdigkeit

Nun erheben einige sicherlich den Einwand, Deutschland sei nicht Großbritannien. Das stimmt natürlich, die sozialen Verheerungen sind nach fast vier Jahrzehnten Neoliberalismus auf der Insel deutlich sichtbarer, man denke nur an die Brandruine des Grenfell Tower inmitten des reichsten Londoner Stadtbezirks. Doch der Schulz-Effekt ist ein klares Indiz dafür, dass es auch hierzulande eine starke Sehnsucht nach einer progressiven Alternative zu Merkels »Weiter so« gibt. Gute Gründe für diese Sehnsucht gibt es trotz des medialen »Uns geht es gut«-Mantras mehr als genug.

Ja, die Arbeitslosigkeit ist seit 2004 zurückgegangen, dafür hat sich die Zahl der in Armut lebenden Arbeitnehmer seitdem verdoppelt. Viele dieser Menschen sind Teil eines neuen, in Subunternehmen ausgelagerten Dienstleistungsproletariats. Die Zunahme der Erwerbsarmut ist auch eine Folge der seit dem Amtsantritt Gerhard Schröders massiv gesunkenen Tarifbindung, von 76 auf 59 % im Westen und von 63 auf 47 % im Osten. Aus sozialdemokratischer Sicht schlicht unerträglich: Jedes fünfte Kind ist inzwischen von Armut bedroht, Tendenz steigend. Zeitgleich wachsen und wachsen die sich vornehmlich aus Kapitalerträgen nährenden Spitzenvermögen. Soziologen wie Heinz Bude und Oliver Nachtwey verweisen derweil auf die mittlerweile bis in die obere Mittelschicht reichenden Abstiegsängste – die lautstarken Proteste der Siemens-Mitarbeiter gegen die vom Konzern trotz eines Gewinns von 6,2 Milliarden Euro geplanten Massenentlassungen liefern den zugehörigen Soundtrack.

Im Gegensatz zu den bürgerlichen Parteien kann die Arbeitnehmerpartei SPD diese gesellschaftlichen Entwicklungen nicht dauerhaft ignorieren oder kleinreden. Der aktuellen Parteiführung fehlt es allerdings am Mut, wenn nicht gar am Willen zu einer klareren politischen Antwort, also den elementaren Voraussetzungen, um in den Kampf um die Meinungsführerschaft im Land zu ziehen. Selbst der unerwartete Rückenwind nach dem Führungswechsel reichte nicht aus, um die Partei zur Einnahme prägnanterer Positionen zu bewegen. Wann, wenn nicht in diesem Moment medialer Aufmerksamkeit, sollte man versuchen, die Öffentlichkeit von seinen Ideen zu überzeugen?

Auf dem Grund dieser Mutlosigkeit finden wir den wohl gravierendsten Mangel der derzeitigen Parteiführung. Die enorme Überzeugungskraft, die Jeremy Corbyn in Großbritannien und Bernie Sanders in den USA bei großen Teilen der Bevölkerung entfalten konnten, hängt eng mit ihrer Glaubwürdigkeit zusammen. Weit von der jugendlichen Strahlkraft eines Barack Obama oder Emmanuel Macron entfernt, gelang es den beiden ergrauten Überzeugungstätern, der politischen Gleichgültigkeit vieler Menschen ein Ende zu bereiten. Warum? Die Glaubwürdigkeit dieser Politiker rührt letztlich daher, dass ihre Empörung über die gesellschaftlichen Verhältnisse echt ist. Die für den Kampf um die Deutungshoheit notwendige Überzeugungskraft kann nur entfalten, wer selbst von der Berechtigung seiner Empörung und der Richtigkeit seiner Lösungsvorschläge überzeugt ist.

Besäße die SPD eine vergleichbare wertebasierte Überzeugungskraft, könnte sie mit fliegenden Fahnen in die politische Schlacht ziehen. Es spricht Bände über den mentalen Zustand der Partei, dass anscheinend niemand in der Führung glaubt, bei möglichen Neuwahlen das desolate Ergebnis der letzten Wahl toppen zu können. Für eine von sich selbst überzeugte Partei gäbe es dabei vieles, was Hoffnung macht: Knapp zwei Drittel der Wähler können sich grundsätzlich vorstellen, ihr Kreuz bei der SPD zu machen. Das ist mehr als bei jeder anderen Partei! Darüber hinaus dürfte eine glaubhafte Wiederbelebung der sozialen Frage insbesondere die große Zahl der Nichtwähler ansprechen, von denen sich viele von den etablierten Parteien im Stich gelassen fühlen – mit gutem Grund, wie empirische Befunde des Politikwissenschaftlers Armin Schäfer zur mangelnden Bereitschaft der Berliner Politik zeigen, auf die Interessen der Bürger/innen einzugehen. Die Mobilisierung der vielen Abgehängten und Enttäuschten ist nicht nur normativ geboten, sondern auch allemal zielführender als zu schmollen und dem politischen Gegner dessen »asymmetrische Demobilisierung« vorzuwerfen.

Um es klar und deutlich zu sagen: Eine sozialdemokratische Partei, die sich mit einer Million Leiharbeiter, einem der größten Niedriglohnsektoren Europas, fast drei Millionen Kindern und Jugendlichen in Armut und einer immer weiter wachsenden Vermögensungleichheit arrangiert und in den Chor der Medien und bürgerlichen Parteien einstimmt, es gehe unserem Land doch gut, braucht kein Mensch! Sie wird wie die niederländische Schwesterpartei PvdA, die mit einer ähnlich orientierungslosen Politik bei der letzten Wahl von 24,8 auf 5,7 % abstürzte, früher oder später marginalisiert werden. Die SPD steht am Scheideweg. Entweder sie setzt endlich wieder auf die Überzeugungskraft der eigenen Werte und Ideen oder sie wird auf Dauer zwischen der Union, den GRÜNEN, der Linkspartei und der AfD zerrieben.

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