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Refeudalisierung vs. Demokratie

Lateinamerika durchlebt zurzeit eine Krise der Demokratie, die im Hinblick auf die Veränderung der politischen Kultur in der jüngsten Geschichte der Region durchaus mit der Periode der Militärdiktaturen vergleichbar ist. Dabei ist diese erneute Krise mit der intersektionalen Exklusion großer Teile der Bevölkerung verbunden.

Aus historischer Perspektive betrachtet krankten die neuen lateinamerikanischen Republiken nach der Unabhängigkeit – mit Ausnahme der haitianischen Revolution – vor allem daran, dass die sich zunehmend aristokratisch verstehenden kreolischen Eliten ihre Machtposition unangefochten bewahren konnten und indigene, afro-amerikanische und mestizische Gruppen sowie Frauen und Analphabeten aus dem Prozess des Nation-Building ausgeschlossen wurden.

In vielen Ländern Lateinamerikas führten erst die aufgrund der massiven indigen-popularen Bewegungen Anfang der 1990er Jahre eingeleiteten rechtlichen Änderungen, vor allem der Verfassungen, zu einer integralen Anerkennung der zuvor politisch ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen. Diese bereits von den neoliberal-multikulturell ausgerichteten Regierungen ansatzweise umgesetzte plurikulturelle Neudefinition der Nation wurde von den nachfolgenden Mitte-Links-Regierungen fortgeführt und erweitert. Diese Konjunktur hat insofern zu einer historischen Vertiefung der Demokratien geführt, als dass nunmehr das auf whiteness ausgerichtete aristokratische Modell der Nation demontiert und die demokratische Beteiligung signifikant ausgeweitet wurde. Dies äußerte sich auch in der politischen Repräsentation, demnach ein gesellschaftlicher »Nobody« wie der indigene Coca-Bauer Evo Morales in Bolivien oder der Stahlarbeiter Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien Präsident werden konnte. Zugleich stieg unter den Linksregierungen auch die politische Partizipation von Frauen so an, dass Lateinamerika 2013 als die Weltregion mit dem höchsten Frauenanteil in Parlamenten galt. In den Nullerjahren wurden drei der geopolitisch und ökonomisch wichtigsten Länder der Region von Frauen geführt, die der Linkswende zugerechnet wurden: Dilma Rousseff in Brasilien, Michelle Bachelet in Chile und Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien. Entgegen dieser Konjunktur der Demokratisierung der politischen Kultur stellt sich die Situation heute radikal anders dar: Die Rückkehr des weißen Mannes, der der Geldaristokratie nahe steht oder diese verkörpert, an die politische Macht ist zu konstatieren. In Paraguay, Honduras, Brasilien und zuletzt in Bolivien ist der politische Machtwechsel durch undemokratische Prozesse, die einem »kalten Putsch« gleichen, eingeleitet worden. Im Folgenden soll hier ein Blick auf die aktuelle politische Kultur geworfen werden, die nicht nur durch einen markanten Rechtsruck charakterisiert ist, sondern vor allem auch von einer unüberbrückbaren sozioökonomischen Kluft zwischen den reichsten 10 % – zumeist Weiße – und dem bunten Rest der Bevölkerung.

Weltweit durchleben wir derzeit eine historisch nie dagewesene soziale Polarisierung. Seit 2015 verfügt das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung über mehr Reichtum als der gesamte Rest. Gerade in den letzten zwei Dekaden ist die Zahl der Milliardäre auf über 2.000 signifikant gestiegen. Paradoxerweise stieg laut einer Erhebung des Finanzdienstleisters Capgemini die Anzahl der Milliardäre in Lateinamerika gerade in der Amtszeit der Linksregierungen massiv an, zwischen 2008 und 2016 von knapp 420 auf fast 560. Milliardäre in Lateinamerika sind zudem überproportional reicher als die in anderen Weltregionen. Und während Milliardäre in den USA ihren Hyperreichtum auf den Finanzmärkten oder der New Economy erworben haben, so spielt in Lateinamerika der Faktor Landbesitz weiterhin eine wichtige Rolle. Nach Angaben der FAO ist in keiner Region weltweit Landbesitz so ungleich verteilt wie in Lateinamerika. Der Gini-Koeffizient erreicht hier 0,79 und liegt damit weit über Europa (0,57), Afrika (0,56) und Asien (0,55). Und mit einem Koeffizienten von 0,93 ist die Landverteilung in Paraguay laut Oxfam die ungerechteste im lateinamerikanischen Vergleich.

Offensichtlich hat es jedoch in der Zeit der Linksregierungen einen regionalen »Fahrstuhleffekt« gegeben, wonach alle Klassensegmente einen sozioökonomischen Aufstieg erfahren haben, ohne dass es eine grundsätzliche Verringerung der sozialen Kluft gegeben hätte. Statt eine Umverteilungspolitik vorzunehmen (etwa durch Vermögen-, Erbschaftsteuer oder eine Agrarreform) beschränkten sich die Linksregierungen auf staatliche Unterstützungsprogramme für die unteren Klassensegmente, die über den Rohstoff-Boom finanziert wurden. Mit dem in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts einsetzenden Preisverfall für Rohstoffe und der damit einhergehenden ökonomischen Krise scheinen nun ganze Segmente, die in den letzten Jahrzehnten aufgestiegen sind, wieder in die Unterschicht abzufallen. Die oberen 10 % indes sind kaum vom sozialen Abstieg betroffen. Wir haben es hier mit einem »Bungee-Effekt« zu tun, der die soziale Kluft noch weiter vertieft. Nach einer jüngsten Untersuchung von Oxfam verstärkt sich dieses soziale Auseinanderdriften in der COVID-19-Pandemie: Zwischen März und Juni 2020 ist das Vermögen der lateinamerikanischen Geldaristokratie um 18 % gestiegen, und acht neue Personen sind in den illustren Kreis der Milliardäre eingetreten. Dagegen ist gerade der informelle Sektor, in dem die unteren Schichten ihren Lebensunterhalt verdienen, massiv von der Pandemie betroffen.

Der politische Aufstieg der Geldaristokratie

Die immense Kluft, die sich im sozio-ökonomischen Raum zwischen den popularen Sektoren und der Geldaristokratie aufgetan hat, verdoppelt sich zunehmend im politischen Feld. Entgegen dem demokratischen Prinzip, dass ein »Nobody« die politische Repräsentation temporär ausfüllt, sind es nunmehr zunehmend Vertreter der Geldaristokratie, die die politische Gemeinschaft repräsentieren. Durch diese zusätzliche politische Macht kommt es zu einer Verdoppelung der ökonomischen Macht. Sebastián Piñera in Chile hat die Trendwende gegen die »rosa Flut« eingeleitet. Piñera, dessen Vermögen bei Amtsantritt auf 2,2 Milliarden Dollar geschätzt wurde, wurde 2010 der erste konservative Präsident Chiles nach dem formellen Ende der Militärdiktatur und ist es seit 2018 erneut. In Argentinien steht die Amtszeit von Mauricio Macri (2015–2019) für diese Tendenz, in Brasilien war der sogenannte »Soja-Baron« Blairo Maggi von 2016 bis 2019 Landwirtschaftsminister.

Über die demokratietheoretisch problematische Frage der Verschmelzung von ökonomischer und politischer Macht hinaus ist die damit einhergehende Veränderung der politischen Kultur höchst besorgniserregend. In vielen Ländern geht es der Rechten darum, die Ergebnisse der Anerkennungspolitik der letzten drei Dekaden rückgängig zu machen. Bereits in der Übergangsregierung von Michel Temer, der 2016 in einem kalten Putsch gegen Dilma Rousseff in Brasilien an die Macht gekommen war, gab es keine Afrobrasilianer, keine Indigenen und zum ersten Mal seit dem Ende der Militärdiktatur auch keine Frauen im Kabinett. In Bolivien wurde die Regierung von Evo Morales im November 2019 in der Provinz Santa Cruz durch rechtsgerichtete bis offen faschistische Gruppen unter der Führung des rechten, evangelikalen Unternehmers Juan Fernando Camacho und mit Schützenhilfe der Organisation Amerikanischer Staaten in einem besorgniserregenden Staatsstreich gestürzt.

Das markanteste Beispiel für die neue Konjunktur der Exklusion stellt der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro dar, der von der NGO Survival International 2019 zum »Rassisten des Jahres« gekürt wurde. Er hatte bereits 1998 bedauert, dass die brasilianische Kavallerie bei dem Genozid gegen die indigene Bevölkerung nicht ähnlich erfolgreich wie die US-amerikanische gewesen sei. 2016 sprach er sich für eine Bewaffnung der Großfarmer aus, um zu verhindern, dass auch nur ein weiterer Millimeter Land an indigene Reservate oder Dörfer (Quilombos) vergeben wird. Die gezielte Politik gegen indigene Völker, deren Reservate und Lebensräume sowie die staatlichen Institutionen zu ihrer Unterstützung, wie die FUNAI, hat etwa die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt, Bärbel Kofler, dazu bewogen, die Bolsonaro-Regierung öffentlich zu kritisieren, da diese die Existenz der indigenen Völker Brasiliens gefährde. Aber auch die linken Regierungen waren nicht immer immun gegen die Rhetorik des Weißseins und das darauf basierende Gefühl der rassischen Überlegenheit. In Ecuador etwa bezeichnete der linke Ex-Präsident Rafael Correa die indigene Bewegung des Landes als »barbarisch« und »ein Hindernis für den Fortschritt der Nation«. Dieser neue identitätspolitische Diskurs appelliert emotional an eine vermeintliche weiße Überlegenheit (white supremacy). Dabei werden auch Begriffe aus den Genozid-Programmen der Kolonialisierung Ende des 19. Jahrhunderts wiederbelebt.

Eine ähnliche reaktionäre Einstellung findet sich in Genderfragen, wenn beispielsweise konservative Demonstranten in Brasilien die anerkannte Geschlechterforscherin Judith Butler als Hexe diffamieren und deren Verbrennung fordern. Insgesamt wird – befeuert durch eine starke evangelikale Bewegung – ein Antagonismus zwischen der Bestimmung der »Frau als Mutter« und einer LGBTQ-offenen »Gender-Ideologie« proklamiert. Paradoxerweise sind diese Diskurse gerade auch für diejenigen Gruppen, die aus der Unterschicht in die Mittelschicht aufgestiegen sind, attraktiv. Denn Geld macht weiß; und wer einmal weiß geworden ist, möchte dieses identitätspolitische Kapital nicht wieder verspielen.

Doch ist diese krude, oftmals post-faktische Rhetorik nur die Spitze des Eisbergs. Noch besorgniserregender sind die sich neu abzeichnenden Regierungstechniken im foucaultschen Sinne. Es ist ein Ende der neoliberal-multikulturellen Anerkennungspolitiken festzustellen. Die neuen Instanzen der Ethno-Gouvernementalität, nach der sich die Indigenen selbst regieren sollen, um sich als Marktsubjekte und Staatsbürger zu etablieren, werden abgeschafft oder entmachtet. Stattdessen ist aktuell eine Rückkehr zur souveränen Macht festzustellen, die Michel Foucault als »Recht zu Töten« charakterisiert. So beschreibt die chilenische Regierung die Mapuche-Gemeinschaften, die gegen die Forstkonzerne um Landrechte kämpfen, als innere Feinde und »Terroristen«, gegen die das aus der Pinochet-Diktatur stammende Antiterrorgesetz angewendet wird. Gegen die Mapuche wird quasi ein Ausnahmezustand verhängt. Auch in anderen Regionen nehmen Polizei- und Militäreinsätze gegen indigene Völker zu, besonders, wenn sich diese gegen umweltzerstörende Projekte richten wie den Bergbau, die Soja- und Palmölproduktion oder einen Staudammbau.

Diese staatliche Ausübung souveräner Macht findet para-staatliche Nachahmer. Brasilien, Kolumbien, Honduras und Nicaragua gehören laut der NGO Global Witness zu den Ländern, in denen weltweit die meisten »defenders of the earth« – oft Indigene – ermordet werden. Auch afro-amerikanische und/oder feministische Aktivistinnen und Aktivisten stehen im Visier, wie die Ermordung Marielle Francos, Stadträtin in Rio de Janeiro zeigt. Zuletzt gab es in Chile progromartige rassistische Ausschreitungen gegenüber Mapuche, Gleiches geschah in Bolivien. Während es die feministische Bewegung vermochte, mit Bewegung wie #NiUnaMenos oder #NiUnaMas, breiten Protest zu artikulieren, beschränken sich die indigenen Bewegungen vor allem auf Verteidigungsdiskurse. Lateinamerikanische Intellektuelle wie Maristella Svampa sehen hier den Beginn einer öko-territorialen Wende, der es um die Verteidigung lokaler Lebenswelten geht. So wichtig diese Verteidigung im Lokalen auch für demokratische Prozesse sein mag, so zeigt sich aber auch, wie umfassend große Bevölkerungssegmente innerhalb von wenigen Jahren aus dem politischen Raum gedrängt worden sind. Waren die Stimmen von Frauen, Indigenen, Afro-Amerikanern und Umweltschützern von den 90er Jahren bis in die erste Dekade des 21. Jahrhunderts – auch verstärkt über den Resonanzboden der internationalen Organisationen und NGOs – laut und deutlich im politischen Feld vernehmbar, so werden sie mittlerweile dort nur als störender »Lärm« wahrgenommen. In Lateinamerika sehen wir aktuell im Brennglas die Unvereinbarkeit von extremer sozialer Ungleichheit und Demokratie.

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