Die Regeln sind ganz einfach, aber inzwischen so ungewohnt, dass sie immer wieder neu eingeübt werden müssen. Regel Nummer eins: Die Debatte folgt keiner Frage, sondern einer zugespitzten These. Also nicht: Welche Rolle spielt die Religion, der Datenschutz oder der öffentliche Nahverkehr in unserer Gesellschaft? Sondern: Ohne A, B oder C wären wir alle besser dran. Oder schlechter, je nachdem. Das legt nämlich die Regel Nummer zwei fest: Jeder Teilnehmende des Disputs nimmt einen Standpunkt ein, begründet ihn, baut ihn aus, verteidigt ihn – und überlässt die Gegenrede den Vertreter/innen der jeweils anderen Seite. Am Ende wird ein Strich drunter gemacht; es siegt das bessere bzw. das besser begründete Argument.
So war es auf der Agora üblich, dem Marktplatz im alten Griechenland, über den die großen Denker ihrer Zeit schlenderten, um im Plauderton das Gespräch mit ihren Mitmenschen zu suchen. Im freien Austausch von Rede und Gegenrede legten sie das Fundament der europäischen Geistesgeschichte, begründeten sie die Idee der Demokratie und entwarfen ein Bild vom Menschen, das jedem seine eigene Position zubilligt. Sokrates, so berichten seine Schüler, behielt zwar am Ende fast immer die Oberhand. Aber den Gewinn an Erkenntnis – den trugen seine Mitbürger und die Nachwelt davon.
Und so fordert es auch die Tradition in den angelsächsischen Ländern, in denen Debatte und Diskurs noch immer als Formen der Kunst gepflegt werden – wie die Kunst des Dramas oder die der musikalischen Komposition. Wer sich, nur nebenbei, fragt, woher etwa der berühmte britische Humor kommt, der könnte im kunstvollen Auseinanderrücken von Person und Argument schon den Ansatz einer Erklärung entdecken: Es liegt etwas Spielerisches darin. Keiner setzt sich gleich mit seiner Rolle, und jeder ist sich dieser Unterscheidung bewusst. So etwas muss man lernen und einüben – wie lateinische Vokabeln oder die Läufe auf dem Klavier. Aber der Stundenplan lässt den nötigen Raum dafür, von der Elementary School bis zum Examen als Lehrer/in oder Rechtsanwalt bzw. Rechtsanwältin oder dem method acting, dem Schauspielunterricht am Broadway. So weit liegt das alles ja nicht auseinander. In England oder den USA jedenfalls käme kein Student auf die Idee, ihr oder sein Referat von einem Manuskript abzulesen.
Die Welt als Cosmopolis
Nun ist die Welt kein Dorf mehr, kein global village, wie der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan den Endpunkt einer Entwicklung bezeichnete, in deren Verlauf erst der Buchdruck, später Rundfunk und Fernsehen den Globus zur Größe eines Dorfplatzes, einer Agora der Antike schrumpfen ließen. Wer live mit Panama oder Polynesien verbunden ist, für den spielen Entfernungen keine Rolle mehr.
Aber nein, korrigiert ihn mehr als 50 Jahre und eine neuerliche, die digitale Revolution später der britische Historiker Timothy Garton Ash: McLuhans Metapher habe sich überlebt. Ein Dorf ist viel zu klein, die Bewohner sind einander bekannt und vertraut; es herrscht dort eine fast schon idyllische Nachbarschaft. Leider sehr weltfremd. Garton Ashs Gegenmodell – für das er, nebenbei, im vergangenen Jahr mit dem Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen ausgezeichnet wurde: die Welt als Ort, in dem sich die Massen drängen, sich Meldungen und Meinungen in schneller Taktung überstürzen, als globale Riesenstadt, die Welt als »Cosmopolis«.
Die Idee der Vernetzung, der globalen Gleichzeitigkeit, der vielfältigen und in alle Richtungen wirkenden Abhängigkeiten also blieb in dem revidierten Bild erhalten. Nur von dörflicher Überschaubarkeit, gar Beherrschbarkeit kann in Zeiten der Internetkonzerne und ihrer lernenden Algorithmen, in Zeiten der konzertierten Angriffe durch Hacker, Bots und Trojaner längst keine Rede mehr sein. Was in der globalen Großstadt die Beziehungen der Menschen definiert, ist die komplette, von allen Regeln und aller Rücksicht befreite Transparenz und damit – das ist kein Widerspruch – Austauschbarkeit und Anonymität. Wer seinen Alltag mit einem sprechenden und auf jede Äußerung antwortenden Computer teilt, der stellt seine Individualität zur Disposition und macht sich zu einer Art Außenposten eines Rechnerprogramms.
Was daraus folgt, als Forderung wie als Versprechen, ist die Freiheit der Rede – und die Erkenntnis, dass jede Freiheit Hege und Pflege braucht, wenn sie sich nicht sehr schnell in ihr Gegenteil verkehren soll. Also Regeln und Sanktionen, vor allem aber die Reife derer, die sie genießen. Das heißt: Kompetenzen und Moral.
Darf also jeder jeden aus seinem Versteck irgendwo im Dschungel der digitalen Cosmopolis angreifen, bedrohen und beleidigen? Darf ein Kabarettist das Oberhaupt eines fremden Staates verspotten und verhöhnen? Dürfen Karikaturen eines Propheten eine ganze Religionsgemeinschaft lächerlich machen? Wie kann und darf sich die Gemeinschaft dagegen zur Wehr setzen? Und welche Entschädigung steht einem Mann zu, der sein Geld zwar mit Klamauk und öffentlicher Provokation verdient, sich aber eines Tages auf einem frei zugänglichen Video im Internet wiederfindet beim Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau des Nachbarn?
Im Fall des amerikanischen Berufsringers Hulk Hogan erkannte das Gericht auf 140 Millionen Dollar. Die Internetplattform ging daran kaputt, was vielleicht kein großer Verlust war. Die anderen Fragen erfordern aber deutlich komplexere Antworten.
Jenseits des Gereiztheitskorridors
Die Freiheit der Rede hat ihren Preis. Er ist zu bezahlen in Abstrichen von dem, was sich manch eine/r an öffentlicher Ordnung wünscht, an Respekt, sogar an Sicherheit. Er bedeutet Verzicht auf vieles, was man unter gutem Geschmack verstehen mag, unter Kultur oder der gebotenen Rücksicht gegenüber Minderheiten. Die Gesamtheit der freien Rede umfasst auch die schlechte, vulgäre, hasserfüllte und sogar die absichtlich falsche Äußerung.
Die Freiheit der Rede hat große Gedanken großer Frauen und Männer verbreitet, aber auch einen Donald Trump möglich gemacht. Sie schließt sogar die paradoxe Freiheit ein, nach ihrer eigenen Begrenzung zu rufen, nach Einschränkung der Pressefreiheit, Verbot und Zensur. Und sie wurde im März selbst zum Thema – als in Dresden die Schriftsteller Durs Grünbein und Uwe Tellkamp öffentlich u. a. darüber stritten, ob Intellektuelle in Deutschland sich nur in einem eng gefassten Gesinnungskorridor bewegen dürften, oder ob es vielleicht mal geboten sei, sich aus der Komfortzone von Gereiztheit und Wehleidigkeit heraus in einen offenen Diskurs zu begeben. »Wer sich öffentlich äußert«, so notierte Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung, »der muss damit rechnen, dass ihm widersprochen wird. Wer das abschaffen will, schafft zugleich die öffentliche Debatte ab und erzeugt Stickluft oder Belanglosigkeit«.
Kompetenz also, Umgangsformen, Formen für den Umgang mit einer Redefreiheit, die auch für die Gegenseite gilt und trotzdem – oder gerade deshalb – eher sehr weite als enge Grenzen benötigt. Viel von dieser Kompetenz ist nicht zu erleben, wenn sich die Teilnehmer einer Debatte über Gesinnungsdruck und Opferrolle eher belauern als einander zuzuhören. Wenn Fragen an ein Gegenüber durch Unterstellungen ersetzt werden. Oder wenn bei Talkshows wie Maischberger oder Anne Will die Vertreter von Verbänden und Parteien sich vor allem in der Fähigkeit messen, hartnäckig weiterzureden, um die Rede der anderen Seite zu übertönen.
Natürlich genügen die überschaubaren Fertigkeiten der Agora nicht, um sich gegen Hass und organisierte Hetze in den sozialen oder asozialen Medien zu wappnen. Aber am Anfang von Diskurs und Demokratie steht nun mal die Grundtechnik. In Berlin ist es Jutta Falke-Ischinger, die aus ihren Beobachtungen vom internationalen Parkett als Journalistin, Redakteurin und Frau des Diplomaten Wolfgang Ischinger eine Geschäftsidee (Disput\Berlin! So geht streiten.) entwickelt hat, die dem Disput einfache Regeln vorgibt und ihn als Spektakel auf die Bühne bringt – sicherlich auch, um tatsächlich Argumente über die Risikoscheu der Deutschen oder den Wert von Treue auszutauschen, vor allem aber, um zu zeigen, wie es funktioniert: wie streiten geht! Inzwischen steht auch bei uns die freie Debatte auf dem Stundenplan vieler Schulen. Und während mancher Helikopter-Elternteil sich noch fragen mag, worin denn wohl der Sinn liegt, nur mal aus Gründen der rhetorischen Ertüchtigung einen ganz und gar fremden Part einzunehmen, können sich die Nachwuchskräfte der Redekunst darauf freuen, mit ihren neu erworbenen Fähigkeiten vielleicht schon bald die Arena der Demokratie zu betreten.
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