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Grundlegende Bücher zum Thema Sklaverei Religion des Südens

Er könne sich nicht erinnern, seine Mutter jemals bei Tageslicht gesehen zu haben, schreibt Frederick Douglass in seiner Autobiografie. Sie sei nur nachts zu ihm gekommen: »Dann legte sie sich zu mir und geleitete mich in den Schlaf, aber noch bevor ich erwachte, war sie längst wieder fort.« Wie viele Kinder afroamerikanischer Sklavinnen war er schon als Säugling der Obhut einer alten Frau anvertraut worden. Seine Mutter sei auf einer zwölf Meilen entfernten Farm »verdingt« gewesen: »Um mich zu sehen, machte sie sich, nachdem sie ihr Tagwerk verrichtet hatte, nachts auf den Weg und legte die ganze Strecke zu Fuß zurück.«

Die 1845 erstmals veröffentlichte Narrative of the Life of Frederick Douglass, an American Slave, Written by Himself habe »heute einen geradezu hyperkanonischen Status« erlangt, schreibt Hannah Spahn in ihrem Nachwort zur Ausgabe des Reclam-Verlags. Sie werde »vielfach als beispielhaft für ein heterogenes Genre gelesen, das vom letzten Drittel des 18. bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ungefähr 6.000 Erfahrungsberichte von Versklavung und Befreiung umfasst«. Allein 2.300 solcher Berichte entstanden während des New Deal der 1930er Jahre, aus dessen Mitteln das »Federal Writers’ Project« finanziert wurde, eine Sammlung von »Berichten ehemals versklavter Menschen aus erster Hand«, wie der afroamerikanische Journalist, Dozent und Lyriker Clint Smith erläutert.

Der Titel seines Buches Was wir uns erzählen formuliert dieses Grundproblem afroamerikanischer Geschichtsschreibung. Sie kann sich nur auf eine schmale Basis schriftlicher Quellen stützen, bei denen es sich oft um Mitschriften mündlicher Erzählungen handelt. Das Schicksal der Sklaven ähnelt dem des einfachen Volkes im europäischen Mittelalter, dessen näheren Lebensumstände nur dort schriftlich festgehalten wurden, wo sie gerichtsnotorisch geworden waren.

Clint Smith hat aus dieser Not ein Arbeitskonzept gemacht. Sein Buch versammelt Reportagen aus historischen Gedenkstätten der USA, die, wie die Monticello Plantation des Gründervaters Thomas Jefferson, Zeugnisse der Sklaverei sind. Monticello bildet den Ausgangspunkt zur Erkundung weiterer Erinnerungsorte: Plantagen, ein Südstaatenfriedhof, ein Gefängnis der Stadt New York oder ein ehemaliges Sklavenhandelszentrum in Afrika, deren Rolle Smith im Dialog mit schwarzen und weißen Museumsführerinnen und ‑führern sowie Besucherinnen und Besuchern ergründet. »Wer hat Zugang zu Büchern?« unterstreicht der senegalesische Historiker Ibrahima Seck die Bedeutung solcher anschaulicher Gedenkstätten: »Wir brauchen ein offenes Buch, eins unter freiem Himmel, damit die Leute herkommen und es sehen können.«

Erfahrungsfreie Wissenschaft

Solch »offenes Buch unter freiem Himmel« soll den Nachfahren den Zugang zu einer Geschichte eröffnen, die nicht mit dem Eintrag in einem »Farm Book« beginnt, in dem etwa Thomas Jefferson »Namen, Geburtsdatum und -ort sowie den Verkauf jeder Person, die er in Knechtschaft hielt«, notierte. Auf Galveston Island, wo am 19. Juni 1865 das Ende der Sklaverei offiziell verkündet worden sein soll, trifft Smith mit Sue Johnson zusammen, die dort 30 Jahre lang die »Juneteenth«-Gedenkveranstaltung organisiert hat.

Sie wollte, dass vor allem junge Afroamerikaner begriffen, dass ihre Geschichte nicht mit der »Middle Passage«, dem Atlantischen Sklavenhandel, begonnen habe: »Ich wollte nicht, dass sie denken, oh, wir tauchten auf und wurden versklavt. Nein, wir lebten in blühenden Städten und Ländern und leisteten fantastische Dinge, bevor der weiße Mann uns auch nur entdeckte.«

Weniger verklärt erscheint dies in Smiths Gespräch mit einem afrikanischen Lehrer auf Gorée Island vor der Küste Senegals: »Wenn man Kindern sagt, dass Millionen schwarzer Menschen als Sklaven verkauft wurden, dann reagieren Kinder natürlich mit der Frage: Wer hat sie verkauft?« Seine Antwort lautet: »Die ersten Europäer, die herkamen, wussten nichts vom Landesinneren. Sie kollaborierten mit Königreichen in Küstennähe. Sie gaben ihnen Waffen und etwas Geld, und die gingen ins Landesinnere, tief hinein, um Sklaven zu erbeuten, um Menschen gefangen zu nehmen und sie an die Küste zu bringen. Dort verkauften sie sie als Sklaven auf europäische Schiffe.« Offensichtlich gibt es auch in Fragen der Sklaverei die aus Europa bekannte Neigung, die Kollaboration in den eigenen Reihen zu verdrängen oder herunterzuspielen.

Andererseits gehört es zur Dialektik der Aufklärung, dass auch deren scharfsinnigste Verfechter in Europa und den USA einen Hang zur weißen Exklusivität besaßen. Er beruhte auf einem durch jahrhundertlange religiöse Indoktrination beschränkten Weltbild – der Vorstellung einer Ökumene, die vom alttestamentarischen Gott für hellhäutige Europäer geschaffen worden sei. 1741 stellte die Akademie von Bordeaux die Preisfrage, was »die physische Ursache« sei für die Hautfarbe schwarzer Menschen, »die Beschaffenheit ihres Haares und die Degeneration von beiden?« Darauf gingen »nur mittelmäßige« und oft theologisch begründete Beiträge ein.

Die abwertende Formulierung »Degeneration« postulierte von vornherein einen Verfallsprozess und nahm damit ein entsprechendes Ergebnis vorweg. In ihrem Aufsatz »Die Erfindung der wissenschaftlichen Rassetheorien«, erschienen im Aprilheft der Zeitschrift Merkur, schlagen Andrew S. Curran und Henry Louis Gates Jr. von dort den Bogen zu Voltaire, der – woher auch immer – wusste, dass schwarze Menschen »nicht zu großer Aufmerksamkeit fähig« seien, und zu Immanuel Kant, der in Königsberg feststellte, dass ihnen jedes »Gefühl, welches über das Läppische stiege«, fehle.

Zur Etablierung der Sklaverei war eine solche erfahrungsfreie »Wissenschaft« aber gar nicht erforderlich, sie diente allenfalls der nachträglichen Beschönigung dieses Menschheitsverbrechens. Die weißen Männer, von deren Peitschenhieben, Vergewaltigungen und Morden Frederick Douglass als Augenzeuge berichtet, bedurften ihrer so wenig wie viele weiße Frauen: »Die Frau von Mr. Giles Hick ermordete die Cousine meiner Frau, ein junges Mädchen zwischen fünfzehn und sechzehn Jahren, indem sie ihr mit einem Stock Nase und Brustbein brach und sie auf die schrecklichste Weise verstümmelte, so dass das arme Mädchen wenige Stunden später verschied.«

Der Anlass war das schlecht gehütete Baby der Mörderin. Douglass verweist aber auch darauf, dass viele Sklavenhalter ihren Sklaven »gegenüber die doppelte Beziehung von Master und Vater« gehabt hätten: »Aus Rücksicht auf die Gefühle seiner weißen Frau ist der Master oft gezwungen, diese Sorte Sklaven zu verkaufen«, schreibt er nicht ohne Ironie, doch nicht immer genügte das, die Rachegelüste betrogener weißer Ladies zu befriedigen.

Letzte Zuflucht: der Gottesbezug

So vergifteten Sklaverei und Rassismus auch die Gefühlswelt hinter den leuchtenden Fassaden der Südstaatenvillen. Während schwarze Familien brutal auseinandergerissen wurden, vermehrten sich die lebenden Beweise dafür, dass die Hausherren gegen das sechste Gebot verstoßen hatten und durch besondere Brutalität gegenüber Sklaven beweisen mussten, dass bei Ehebrüchen keine Gefühle, sondern reines Profitinteresse im Spiel war. Ein Kind alle zwei Jahre, schrieb ein Zeitgenosse, »bringt mehr Profit als die Ernte des besten arbeitenden Mannes«.

Douglass porträtiert auch eine weiße und »weichherzige Frau«, die ihm ersten Leseunterricht gab, aber unter dem Einfluss ihres Mannes und ihrer Umgebung schließlich die »nötige Verderbtheit« entwickelte, um ihn wie ein Stück Vieh zu behandeln. Zum Glück gab es in Baltimore jene weißen doch »hungrigen kleinen Gassenjungen«, die ihm im Tausch gegen Brot aus der Küche seiner Herrin »das Brot des Wissens schenkten«. Dass der strenge Gatte den Unterricht mit dem Argument beendete, er verdürbe diese Menschen, habe ihm die Augen für den Wert des Lesens erst so recht geöffnet. Douglass bedankt sich mit den sarkastischen Worten: »Dass ich lernte, verdanke ich also fast ebenso sehr dem erbitterten Widerstand meines Herrn wie der gütigen Unterstützung meiner Herrin.«

All dies belegt, dass halbwegs intelligente Sklavenhalter nicht an den Unsinn von einer natürlichen Inferiorität der Schwarzen glaubten. Und der Bericht von den »kleinen weißen Jungen« widerspricht dem Klischeebild vom »White trash«, demzufolge Angehörige der weißen Unterschicht ihr Selbstwertgefühl rassistisch aufpolierten. An anderer Stelle beschreibt Douglass, dass schwarze und weiße Zimmerleute erst gut zusammengearbeitet hätten, bis es zu einem Aufstand der Weißen kam, die befürchteten, ihre schwarzen Kollegen »würden bald das Gewerbe ganz an sich reißen und armen Weißen die Arbeitsplätze wegnehmen«.

Nach seiner Flucht in den Norden endlich als freier Mann in New Bedford angekommen, musste Douglass feststellen, dass er selbst einem Südstaaten-Mythos aufgesessen war: »Ich hatte mir die Auffassung zu eigen gemacht, ohne Sklaven könne es keinen Wohlstand geben und keine kultivierte Lebensart.« Nun aber sieht er prächtige Kirchen, schöne Wohnhäuser und gepflegte Gärten, »keine halbnackten Kinder und barfüßigen Frauen wie in Baltimore: Zum ersten Mal erfreute mich der Anblick äußersten Wohlstands, ohne dass mich der Anblick äußerster Armut betrübte.«

Bigotterie der US-Verfassung

Wenn aber der Wohlstand reicher, oft chronisch verschuldeter Plantagenbesitzer wie Jefferson im Süden mit größter weißer Armut einherging, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Sklaverei der Südstaaten weniger eine valide Ökonomie als ein Instrument zur Sicherung des quasi-feudalen Status der Oberschicht war. Auch hier zeigt sich Frederick Douglass als brillanter Sozialpsychologe, der die Bigotterie der US-Verfassung, die Scheinheiligkeit des »In God we Trust«, entlarvt. Von allen Sklavenhaltern, die er kennengelernt habe, seien die vermeintlich Gläubigen die schlimmsten gewesen.

Er behaupte deshalb, »dass die Religion des Südens ein bloßer Deckmantel für die abscheulichsten Verbrechen ist, eine Rechtfertigung der grässlichsten Barbarei, eine Heiligung der grauenvollsten Betrügereien und ein dunkler Schirm, unter dem die finstersten, schändlichsten, widerlichsten und teuflischen Taten der Sklavenhalter den verlässlichsten Schutz finden«. Samuel Johnsons berühmtes Diktum, dass einem überführten Schuft nicht einmal der Patriotismus eine letzte Zuflucht bietet, ließe sich insofern ergänzen, dass der Gottesbezug doch eine allerletzte Zuflucht sein kann. Sklaverei, Rassismus und White Supremacy, dies belegt Douglass’ bis heute aktuelles Buch, zählen zu den Erbsünden des christlichen Abendlandes, welche die Aufklärung überlebt haben.

Frederick Douglass: Mein Leben als amerikanischer Sklave. Reclam, Stuttgart 2022, 154 S., 20 €. – Clint Smith: Was wir uns erzählen. Das Erbe der Sklaverei – eine Reise durch die amerikanische Geschichte. Siedler, München 2021, 425 S., 26 €.

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