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Der ost-westliche Wahn Religion und Populismus

Auf welche Erkenntnisse sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan stützte, als er im November 2016 behauptete, Deutschland »sei ein wichtiger Hafen für Terroristen geworden«, wird sich im Detail schwer ermitteln lassen. Überliefert hingegen ist, dass Deutschland in Gestalt des Deutschen Reiches vor über einem Jahrhundert den Kalifen Mehmet V. zur Ausrufung des Dschihad gegen die Entente-Mächte gedrängt hat und bei Wünsdorf (südlich von Berlin) eine arabisch- und tartarischsprachige Zeitschrift unter dem Titel al-Ğihād herausgeben ließ.

Beim damals als »Dschihad made in Germany« verspotteten Mobilisierungsversuch handelt es sich um zwei skurrile Beispiele einer wechselvollen Beziehung, die der Islamwissenschaftler und Jurist Mathias Rohe in seinem Band Der Islam in Deutschland zusammengefasst hat. Erste punktuelle Kontakte mit Muslimen habe es schon unter Karl dem Großen gegeben, doch erst die Kreuzzüge und die osmanische Expansion hätten einen intensiven Wirtschafts- und Kulturtransfer ausgelöst. Tief verwurzelte Vorurteile gegen die »Ungläubigen« auf der jeweils anderen Seite finden sich in dieser Geschichte ebenso wie ein Saladin, der solche Ressentiments zu durchbrechen wusste.

Während Rohes Langzeitbetrachtung Valeriu Marcus Diktum bestätigt, dass man in der Geschichte alles und auch das Gegenteil erlebe, spitzt der Titel Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa die Perspektive erst zu, um sie dann vom Brennpunkt Frankreich auf den ganzen Kontinent auszudehnen. Die Autoren Gilles Kepel, Soziologe und Arabist, und Antoine Jardin, Kenner der quartiers populaires, der Armenviertel, stützen sich dabei auf die Analyse von Soziotopen, die die französischen Banlieues zu Brennpunkten gemacht haben, während sie den Bürgern der ehemaligen Ostblockstaaten nur aus den Medien bekannt sind.

Gerade dort aber sind die Vorbehalte gegen muslimische Flüchtlinge am größten, und es ist durchaus verständlich, dass man sich ähnliche Probleme erst gar nicht ins Land holen will. »Paris is burning« hätten die Schlagzeilen einiger amerikanischer Zeitungen gelautet, als es 2005 in dessen Banlieue zu Straßenschlachten kam, schreiben Kepel und Jardin. Auslöser sei zunächst der Tod zweier Jugendlicher gewesen, die auf der Flucht vor der Polizei in einem Trafohäuschen an Stromschlägen gestorben waren. Weit stärker aber sei die Wut durch eine Tränengasgranate entfacht worden, die eigentlich der Abwehr von Steinewerfern hätte dienen sollen, doch irrtümlich vor dem Eingang einer Moschee gelandet sei: »Das Bild von den Gläubigen, die nach Atem rangen und in Panik gerieten, gab den nachlassenden Krawallen neuen Auftrieb, sodass sie in wenigen Tagen auf die meisten Vorstädte mit Problemvierteln übergriffen.«

Ein weiteres Beispiel für die mobilisierende Macht solcher Tatarenmeldungen seien die Mohammed-Karikaturen gewesen, die die dänische Zeitung Jyllands-Posten am 30. September 2005 veröffentlichte hatte. Die Autoren verweisen dankenswerterweise auf den konkreten Anlass zu dieser Publikation. Sie sei eine Antwort auf den Schock gewesen, den die Ermordung des niederländischen Filmregisseurs Theo van Gogh durch einen fanatischen Muslim am 2. November 2004 ausgelöst habe. Zudem sei der Streit um die Beleidigung Mohammeds »in vielerlei Hinsicht ein remake« der durch die Fatwa des Ayatollah Chomeini vom 14. Februar 1989 gegen den britischen Schriftsteller Salman Rushdie ausgelösten Kampagne gewesen.

Jene Fatwa war von einem religiösen Führer ausgesprochen, die anstößigen Karikaturen seien laut Kepel und Jardin von dänischen Islamisten verbreitet worden. Für die Vermittlung der Falschmeldungen über die angebliche Moschee-Attacke aber genügten bereits die digitalen Kommunikationsnetzwerke. Ein Jahrzehnt später habe der IS dann im Internet schon Strukturen entwickelt, die nicht nur der Selbstorganisation dessen dienten, was der palästinensische Schriftsteller und Journalist Abdel Bari Atwan im Titel seines Buches als Das digitale Kalifat bezeichnet. Aus ihnen heraus werde auch ein »Cyber-Dschihad« geführt, zu dessen Mitteln direkte Hackerattacken, aber auch die Propaganda durch jene Netzwerke zählen, die oft fälschlich »sozial« genannt werden. Bei wie vielen Attentätern der letzten Jahre es sich um menschliche Drohnen gehandelt hat, die über solche Verbindungen ferngesteuert wurden, ist schwer zu sagen.

Die Eile, mit der der IS solche Attentate für sich reklamiert, ließe sich auch damit erklären, dass dessen Strategie weniger auf direkte Lenkung als auf die Propagierung von Vorbildern abzielt, denen »einsame Wölfe« dann aus Eigeninitiative folgten. Doch direkte und indirekte Lenkung müssen sich ja nicht ausschließen und können einander durchaus ergänzen, was die Frage noch brennender macht, warum der Islamismus gerade die Unfrommen anzuziehen vermag.

Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt vom 19. Dezember 2016 wurde von dem als gewalttätig bekannten Kriminellen Anis Amri verübt, vor dessen Kontakten zum IS der marokkanische Geheimdienst das Bundeskriminalamt in den Monaten davor wiederholt gewarnt hatte. Der Nizza-Attentäter Mohamed Salmene Lahouaiej-Bouhlel hatte eine ähnliche kriminelle Vorgeschichte und war wie Amri nach Aussagen seiner Verwandten durchaus kein frommer Zeitgenosse.

So wie laut Samuel Johnson, dem englischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts, der Patriotismus die letzte Zuflucht eines Schurken ist, so ist auch das Bekenntnis zu einer Religion oder Weltanschauung nicht immer ein Ausdruck wahren Glaubens. Wer im Schulleben, in Beruf und Ehe gescheitert ist und in einem Armenviertel lebt, aber auch wer allgemein unzufrieden ist, ist für jede Erklärung dankbar, die sein Elend nicht seinem persönlichen Versagen zuschreibt, sondern seiner Diskriminierung durch eine höhere Instanz.

Das Doppelgesicht des Populismus

Ob patriotischer Europäer oder halbstarker Islamist – die Beispiele zeigen, wie Religion und Patriotismus gleichermaßen zu Tarnnetzen werden können, unter denen man persönliche, regionale oder soziale Probleme verbergen und die Schuld daran delegieren kann. So kann die Analyse der Sprache des Terrors, die der französische Philosoph Philippe-Joseph Salazar anhand der Rhetorik des IS in seinem gleichnamigen Buch demonstriert, auch ein Licht darauf werfen, wie sehr sich die Methoden ähneln. Die Rhetorik des Dschihadismus folge vier universellen Charakteristika des Populismus: Zunächst einmal gebe es die »Behauptung vom wahren Volk«. Zweitens werde die Klassengesellschaft abgelehnt und dazu das »beliebte Thema des Verrats durch die Eliten« bemüht. Das dritte Charakteristikum sei, »den anderen zu benennen: Er ist der Feind«. Das vierte sei es, seine vermeintliche »Ausgrenzung« als identitätsstiftend zu propagieren: »Die neuen ›Verdammten dieser Erde‹ erheben die Häupter, sie behaupten, eine verdorbene, korrumpierte Welt habe sie ausgeschlossen, und deshalb sei es an der Zeit, dass sich die Ausgegrenzten zu einer furchteinflößenden Macht zusammenschlössen.«

Rhetorische Komplementarität

Parolen wie »Wir sind das Volk« und »Volksverräter« passen in dieses Schema. Islamistische Bedroher und deren Bekämpfer erscheinen zumindest rhetorisch komplementär, doch auch beim Übergang in die Praxis ist die Ähnlichkeit augenfällig: »Der Populismus stützt sich auf eine Gruppe, die erst im Entstehen ist, und er handelt spontan. Die Theorie des Populismus behauptet sogar, ›das Volk‹ nehme erst in dieser doppelten Bindung seine wahre Gestalt an«, schreibt Salazar.

So wie sich die konkrete Bedrohung durch islamistischen Terror nicht mit starken Worten rhetorisch bekämpfen lässt, so lässt sich auch populistische Rhetorik nicht durch eine politische bekämpfen, weil erstere die Kräfte des Irrationalen – Ängste, Ressentiments, Sehnsüchte, Hoffnungen – völlig ungehemmt mobilisiert, während seriöse Politik sich in den Grenzen des Machbaren bewegen muss.

Dabei befindet sie sich derzeit in einer Zwickmühle aus akuten Problemen, die sich bestenfalls langfristig lösen lassen. Armuts- und Kriegsemigration sowie der Klimawandel sind zudem globale Probleme, die sich national überhaupt nicht lösen lassen. Doch je engagierter Deutschland an deren Lösung mitgearbeitet hat, desto mehr ist bei vielen Bürgern der Eindruck gewachsen, dass sich die Politik um alles, aber nicht um sie kümmere. Dabei ist die Lage hierzulande noch vergleichsweise ruhig.

Der Brexit und Donald Trumps »America first«, das sich nun zuallererst gegen Mexikaner und Muslime gerichtet hat, wirken vor diesem Hintergrund wie eine trotzige Mischung aus purem Populismus und der Hoffnung, dass eine Splendid Isolation in Zeiten der Globalisierung möglich sei. Möglich war sie für Amerika zeitweilig, weil die USA durch Größe und Geografie privilegiert waren, doch selbst ein Erfolg wäre für die Staaten Europas und insbesondere für Deutschland in seiner Mittellage kein Vorbild.

Vielmehr steht die Politik hier vor der Aufgabe, Bürger und auch Zuwanderer davon zu überzeugen, dass sie sozial ist, dass Fragen der globalen Umwelt- und Flüchtlingspolitik ebenso tatkräftig zum Wohl der Menschen im Land behandelt werden wie die der nationalen Fiskal- und Sozialpolitik. Um dies zu erreichen, muss sie sich auch von jener multikulturellen Pseudo-Toleranz verabschieden, die erheblich zu dem Eindruck beigetragen hat, dass Partikularinteressen wichtiger seien als das Gemeinwohl. Nur wo sich niemand benachteiligt fühlt, kann jeder nach seiner Fasson selig werden.

Abdel Bari Atwan: Das digitale Kalifat. Die geheime Macht des Islamischen Staates. C.H.Beck München 2016, 299 S., 16,95 €. – Gilles Kepel mit Antoine Jardin: Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa. Antje Kunstmann, München 2016, 304 S., 24 €. – Mathias Rohe: Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme. C.H.Beck, München 2016, 416 S.,16,95 €. – Philippe-Joseph Salazar: Die Sprache des Terrors. Warum wir die Propaganda des IS verstehen müssen, um ihn bekämpfen zu können. Pantheon, München 2016, 224 S., 14,99 €.

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