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© picture alliance / Guido Kirchner/dpa | Kay Nietfeld

Gespräch mit René Cuperus über die Sozialdemokratie und Europa Realitätstest für das Gerechtigkeitsprogramm

 

NG|FH:Herr Cuperus, was verstehen progressive Parteien und Regierungen heute unter Fortschritt? Gibt es in einer Zeitenwende überhaupt solch ein gemeinsames Fortschrittsprojekt?

Cuperus: Fortschritt kann ein sehr riskanter Begriff sein. Insbesondere in Zeiten großer Unruhen und Veränderungen ist es eher ein progressiv-liberales als ein sozialdemokratisches Konzept. Dabei verläuft die politische Streitlinie dieser Tage grundsätzlich zwischen Progressiven und Traditionalisten, zwischen Technokratie und Populismus. So gibt es innerhalb der Gesellschaften und auch durch die europäischen Sozialdemokratien einen Dissens zwischen Zukunftsoptimisten und Zukunftspessimisten, zwischen Hoch- und Niedriggebildeten, zwischen Peripherie und Großstadt. Untersuchungen in allen westlichen Demokratien zeigen diese globalisierungsbedingte »Populismuskluft« zwischen den Privilegierten und den Unterprivilegierten, zwischen denen, die sich mit der Modernisierung unserer Gesellschaft wohlfühlen, und denen, die sich davon bedroht fühlen.

Das führt dazu, dass Fortschritt nicht ein verbindendes, sondern ein trennendes Konzept ist, anders als in der programmatischen Kombination von Innovation und Gerechtigkeit in der SPD der späten 90er Jahre. Da stand Gerhard Schröder für Innovation, Oskar Lafontaine für Gerechtigkeit – die Begriffskombination »Innovation und Gerechtigkeit« war die Erzählung der SPD. Wenn nun ausschließlich von Fortschritt die Rede ist, wo bleibt dann der Aspekt der Gerechtigkeit? Fortschritt für wen, Fortschritt wohin?

Versucht die Bundesregierung nicht, diese Lücke mit dem Begriff der sozialökologischen Transformationen zu füllen?

Das ist nicht so ganz klar. Ökologischer Fortschritt, das ist Fortschritt für wen genau? Ich habe immer befürchtet, dass der Klimawandel zu einer Klassenfrage wird und genau das passiert jetzt. Es geht immer um die Richtung von Fortschritt, aber eben auch um die Frage, für wen und für wen nicht. Zudem finde ich die Fortschrittsfrage angesichts des gegenwärtigen Krieges geradezu peinlich.

Statt Fortschritt geht vieles in die falsche Richtung?

Ich selbst führe eine Art »Fortschrittsbarometer«, das fragt: Entfernen wir uns von der Barbarei des 20. Jahrhunderts (Krieg, Holocaust, Kolonialismus, perverse Ungleichheit, Menschenverachtung), oder bewegen wir uns zurück zu diesen Kräften und Narben der Geschichte?

Seit etwa zehn Jahren, seit der Krise der politischen Mitte, seit dem Aufstieg des Neoliberalismus und des Rechtspopulismus, des Rassismus und der Autokratie, habe ich das starke Gefühl, dass wir uns auf der falschen Seite der Geschichte bewegen. Weg von den Lehren des 20. Jahrhunderts, weg von der Magie des Gesellschaftsmodells der Nachkriegszeit, das auf dem liberalen Rechtsstaat, der sozialen Marktwirtschaft, dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat, den gemäßigten Volksparteien und der »Mittegesellschaft« beruhte. Das Nachdenken über Fortschritt oder Rückschritt liegt für mich in dieser Tonart.

Gerade in Deutschland ist jetzt die Angst vor dem kommenden Krisenwinter vorrangig?

Das ist überall so. Allerdings wurde die Zeitenwende in Deutschland stärker öffentlich zelebriert, wie alles Programmatische. In den Niederlanden sagen wir: »Regieren heißt vor allem reagieren«. Die Regierungen haben zwar einen Koalitionsvertrag, aber viele Vereinbarungen werden nicht umgesetzt. Es gibt immer unvorhergesehene Ereignisse, auch internationale Ereignisse, wie der Einmarsch Russlands in die Ukraine. Deshalb ist Regieren zwangsläufig ein Reagieren auf die Realität. Die internationalen Einflussfaktoren prägen auch die Berliner Ampelkoalition, sie berühren ihr Fortschrittskonzept.

Aber dieses war doch eigentlich ein richtiger Plan?

Das deutsche Fortschrittsprogramm ist sehr stark innenpolitisch orientiert. Eine sozialökologische Modernisierung Deutschlands und Entbürokratisierung. Im Regierungsprogramm wurde viel Energie nach innen gerichtet, aber die Ukraine-Krise hat Deutschland in eine geopolitische Schockstarre versetzt. Das ist die Zeitenwende. Die politische Energie muss von innen nach außen gerichtet werden. Das bringt die Fortschrittskoalition der Ampelregierung wirklich ein bisschen in Verzweiflung.

Es gibt zahlreiche Entlastungspakete für die Bevölkerung. Also doch eine deutlich soziale Handschrift der Regierungspolitik, niemanden alleine zu lassen. Oder greift das nicht weit genug?

Sicherlich nicht. Das ist auch eine sehr große Diskussion in den Niederlanden. Was wir jetzt erleben, ist der Realitätstest für die Gerechtigkeitsprogramme. Schon im Kontext der Coronakrise gab es ja lauten Unmut wegen der durch sie verstärkten Ungerechtigkeiten. Auch da gab es schon Verlierer und Gewinner. Ärmere Leute hatten größere Probleme als reiche. Nach der Coronakrise gibt es keine Ruhe, stattdessen Krieg und Inflation und Sorgen um die Gasversorgung.

Ist das nicht auch eine Chance für progressive Regierungen und Parteien, jetzt endlich mal auf ihren sozialen Kern zu setzen? Oder ist das illusorisch, weil, wie in Deutschland, im Bündnis mit liberalen Parteien Umverteilung niemals funktioniert?

Ich sehe da nicht nur die Liberalen als Gegner, der einer Politik der Umverteilung im Wege steht. Das sind für mich auch die Grünen. Es sind zwei mächtige Gegenkräfte. Da ist einerseits die Spar- und Austeritätspolitik. Aber es kann auch eine zu radikale und schnelle Klimapolitik sein. In den Niederlanden erleben wir gerade heftige Bauernproteste. Da ist ein großer sozialer Konflikt, über den in Deutschland wenig berichtet wird. Dabei könnte das eine Vorschau sein auf ein Szenario, das auch auf Deutschland zukommt. Verschärfte Ungleichheiten durch eine erzwingende Klimapolitik der Grünen und Sparpolitik der Liberalen werden für die Sozialdemokraten problematisch.

Außerdem, so ist meine Einschätzung, sind die Sozialdemokraten mitunter selbst viel zu grün geworden. In den Niederlanden gibt es neuerdings selbst die Idee einer totalen Fusion der PvdA mit den Grünen, weil beide für sich allein zu schwach geworden sind und fast dieselben Programme und Wählerschaften haben. Wenn sich die Grünen und die SPD zu nahestehen, haben die alten Stammwähler, heute leider die vielen Modernisierungsverlierer, keine politische Stimme mehr. Dies beendet die Idee der Nachkriegsvolkspartei und damit die Bindekraft in der Gesellschaft und hinterlässt ein gefährliches Vakuum für eine populistische Anti-Establishment-Bewegung.

Es geht darum, wie man Gesellschaft zusammenhalten kann?

Mein Albtraum sind Amerika und Frankreich. Das sind fragmentierte, völlig polarisierte Gesellschaften ohne politische Mitte. In den USA gibt es nur Establishment und Anti-Establishment, red States hier, blue States dort. Mein Vorbild ist noch immer das moderate Rheinische Modell, die soziale Marktwirtschaft, der egalitäre Wohlfahrtsstaat, die gemeinsam gestaltet werden von christdemokratischen und sozialdemokratischen Volksparteien. Das ist für mich die Magie Europas. Das gibt es nur in Nordwest-Europa: freie, relativ gleiche Gesellschaften. Und meine Sorge, so nenne ich es, ist der populistische Aufstand in diesem Paradies – Paradies in der globalen Perspektive. Meine große Angst ist und bleibt die populistische Zeitbombe, die auch in Deutschland irgendwo tickt.

Meine These: Die heutige Politik ist vor allem ein Streit zwischen Technokratie und Populismus. In Frankreich kann man das gut sehen, wo es Macron gibt und Links- und Rechtspopulisten. Fragiles Establishment gegen antieuropäische Flanken. Oder in Italien, Draghi oder Populismus. Das ist sehr gefährlich. In den Niederlanden und Deutschland sind wir ein bisschen relaxter, wir haben noch nicht diesen harten konfrontativen Kampf, aber der wird noch kommen.

Kann man von anderen Ländern in Europa lernen, die sozialdemokratisch geführt werden? Derzeit vor allem Spanien, Portugal und – allerdings jetzt wohl ohne Schweden – Skandinavien. Oder sind die politischen Kulturen und Sozialdemokratien mittlerweile länderspezifisch ganz eigen?

Es ist nicht mehr so wie früher, als alle eine sozialdemokratische Familie mit denselben Idealen und Prinzipien waren. Heute kann man die portugiesische und die dänische sozialdemokratische Partei kaum miteinander vergleichen, selbst die schwedische und dänische sind vor allem eigene kontextbestimmte Parteien. Jetzt gibt es eine Biden-Regierung der Democrats in Amerika. Früher gab es einen Aufschwung aller Progressiven und Sozialdemokraten bei einem progressiven Präsidenten in Amerika. Das sehe ich jetzt nicht mehr.

Ist Rechtspopulismus die Kehrseite fortschrittlicher Politik? In Ihrem Buch »7 Mythen über Europa« (Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn) kann man lesen, die inhaltliche Agenda: Pro-Europa, Klimaschutz, Migrationsfreundlichkeit, LGBTQ würde programmatisch gegen Europas Rechte zu kurz greifen…

Meine Angst ist, dass die Soziale Demokratie mit einem derartigen kulturliberalen Programm die Mehrheit der Leute verliert – in vielen Ländern ist das der Fall. Dass sie nur eine Akademikerpartei wird und nicht länger eine Partei der politischen Mitte ist. Wir haben es mit einer administrativen und kulturellen Dominanz der höher Gebildeten in der Metropole zu tun. In den Niederlanden sprechen wir selbst von einer »Diplomademokratie«: Demokratie von und für die Gebildeten. Demgegenüber ist für mich die politische Mitte ein positives Konzept, sie repräsentiert die Verbindungen innerhalb der Bevölkerung: Wie können diese wiederhergestellt werden zwischen hohem und mittlerem Bildungsniveau, zwischen Großstädten, mittelgroßen Städten und Regionen, zwischen Einheimischen und Migranten, zwischen öffentlichem und privatem Sektor? In meinen Augen waren und sind die Volksparteien verbindende Parteien. Da bin ich Idealist.

Die Soziologie zeigt, dass diese neue akademische Mittelklasse tatsächlich umfangreicher geworden ist; aber für Sie ist sie nicht mehr ein relevanter Teil des Fortschritts?

Ich habe eine Studie durchgeführt, die den Titel trägt Atlas von den abgehängten Niederlanden. Darin geht es um die Spannung zwischen einer relativ kleinen Akademikerklasse, die überall in den Institutionen die Politik bestimmt und auch den Kurs der Gesellschaft (was meistens ein guter Kurs ist), und jenen Leuten, die sich in diesem Kurs nicht nur nicht anerkannt, sondern sich von ihm geradezu überwältigt fühlen. Die Politik, die in Berlin oder in Den Haag gemacht wird, ist zu wenig gesellschaftlich verwurzelt, das ist das Kernproblem.

So entsteht Ihrer Meinung nach Populismus?

Populismus ist ein Aufstand gegen das Establishment. Eine Rebellion gegen die Art und Weise, wie die derzeitige etablierte Ordnung (politisch, kulturell, wirtschaftlich) den künftigen Kurs der Gesellschaft bestimmt und vorgibt. Ein Aufstand gegen die dunklen Seiten der Globalisierung: postindustrielle Wissensgesellschaft nur für akademische Fachkräfte, permanenter Abbau des Sozialstaates, Massenmigration, die das westliche Gesellschaftsmodell unter Druck setzt, Hyperflexibilisierung des Arbeitsmarktes, insbesondere für junge Menschen, soziale Ungewissheit, Europäisierung der sozioökonomischen Politik auf Kosten der nationalen Demokratie.

Haben wir da in Deutschland Glück, weil eine ernstzunehmende Führungsfigur wie Marine Le Pen in Frankreich oder Giorgia Meloni in Italien fehlt?

Zu der Frage, warum es vergleichsweise immer noch wenig Populismus in Deutschland gibt, habe ich immer den Standpunkt vertreten, dass das zuerst mit den Narben und dem tiefschwarzen Gewissen der Nazizeit zu tun hat. Eine deutsche Besonderheit ist ja auch ein starker regionaler Chauvinismus, der an die Stelle des Nationalismus getreten ist. Siehe die fast religiöse Wertschätzung des eigenen Fußballvereins in Deutschland. Populismus ist letztlich der Ruf nach Anerkennung und Respekt, bei dieser Suche ist Regionalstolz ein wichtiger Faktor.

Was Deutschland auch von den Niederlanden oder Skandinavien unterscheidet: Deutschland ist noch immer eine Industriegesellschaft, da gibt es einen gewissen Stolz der Arbeiter, Ingenieure und Facharbeiter. In den Niederlanden ist dieser Stolz völlig verschwunden. Auch dies erklärt, warum der Populismus in Deutschland etwas weniger schnell um sich greift. Zudem ist Deutschland, was man an der Präsenz der Religionen sieht, eine noch eher traditionelle Gesellschaft. Deutschland ist sehr solide und stabil organisiert, aber damit zugleich sehr unflexibel. Damit ringt nun die Fortschrittskoalition. Sie wollten das Land weniger bürokratisch und moderner machen. Aber die Regierung braucht ihr gesamtes politisches Kapital jetzt für die Ukraine und zur Bewältigung der Gaskrise…

…wobei dieser Druck helfen könnte, die Energiewende zu forcieren. Sie vertreten in der Europapolitik einen vorsichtigen Mittelweg, eine Balance in Abgrenzung zur Absage an Europa durch Wolfgang Streeck oder des Europaidealismus einer Ulrike Guérot. Deutschland ist eigentlich auch in dieser Frage sehr gespalten?

Auch die Niederlande. Es ist im Grunde dieselbe Spaltung wie beschrieben. Die nationale Wertegemeinschaft steht damit unter Druck. Ein europäischer Bundesstaat ist darauf die völlig kontraproduktive Antwort. Europäische Politik ist (leider immer noch) »Politikerpolitik«, ein Elitenprojekt, keine real gelebte Demokratie. Mein Plädoyer war und ist: ein starkes geopolitisches Europa nach außen, aber ein bescheidenes demokratisches Europa nach innen. Nationalpopulisten reißen mit ihren Exit-Ideen die EU auseinander, als gäbe es keine Geschichte. Neoföderalisten reißen die Nationalstaaten auseinander, als gäbe es keine Geschichte.

Also doch ein stärkeres Europa?

Ja, wir brauchen ein stärkeres Europa, nicht zuletzt geopolitisch. Aber was wir derzeit vor allem brauchen, ist eine Führerschaft von Frankreich im Bereich Verteidigung und Geostrategie und von Deutschland in der Energiepolitik und einer strategisch unabhängigen Geo-Ökonomie für Europa. Ja, wir brauchen Fortschritt in Europa, aber sehr bestimmt und sehr beherrscht

Und wird es akzeptiert, wenn der Co-Parteivorsitzende der SPD sagt, die Berliner Fortschrittskoalition solle eine Führungsrolle in Europa übernehmen?

Es ist im Grunde richtig so, allerdings nur mit Bezug auf die Hauptthemen Europas. Problematisch wäre, wenn die Koalition für einen föderalen Bundesstaat Europa eintreten würde. Man sollte an der Stelle aufpassen und darf nicht naiv sein, auch wenn man grundsätzlich dafür ist. Es besteht ein großes Spannungsverhältnis zwischen EU-Erweiterung und Vertiefung, zwischen geopolitischer Notwendigkeit und dem Erhalt der europäischen Wertegemeinschaft. Sprengen wir mit der permanenten Osterweiterung nicht die EU, wie wir sie kennen? Es braucht Führung in Europa, aber das richtet sich an eine ganze Gruppe von Ländern. Von Deutschland jedenfalls wird erwartet, dass man für den Zusammenhalt in Europa einsteht, wie man es meistens vorbildlich getan hat.

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