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Der säkulare Staat im 21. Jahrhundert Religion in der Öffentlichkeit?

Der für Religion angemessene Platz wird heute zwar von vielen Menschen in Europa im Privaten verortet, von einer vollständigen Säkularisierung kann allerdings keine Rede sein: Nach wie vor spielen die christlichen Kirchen und gläubige Christen in der Gesellschaft eine aktive Rolle. In der Bundesrepublik hat sich außerdem im Zuge der Arbeitsmigration aus der Türkei seit den 60er Jahren eine stabile muslimische Minderheit etabliert, und durch die aktuellen Fluchtbewegungen aus Syrien und anderen muslimisch geprägten Regionen wächst diese weiter. Das Zukunftsszenario der deutschen Gesellschaft ist somit keineswegs eine nichtreligiöse Gesellschaft, sondern vielmehr das einer religiös vielfältigen Gesellschaft. Die klassische historische Antwort europäischer Gesellschaften auf die Herausforderung durch religiöse Vielfalt ist das Konzept des säkularen Staates. Ist der säkulare Staat aber auch den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen?

Seit einigen Jahren häufen sich gesellschaftliche Konflikte mit einem Bezug zur Religion. Man denke an den Streit um das Kruzifix im Klassenzimmer, die Auseinandersetzung um das Kopftuch muslimischer Lehrerinnen sowie jüngst auch die sogenannte Burka-Debatte. Weitere Streitthemen sind die im Judentum und Islam praktizierte Beschneidung von Jungen und das Schächten von Tieren. Die Mohammed-Karikaturen in der Tageszeitung Jyllands-Posten und der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo haben in Dänemark und Frankreich zu heftigen Konflikten und sogar Gewaltausbrüchen geführt. Im Kontext dieser Gemengelage formiert sich auch ein neuer Atheismus, für den der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins und der britisch-amerikanische Publizist Christopher Hitchens mit ihren (Streit-)Schriften das Programm lieferten. In Deutschland tourte im Frühjahr 2009 nach Londoner Vorbild ein »Atheistenbus« mit der Aufschrift »Es gibt (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott« quer durch die Republik. Dieser wurde auf seiner Mission seinerseits von einem »Christenbus« mit der Aufschrift »Und wenn es ihn doch gibt …« begleitet (wohlgemerkt nicht »verfolgt«, wie einer der Initiatoren der Gegenkampagne betonte)

Die zunehmende und auch zunehmend sichtbare religiöse Heterogenität hat die Frage nach der Rolle der Religion in der Öffentlichkeit erneut auf die politische Agenda gesetzt. Der erregte Ton in den öffentlichen Debatten rührt nicht zuletzt daher, dass diese »Rückkehr der Religion« eine erhebliche Irritation impliziter Erwartungsmuster ausgelöst hat. Denn die in den klassischen soziologischen Modernisierungstheorien der Nachkriegszeit enthaltene Säkularisierungsthese, die ursprünglich einen Niedergang der Religion in modernen Gesellschaften prophezeit hatte, hat das Bewusstsein der Europäer tief geprägt. Sie ist Bestandteil eines Fortschrittsnarrativs, das den modernen säkularen Staat als eine Ordnung versteht, in der Religion komplett verschwunden oder zumindest vollständig privatisiert ist und dies als Ergebnis einer Überwindung begrenzter Horizonte begreift. Die Vorstellung von der Überlegenheit eines säkularen Welt- und Menschenbildes und einer darauf basierenden moralischen und politischen Ordnung hält sich hartnäckig. Dem liegen zwei Annahmen über Religion zugrunde, die im kollektiven Bewusstsein der Europäer tief verwurzelt sind, nämlich dass Religion von ihrem »Wesen« her irrational und gewalttätig sei. Ein Verständnis des säkularen Staates, das auf diesen Annahmen fußt, ist als Ausdruck eines »säkularistisch verhärteten und exklusiven Selbstverständnisses der Moderne« (Jürgen Habermas) anzusehen, das den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht angemessen gerecht werden kann

Religion und Vernunft

In der Auffassung eines säkularistisch verhärteten Moderne-Verständnisses bilden Religion und Vernunft einen unvereinbaren Gegensatz. Dies beruht auf einem verkürzten, holzschnittartigen Bild von der Aufklärung. Dieses Bild simplifiziert die äußerst vielschichtige Epoche der Aufklärung metaphorisch als eine lineare Reise »vom Dunkel ans Licht«. Im Englischen und Französischen wird diese Grundidee durch die Begriffe Enlightenment bzw. Lumières in einem Wort auf den Punkt gebracht. Gemeint ist hier, dass das »Dunkel religiöser Mythen« schließlich durch das »Licht der Vernunft« vertrieben worden sei. Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat sich in seinem Werk A Secular Age intensiv mit diesem Bild auseinandergesetzt und gezeigt, dass die darauf basierende Vorstellung von der Überlegenheit eines säkularen Welt- und Menschenbildes auf weit weniger sicherem Grund steht als weithin angenommen

Die zentrale Kritik Taylors an der Erzählung der Aufklärung als einer »Reise vom Dunkel ans Licht« betrifft deren Charakter als eine »Subtraktionsgeschichte«. Der Begriff »Subtraktion« bezieht sich hier auf die Vorstellung, dass sich die Einnahme einer säkularen Weltsicht gleichsam »automatisch« aus dem »Wegfall« von »irrigen« religiösen Vorstellungen über die menschliche Existenz ergeben hätte: Als sich der mythische Nebel der Religion »verzogen« hatte, ihr Schleier »gelüftet« und ihre Illusionen »abgelegt« worden waren, sah der Mensch endlich »klar« und nahm die soziale Realität schließlich so wahr »wie sie wirklich ist«. Diese Vorstellung macht nach Taylor das fundamentale kulturelle Selbstmissverständnis der modernen europäischen Zivilisation aus. Denn die Subtraktionserzählung wird den komplexen historischen Entstehungsgründen eines säkularen Welt- und Menschenbildes nicht angemessen gerecht. Durch den Subtraktionsgedanken gerät aus dem Blick, dass auch die Kultur der säkularen Moderne auf einer moralischen Vision, d.  h. auf bestimmten Vorstellungen von den »Quellen des Guten« beruht, aus denen eine säkulare Moral ihre motivationale Kraft bezieht. In der vormodernen christlichen Vorstellung wurden der Ursprung der Moral und die Motivation zum moralischen Handeln in Gott gesehen. In der Neuzeit konnten die alten Quellen des Guten nicht einfach ersatzlos wegfallen, denn die gesellschaftliche Ordnung war weiterhin auf eine tiefere Verankerung in einer moralischen Vision angewiesen, welche die Richtigkeit und die Geltung der Ordnung verbürgte. Die westliche Moderne setzte an die Stelle von Gott nun eine Konzeption von menschlicher Vernunft, der diese Rolle fortan zugeschrieben wurde. Gemeint war damit die Fähigkeit des Menschen, sich aus seiner unmittelbaren eigenen Perspektive lösen, auf den Standpunkt eines distanzierten Beobachters stellen und im Einklang mit der »Vernunft«, das heißt bei Immanuel Kant nach einem »universellen moralischen Gesetz« handeln zu können. Diese Vorstellung von menschlicher Vernunftbegabung sollte nun wie ehemals der Gedanke an Gott im Menschen Respekt auslösen, ihn innerlich erheben und dazu motivieren, die moralische Ordnung der Gesellschaft aufrechtzuerhalten und gemäß ihrer Grundsätze zu handeln

Dass diese neuartige moralische Vision nicht einfach eine fundamentale, universelle Wahrheit bezüglich der conditio humana darstellt, die nur »entdeckt« zu werden brauchte, sondern wir es hier mit dem Ergebnis einer komplexen Konstruktionsleistung zu tun haben, wird in der Subtraktionserzählung verkannt. Dies hat Folgen für das Selbstverständnis des säkularen Europas: Die anhaltende Religiosität der außereuropäischen Welt trotz Modernisierung bleibt in dieser Perspektive unverständlich bzw. kann nur dadurch erklärt werden, dass alle anderen Gesellschaften den Übergang zur Moderne noch immer nicht vollständig gemeistert hätten

Im Rahmen der Subtraktionslogik ist es nicht möglich, religiöse Gesellschaften außerhalb Europas bzw. religiöse Mitbürger innerhalb der europäischen Gesellschaften anders als in Begriffen eines Defizits zu beschreiben: als die Ewiggestrigen, die die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt hätten. Demgegenüber eröffnet eine Konstruktionslogik einen anderen Blick auf die säkulare europäische Moderne: Diese erscheint hier als ein spezifisches kulturelles Programm, das auf einer moralischen Vision beruht, die erst erschaffen, also konstruiert und eingeübt werden musste. Dass ein säkulares Welt- und Menschenbild bislang weitgehend auf Europa beschränkt geblieben ist, liegt aus dieser Sicht nicht an der mangelnden Modernität außereuropäischer Gesellschaften, sondern vielmehr an der kulturellen Spezifität einer rein immanenten Imagination der sozial-moralischen Existenz des Menschen

Wenn nun – entgegen der gängigen Subtraktionserzählung – anerkannt wird, dass die säkulare Moral auf einer spezifischen, neu erschaffenen moralischen Vision basiert, hat dies Implikationen für das Verständnis der Rolle der Religion in der Öffentlichkeit. Denn vor diesem Hintergrund gesehen, stehen sich dann nicht das »Dunkel religiöser Irrtümer« und das »Licht der aufgeklärten Vernunft« gegenüber, sondern schlicht zwei unterschiedliche Konzeptionen moralischer Ordnung mit ihren jeweiligen philosophischen Anthropologien. Das heißt, der Übergang zu einer säkularen Perspektive auf Fragen der sozialen und moralischen Existenz des Menschen kann nicht in der Weise als Erkenntnisfortschritt begriffen werden, wie es die Subtraktionserzählung mit dem Bild einer »Reise vom Dunkel ans Licht« suggeriert. Um dies besser zu verstehen, genügt ein einfaches Beispiel. Ein zentraler Grundsatz der modernen säkularen Moral ist, dass menschliches Leid vermieden und für das Wohlergehen des Menschen im Diesseits Sorge getragen werden soll. Es besteht ein Recht auf Leben. Doch wie begründet sich dieser moralische Imperativ genau – woher »wissen« wir, dass er Gültigkeit besitzt? Richtig verständlich wird dies nur, wenn die ihm zugrunde liegenden anthropologischen Annahmen artikuliert werden. Dabei stößt man auf Vorstellungen wie die, dass jeder Mensch, unabhängig von seinen besonderen Eigenschaften und Taten, als Individuum eine absolute Würde besitze, dass dem Menschen (z. B. gegenüber den Pflanzen und Tieren) in der Welt eine herausgehobene Stellung zukomme und dass sein Wohlergehen das höchste aller Güter sei

Doch wie erlangt der Mensch eigentlich diesen Status, durch wen oder was wird er verliehen? Die Berufung auf Gott scheidet für eine säkulare Moral aus. Stattdessen erfolgt der Verweis auf die Vernunftbegabung des Menschen. Doch der entscheidende Punkt ist, dass diese Umstrukturierung des Begründungsfundaments schwerlich als Erkenntnisfortschritt im Sinne eines Wissenszuwachses begriffen werden kann. Anders ausgedrückt: Die neuartigen Annahmen über die sozial-moralische Lage des Menschen, die säkulare Europäer seither zur Einhaltung des genannten moralischen Grundsatzes motiviert haben, lassen sich nicht analog setzen zu den seit dem 16. Jahrhundert im Zuge der wissenschaftlichen Revolution entwickelten Annahmen über die natürliche Welt, die uns heute zur Akzeptanz bestimmter physikalischer Gesetzmäßigkeiten »motivieren«. Dass der Mensch als vernunftbegabtes Wesen mit einer unantastbaren Würde ausgestattet sei, fällt als Aussage schlicht nicht in dieselbe Kategorie wie zentrale Grundaussagen der modernen Physik oder Mathematik

Eines der größten Hindernisse für die Überwindung der Subtraktionserzählung liegt darin, dass der unbestreitbare Erkenntnisfortschritt, der im Bereich der Naturwissenschaften mit dem Paradigmenwechsel hin zu einer rein immanenten Betrachtung der Natur verbunden gewesen ist, seit jeher auf den Bereich der Gesellschaft zu übertragen versucht wurde – so als könnten durch die Umstellung auf ein Nachdenken über die sozial-moralische Lage des Menschen in rein immanenten Begriffen universell gültige »moralische Gesetze« (quasi analog zu den Naturgesetzen) »entdeckt« oder »erkannt« werden. Die grundlegenden, in philosophischen Anthropologien enthaltenen Annahmen über die sozial-moralische Natur des Menschen sind im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Hypothesen jedoch nicht falsifizierbar, d. h. sie lassen sich nicht empirisch widerlegen. Dies gilt für säkulare Anthropologien genauso wie für theologische. Somit haftet nicht nur Letzteren etwas Spekulatives an. Letztlich bedarf es in beiden Fällen eines leap of faith (Glaubenssprung), um in der jeweiligen säkularen bzw. theologischen Fundierung moralischer Grundsätze ein hinreichendes Motiv für deren Einhaltung zu erkennen

Mit Blick auf die Frage nach der Rolle der Religion in der Öffentlichkeit legt dies eine Gleichbehandlung religiös und säkular begründeter moralischer Perspektiven nahe. Eine prinzipielle Vorrangstellung säkularer Perspektiven und eine Verbannung der Religion ins Private, wie sie auf Basis der subtraktionslogischen Kontrastierung von »nebulöser religiöser Spekulation« und »aufgeklärter säkularer Vernunft« plausibel erscheinen mag, ist aus dieser Sicht ungerechtfertigt. Ein prinzipieller Vorrang säkularer Ideen, Begründungsweisen und Symbole sorgt demnach nicht für eine neutrale, unparteiliche öffentliche Sphäre, sondern etabliert vielmehr eine Hegemonie der moralischen Vision des säkularen Humanismus, quasi wie im Falle einer Staatskirche, nur eben in Form eines Staatssäkularismus

Religion und Gewalt

Die zweite Annahme über Religion, welche die Vorstellung der Überlegenheit eines säkularen Welt- und Menschenbildes aufrechterhält, betrifft das Verhältnis von Religion und Gewalt. Studien haben gezeigt, dass eine deutliche Mehrheit der Menschen in den westeuropäischen Ländern der Ansicht ist, Religion sei intolerant und erzeuge Konflikte. Doch auch hier haben wir es mit einem kulturellen Narrativ zu tun. Dabei wird erneut die Sedimentierung wissenschaftlicher Theorien im Alltagsbewusstsein deutlich, denn der Gedanke, Religion erzeuge Gewalt, zieht sich seit dem 17. und 18. Jahrhundert »wie ein roter Faden durch die europäische Philosophiegeschichte«, wie der Religionswissenschaftler Hans Kippenberg bemerkt. Verantwortlich hierfür ist die theoretische Verarbeitung der Erfahrung der Religionskriege der Frühen Neuzeit durch die politische Philosophie. Hinter der Vorstellung, Religion erzeuge Gewalt und müsse daher durch einen säkularen Staat eingehegt werden, steht der Gedanke, die Europäer hätten dies aus den Religionskriegen gelernt. Dem liegt allerdings die problematische Annahme zugrunde, die Kriege der Frühen Neuzeit seien einem gewalttätigen »Wesen« der Religion entsprungen

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass durch die Rede von den »Religionskriegen« weitere wichtige Faktoren des Kriegsgeschehens in der Frühen Neuzeit aus dem Blick geraten. Daran, dass der durch die Reformation ausgelöste Konfessionskonflikt kriegstreibende Wirkungen zeitigte und von scharfer Intoleranz geprägt war, kann kein Zweifel bestehen. Doch die historische Forschung zu dieser Epoche zeigt auch, dass es sich hierbei nur um einen Ausschnitt der komplexen Gemengelage der europäischen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts handelt. Als zentraler kriegstreibender Faktor ist vor allem die zwiespältige Rolle des frühmodernen Staates bzw. der staatsbildenden politischen Instanzen hervorzuheben. Historiker weisen darauf hin, dass diese sich den konfessionellen Konflikt für den Staatsaufbau gezielt zunutze gemacht haben

Der Umbau der mittelalterlichen Ständegesellschaft in ein System moderner Staaten barg aufgrund der vielfältigen größeren und kleineren Herrschaftseinheiten und der damit einhergehenden Rivalitäten ein enormes Konfliktpotenzial. Der Historiker Johannes Burkhardt spricht daher auch von den europäischen »Staatsbildungskriegen« statt von »Religionskriegen«. In den Konfessionsstreitigkeiten sieht er den »Hauptnebenkonflikt« des frühmodernen Kriegstreibens. Die Konfessionsproblematik bildete nur einen Aspekt eines ganzen Konglomerats an Konfliktfaktoren. Neben der zentralen Staatsbildungsproblematik ergaben sich auch durch das Streben nach ökonomischer Bereicherung, durch Rivalitäten bezüglich der Erbfolge angesichts der noch dynastisch verfassten politischen Gebilde, durch die Existenz von Söldnerheeren sowie schlicht durch Ruhm- und Rachsucht zahlreiche Motive für Krieg. Das Kriegsgeschehen der Frühen Neuzeit allein auf den Faktor Religion zu reduzieren, ist also viel zu simpel

Weiter ist es problematisch, den frühneuzeitlichen Konfessionskonflikt als Orientierung in der Frage des Umgangs mit Religion in heutigen modernen Gesellschaften heranzuziehen. Denn diese Herangehensweise basiert auf der essenzialistischen Abstraktion eines statischen »Wesenskerns« von Religion, der vermeintlich allerorts und allezeit dieselben zerstörerischen Dynamiken entfaltet. Dem ist die historisch und empirisch beobachtbare Pluralität religiöser Traditionen, Strömungen und Gruppierungen entgegenzuhalten, die sich in ihrer Vielschichtigkeit nicht einseitig mit der Förderung von Gewalt in Beziehung setzen lässt. So weist der Friedens- und Konfliktforscher Andreas Hasenclever darauf hin, dass aus religiösen Gemeinschaften historisch gesehen auch immer wieder Bewegungen hervorgingen, die sich auf Basis ihrer Traditionen gewaltfrei für Freiheit und Gerechtigkeit engagiert haben. Man kann hier exemplarisch an Martin Luther King oder Mahatma Gandhi denken, aber auch an religiös motivierte Widerstandsgruppen unter der nationalsozialistischen bzw. kommunistischen Herrschaft

Der Religionssoziologe Hans Joas hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Religionen an sich nicht als handelnde Entitäten aufgefasst werden können: Es sind immer Menschen, die handeln. Und die wichtigste Lektion in Bezug auf menschliches Handelns ist die Einsicht in dessen Kontingenz – das heißt, eine (gewalttätige) Handlung ist immer möglich, aber niemals notwendig. Menschen können immer auch anders handeln. Dies zeigt sich an Situationen, in denen verschiedene Menschen denselben Bedingungen ausgesetzt sind und doch unterschiedlich handeln. Die Bürgerkriege der Frühen Neuzeit können hierfür als Beispiel dienen, denn auch hier war Gewalt keinesfalls die einzig mögliche Reaktion auf die konfessionelle Differenz: Während die einen Protestanten auf die ihnen entgegengebrachte Intoleranz und Verfolgung mit Gegengewalt reagierten, wählten andere – ebenfalls aus religiösen Motiven – einen gewaltlosen, quietistischen Weg: Sie waren der Ansicht »that the correct response for Lutherans was to suffer in silence«, wie der Historiker Peter H. Wilson festhält

Dies führt uns die Vielschichtigkeit und Ambiguität religiöser Sinnsysteme vor Augen: Wir haben es mit komplexen semantischen Strukturen zu tun, die von Menschen in unterschiedlicher Weise selektiert, interpretiert und in Handlungen übersetzt werden können. Gerade die sogenannten »Buchreligionen« sind als »Lesereligionen« immer zugleich »Lesartenreligionen«, wie es der Historiker Matthias Pohlig ausdrückt. Weiter gilt es mit Joas zu bedenken, dass unsere Handlungen stets durch einen Mix verschiedenster Faktoren unserer Identität motiviert sind. Als Menschen sind wir Wesen mit vielfältigen körperlichen, seelischen und sozialen Bindungen und Bedürfnissen. Wir besitzen ganz bestimmte Erfahrungen und ein spezifisches persönliches Temperament. So sind gläubige Menschen nicht nur religiöse Subjekte, sondern zugleich auch Arbeitnehmerinnen, Väter, Ehefrauen, Wähler, Freundinnen, Patienten etc., deren Handlungen sich nie aus ihren religiösen Überzeugungen allein erklären lassen. So muss die Annahme eines »wesensbedingten« Zusammenhangs zwischen Religion und Gewalt als unplausibel zurückgewiesen werden, wodurch auch von dieser Warte die gleichberechtigte Inklusion religiöser Akteure in die Öffentlichkeit naheliegt

Der säkulare Staat in Europa

Der säkulare Staat soll das Verhältnis von Staat und Religion in einer Art und Weise regeln, die ein friedliches und demokratisches Zusammenleben ermöglicht. Es ist davon auszugehen, dass eine Konzeption des säkularen Staates, die auf einem säkularistisch verhärteten, gegenüber Religionen exklusiven Selbstverständnis der Moderne beruht, diesem Ziel im 21. Jahrhundert nicht angemessen gerecht werden kann. Es ist allerdings sogleich anzufügen, dass die europäischen Staaten ohnehin viel weniger säkular sind als gemeinhin wahrgenommen wird. Wie der Politikwissenschaftler Alfred Stepan hervorgehoben hat, zeigt die Betrachtung der Staat-Kirche-Verhältnisse im heutigen Europa vor allem eines: Eine strikte Trennung ist keine notwendige Voraussetzung für Religionsfreiheit und Demokratie. Es genügt eine minimale wechselseitige Autonomie staatlicher und religiöser Institutionen. Stepan nennt dies die »twin tolerations«. Zudem wird am Beispiel des laizistischen Frankreich ersichtlich, dass das Streben nach einer strikten Trennung keineswegs einen Garanten für ein demokratisches und friedliches Zusammenleben darstellt – eher im Gegenteil, wenn man an die dort besonders stark ausgeprägten Konflikte mit der muslimischen Minderheit denkt. Diese haben jedoch auch etwas mit der asymmetrischen Ausgestaltung des zunehmend aggressiven Laizismus zu tun, die daran deutlich wird, dass die in dessen Namen erlassenen Verschleierungsverbote speziell auf islamische Praktiken gemünzt sind

Der Hinweis auf die islamfeindliche Schlagseite der französischen Version des säkularen Staates soll jedoch nicht implizieren, dass ein »gleichmäßig exklusiver« Laizismus die Lösung für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts darstellt. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Diskussion erscheint vielmehr eine gegenüber Religion inklusive Form von säkularem Staat erstrebenswert. Der demokratische Grundsatz der gleichen Freiheit aller Bürger und das Kernprinzip der weltanschaulichen Neutralität und Unparteilichkeit des säkularen Staates können unter den Bedingungen von religiöser Vielfalt nur bedeuten, dass allen Bürgern mit ihren jeweiligen religiösen oder säkularen Grundüberzeugungen das gleiche Recht auf Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten zusteht. Dies soll abschließend anhand von zwei Beispielen – dem Gebrauch religiös fundierter moralischer Argumente in öffentlichen Debatten und dem Tragen religiös konnotierter Kleidungsstücke – illustriert werden

Da, wie aufgezeigt, säkular fundierten Welt- und Menschenbildern keine grundsätzliche Überlegenheit zugeschrieben werden kann, sollte die Akzeptabilität von moralischen Argumenten in öffentlichen Debatten nicht formal anhand von deren religiösem oder säkularem Charakter bemessen werden, sondern allein anhand ihrer Kompatibilität mit den Werten und Prinzipien der geltenden moralisch-politischen Grundordnung. Das Kernkonzept eines auf diesem Gedanken basierenden säkularen Staates ist ein »übergreifender Konsens« über liberal-demokratische Werte, deren tiefere Begründung sich aus unterschiedlichen »Quellen des Guten« speisen kann. Im Anschluss an Charles Taylor lässt sich dies am Beispiel des Grundsatzes einer unantastbaren menschlichen Würde und den daraus abgeleiteten Freiheitsrechten illustrieren. Diese können vom Standpunkt eines an Kant orientierten säkularen Humanismus durch den Verweis auf die Vernunftbegabung des Menschen gerechtfertigt werden, von einem christlichen, jüdischen oder islamischen Standpunkt kann auf den Gedanken vom Menschen als Geschöpf Gottes rekurriert werden, und aus einer buddhistischen Perspektive könnte etwa auf ahimsa, ein Prinzip der Gewaltlosigkeit, als Begründung Bezug genommen werden. Aufgrund der Diversität der Bezugspunkte ergeben sich mit Blick auf die konkrete Interpretation und Gewichtung der geteilten Werte und Prinzipien selbstverständlich Unterschiede, doch dies ist in einer pluralistischen Gesellschaft unvermeidlich. Für die Bürger bedeutet dies, dass sie gefordert sind, die ihnen in der Demokratie ohnehin abverlangte Bereitschaft, mit anhaltendem Dissens zu leben, Konflikte mit politischen Mitteln auszutragen und Kompromisse zu schließen, auch unter den Bedingungen wachsender religiöser Differenzen konsequent zu pflegen. Dies sind die unumgänglichen Zumutungen einer freiheitlichen Gesellschaft, die von religiösen und säkularen Bürgern gleichermaßen akzeptiert werden müssen

Mit Blick auf die Teilhabe an öffentlichen Belangen im Zusammenhang mit religiös konnotierten Kleidungsstücken ist zunächst der Begriff der Öffentlichkeit zu differenzieren. So muss zwischen einem weiten und einem engen Begriff von Öffentlichkeit unterschieden werden, und mit Blick auf letzteren wiederum zwischen einer aktiven und einer passiven öffentlichen Rolle. Unter den weiten Öffentlichkeitsbegriff lassen sich alle Aufenthaltsorte fassen, die sich außerhalb privater Grundstücke und Räumlichkeiten befinden, wie etwa öffentliche Straßen, Parks, Plätze, Gebäude, Verkehrsmittel etc. Hier das Tragen religiöser Kleidungsstücke zu verbieten, wie im Fall des französischen Burka-Verbots, stellt eine massive Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte dar. Unter den engen Öffentlichkeitsbegriff fallen staatliche oder staatlich geführte Institutionen, wie etwa öffentliche Schulen und Behörden sowie Gerichte, Ministerien oder das Parlament. Hier ist zu differenzieren, ob eine Person innerhalb dieser Institutionen »passiv«, d. h. als einfache Bürgerin, agiert oder »aktiv«, d. h. als Bedienstete und somit auch offizielle Repräsentantin des Staates. Wenn wie in Frankreich jungen Frauen das Tragen eines Kopftuchs im Schulunterricht, den sie unter der geltenden Schulpflicht besuchen müssen, verboten wird, ist dies ebenfalls als erheblicher Eingriff in die Religionsfreiheit und die Freiheit zur persönlichen Entfaltung der Schülerinnen zu werten. Erst eine aktive Rolle im Staatsdienst wirft die Frage nach einem Konflikt zwischen dem Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates und dem Recht auf Religionsfreiheit überhaupt auf. Dieser erweist sich allerdings als Scheinkonflikt, wenn Staatsbedienstete nicht anhand ihres äußeren Erscheinungsbilds, sondern anhand ihrer Handlungen beurteilt werden. Ob eine Lehrerin oder eine Richterin dem Gebot der Unparteilichkeit nachkommt und den Staatszielen Rechnung trägt, kann verlässlich nur anhand ihrer Handlungsweise beurteilt werden, nicht anhand ihres religiös oder säkular anmutenden Kleidungsstils. Ein generelles Verbot religiös konnotierter Kleidung im Staatsdienst zwingt Menschen, für die es zu ihrem Glauben gehört, diesem symbolisch Ausdruck zu verleihen, zur Verleugnung eines wichtigen Teils ihrer Identität, und bewirkt so faktisch einen ungleichen Zugang zu Berufen im öffentlichen Dienst

Das größte Unbehagen bereitet den Europäern sicherlich die Vorstellung von einer Lehrerin oder einer Richterin mit Burka bzw. Nikab. Ein prinzipielles Argument, das ein Verbot von Vollverschleierung im Staatsdienst eindeutig rechtfertigen würde, gibt es nicht, denn auch hier gilt, dass solche Staatsdienerinnen im Endeffekt nur anhand ihrer Handlungen beurteilt werden könnten. Man könnte an dieser Stelle nur auf das kulturelle Argument zurückgreifen, dass die volle Sichtbarkeit des Gesichts in der europäischen Kultur einen derart hohen symbolischen Stellenwert besitzt, dass dessen Verschleierung im Staatsdienst eine unzumutbare Irritation darstellen würde. Der Unmut besonders über den Gesichtsschleier ist darauf zurückzuführen, dass das Gesicht bzw. seine Sichtbarkeit in der sozial-moralischen Vorstellungswelt westlicher Gesellschaften normativ aufgeladen ist. Die Verdeckung des Gesichts wird hier mit Unaufrichtigkeit, Feigheit, feindlicher Absonderung oder auch Unfreiheit assoziiert. Kein Zufall ist daher der Name »Gesicht zeigen!« für einen deutschen Verein, der sich für eine Haltung der Offenheit und Zivilcourage einsetzt. Ein unbedecktes Gesicht kann als integraler Bestandteil des symbolischen Repertoires liberaler Demokratien westlicher Prägung begriffen werden, was gerade in stark repräsentativen Schlüsselfunktionen des Staatsdienstes ein Verschleierungsverbot rechtfertigen mag. Eine solche Regelung auch auf die gesamte Öffentlichkeit im weiten Sinne auszudehnen, wie im Falle des französischen Burka-Verbots, ist allerdings als eine »säkularistische Überverallgemeinerung« (Habermas) zu werten, die übers Ziel hinauszuschießen und Freiheitspotenziale eher zu begrenzen droht als ihnen zur Entfaltung zu verhelfen

Wollen die europäischen Gesellschaften auf das Erbe des säkularen Staates zurückgreifen, um der wachsenden religiösen Pluralität und den damit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen angemessen zu begegnen, dürfen sie dabei kein säkularistisch verhärtetes Verständnis der Moderne zugrunde legen. Vielmehr müssen tief verwurzelte Vorurteile über Religion und vermeintliche Gewissheiten bezüglich der Überlegenheit eines säkularen Welt- und Menschenbildes kritisch reflektiert werden. Die Ausbildung eines solchen »post-säkularen Bewusstseins« stellt die eigentliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts dar, denn wie Habermas treffend feststellt, setzt dies »eine Mentalität voraus, die in den säkularisierten Gesellschaften des Westens alles andere als selbstverständlich ist«

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