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Über die soziale Ummantelung des Rechtsextremismus Rechte Bedrohungsallianzen

So erschreckend die rechtsterroristischen Anschläge der jüngsten Zeit waren, überraschend kamen sie nicht. Halle, Hanau, der Mord an Walter Lübcke: Die Gewalt gedieh in einem politischen Klima, in dem jederzeit mit Ausbrüchen »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« zu rechnen war und zu rechnen ist. Eine solche Phase erlebt die Bundesrepublik nicht zum ersten Mal. Rechtsextremismus ist ihr chronischer Begleiter, auch wenn dies für ein Land, das den Nationalsozialismus ein für alle Mal überwinden wollte, ein zutiefst bedrückender Befund ist. Immer wieder nutzen Rassisten und Neonazis gesellschaftliche Krisen und Irritationen für sich aus – angespornt von Einstellungen und Stimmungen, die bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen.

Nach der Wiedervereinigung schlugen Neonazis in Rostock, Hoyerswerda, Mölln und anderen Orten zu. Biedermänner und Claqueure des braunen Mobs spendeten offen oder heimlich Beifall. Wer nicht mehr ganz jung ist, erinnert sich auch an die hellsichtigen Analysen und Warnungen von Wissenschaftlern wie dem Soziologen Wilhelm Heitmeyer, der die »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« auf den Begriff gebracht hat. Sie beruhe auf einer Ideologie der Ungleichwertigkeit, die sich gegen viele Menschen richten könne: Mal sind es Juden oder Türken, dann aber auch Wohnungslose oder Arbeitsuchende, die zum Feindbild werden.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten veröffentlichten Heitmeyer und sein Team empirisch gesättigte Diagnosen, die einem weiteren Leserkreis unter dem Reihentitel Deutsche Zustände (edition suhrkamp) bekannt sind. Von Ruhestand kann beim inzwischen 75-jährigen Heitmeyer, dem langjährigen Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld, keine Rede sein. Wie sollte das auch gehen in Zeiten, in denen die AfD in den Bundestag und alle Landesparlamente einzog und sich der Rechtsextremismus neu inszenieren und formieren konnte. Heitmeyer schrieb 2018 ein Buch über Autoritäre Versuchungen, in dem er die AfD als »autoritär-nationalradikal« klassifizierte und ihre Radikalisierung diskutierte. Der Untertitel des Bandes lautete »Signaturen der Bedrohung I«. Nun ist der zweite Teil erschienen.

Gemeinsam mit Manuela Freiheit und Peter Sitzer untersucht er die soziale Ummantelung des Rechtsextremismus. Es liefert ein soziologisches Analysemodell, das dazu beitragen kann zu verstehen, inwiefern auch militante Personen, die von der Justiz als Einzeltäter wahrgenommen werden, keineswegs isoliert handeln. Sie sind eingebunden in gesellschaftliche Zusammenhänge und Dynamiken, das Forschungsteam spricht von »rechten Bedrohungsallianzen« und einem »konzentrischen Eskalationskontinuum«.

Die Begriffe sind sperrig, dahinter verbirgt sich aber der verdienstvolle Versuch, der Komplexität individueller und kollektiver Radikalisierungsprozesse gerecht zu werden. Einstellungen, die zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit gehören, würden in Teilen der Bevölkerung »normal« werden. Und es würden neue Bündnisse zwischen verschiedenen Akteuren entstehen, die sich gegen die offene Gesellschaft richten: »Rechte Bedrohungsallianzen eint das Bestreben, eine autoritäre Entwicklung hin zu einer geschlossenen Gesellschaft und illiberalen Demokratie herbeizuführen.«

Selbst wenn der Höhenflug der AfD einstweilen gestoppt sein könnte, die Analyse lässt befürchten, dass sich solche Bedrohungsallianzen jederzeit neu bilden und Einfluss gewinnen können. Die Autoren breiten nicht nur Daten zu rechtsextremistischen Einstellungen und Gewalttaten aus, ihr Modell arbeitet auch »Legitimationsbrücken« heraus, die zwischen verschiedenen Milieus und Akteuren Verbindungen schaffen und gemeinsame Feindbilder erzeugen.

Die Autoren sprechen von einer »Gewaltmembran«. Durch sie werden Motive für militante Aktionen vom Milieu des autoritären Nationalradikalismus, zu dem die AfD und Pegida gehören, in ein dezidiert systemfeindliches Milieu eingespeist. »Die Membran trennt die beiden Milieus, ist aber für spezifische Begriffe durchlässig, die in anderen Handlungskontexten Gewalt erzeugen können, ohne dass diese den Urhebern der Parolen juristisch zurechenbar wäre.« Dabei haben die Autoren unter anderem die Rhetorik vom »Volkstod« oder der »Umvolkung« im Sinn.

Wie nun diese Membran und der Einfluss geistiger Brandstifter auf Gewalttäter genau funktioniert und welche Effekte einzelne Kommunikationen und Diskurselemente haben, das kann das Forschungsteam an dieser Stelle nicht ergründen. Das wäre auch sehr kompliziert. Da sich schlichte Ursache-Wirkungs-Ketten selten finden lassen, fällt es den Nationalradikalen allerdings auch leicht, die Verantwortung für Eskalationen empört von sich zu weisen. Man werde dieses und jenes doch wohl noch sagen dürfen...

Das Buch betrachtet die verschiedenen Schichten des Eskalationsmodells, das an eine Zwiebel erinnert, die mehrere Schalen hat: Die äußerste Schale besteht aus der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in der allgemeinen Bevölkerung. Im Innersten befinden sich »terroristische Vernichtungsakteure«, also Terrorgruppen oder Individuen, die sich ermächtigt wähnen, Gewalt auszuüben und gegen das »System« zu kämpfen.

Das Milieu des autoritären Nationalradikalismus, das scheinbar noch recht weit entfernt von diesem militanten Kern liegt, inszeniere sich als »Mitte der Gesellschaft«. Es spielt die Unschuld vom Lande – was hier in gewisser Weise wörtlich zu nehmen ist, da die Autoren in einem lesenswerten Kapitel zeigen, wie sich gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und rechtsextreme Strukturen in ländlichen und ökonomisch prekären Sozialräumen besonders gut ausbreiten können.

Ohne diesen allzu ausführlich darzulegen, folgt das Buch einem ökonomistischen Ansatz, der im neoliberalen Kapitalismus und seinen destruktiven Kräften die tieferen Ursachen für den Rechtsextremismus erkennt. Als Zugänge werden die Anomietheorie und die von anderen Autoren entwickelten Konzepte der »kapitalistischen Landnahme« und des »unternehmerischen Selbst« erwähnt. Hier würde es sich lohnen, tiefer einzusteigen. Lassen sich die autoritären Versuchungen der Gegenwart tatsächlich mit diesen Ansätzen (erschöpfend) erklären?

Der materialistische Zug in dieser Analyse leuchtet teilweise ein, verkennt aber möglicherweise die Eigendynamik ideologischer (Überbau-)Phänomene. Zu Recht weist Heitmeyers Forschungsgruppe auf bisher wenig beachtete Befunde zum neu-rechten und nationalkonservativen Potenzial unter Studierenden hin. Das Buch spricht von einer »Intellektualisierung« im rechten politischen Spektrum. Für die Normalisierung illiberalen Denkens spielt die Renaissance von Begriffen wie Nation, Identität und Volk eine Luftrolle, die sich nicht so leicht auf den festen Boden von Lohn und Arbeit zurückholen lässt.

Die Autoren konstatieren eine Modernisierung historischer Ideologien, an der zunehmend auch Intellektuelle aus Medien, Literatur und Wissenschaft beteiligt seien. Die sozialen Netzwerke im Internet hätten den politischen Kampf und die Kommunikation außerdem dynamischer und unkontrollierter gemacht.

Diese Diagnose ist insgesamt ziemlich ernüchternd. Es wird in Zukunft wohl eher noch schwieriger werden, den Rechtsextremismus einzudämmen. Noch vorsichtig äußern sich die Autoren über die Corona-Pandemie. Dass die Auseinandersetzungen um die Anti-Corona-Maßnahmen rechte Bedrohungsallianzen befördern können, haben die vergangenen Monate allerdings schon bewiesen.

Die Autoren beklagen eine allgemeine »politische Visionslosigkeit«. So lässt sich ihr Buch im Wahljahr auch als Appell an die demokratischen Parteien lesen, den Rechtsextremismus nicht nur abzuwehren, sondern eine Politik zu entwickeln, die Unsicherheiten behebt, geistige Orientierung und wirtschaftliche Perspektiven schafft.

Wilhelm Heitmeyer/Manuela Freiheit/Peter Sitzer: Rechte Bedrohungsallianzen. Signaturen der Bedrohung II. edition suhrkamp, Berlin 2020, 325 S., 18 €.

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