Der Wettbewerb zwischen den Großmächten erschüttert die internationale Ordnung und organisiert die Weltwirtschaft neu. Daraus ergeben sich Chancen und Risiken für die Sozialdemokratie.
Der Global Süden profitiert von der wirtschaftlichen Dynamik Chinas. Vor allem im Indo-Pazifik investiert China kräftig in Handel, Konnektivität und Lieferketten. Zugleich hoffen die Nachbarn, von den »China plus Eins«-Diversifizierungsstrategien der Westmächte und ihrer regionalen Verbündeten zu profitieren. Wem es gelingt, die geopolitischen Fallstricke zu vermeiden, kann die eigenen Entwicklungschancen verbessern.
Die geoökonomische Disruption der Weltwirtschaft könnte jedoch das Entwicklungsmodell, auf das vor allem die Asiaten so erfolgreich gesetzt hatten, obsolet machen. In den letzten fünf Jahren haben immer wieder Entwicklungsländer den komparativen Vorteil billiger Arbeitskräfte genutzt, um ausländische Investitionen anzuziehen; haben ihre Exporte angekurbelt, um hohe Wachstumsraten zu erzielen und sind mit dem Ziel aufholender Industrialisierung die globalen Wertschöpfungsketten hinaufgeklettert. Doch jetzt untergraben Roboter und Algorithmen in den alten Industrieländern den komparativen Vorteil niedriger Löhne in den Entwicklungsmärkten.
»Der geopolitische Wettbewerb prägt den Blick der Kontrahenten auf die Entwicklungsländer.«
Nach der COVID-19-Pandemie haben Unternehmen damit begonnen, ihre Widerstandsfähigkeit gegen externe Schocks (Resilienz) zu steigern, indem sie ihre Lieferketten näher an ihren Heimatmärkten (near-shoring) ansiedeln. Die digitale Automatisierung kann es sogar rentabel machen, wieder in Hochlohnländern zu produzieren (re-shoring). Sorgen über geopolitische Verwundbarkeiten lenken zudem Investitionen in Länder um, die als Wertepartner gelten (friend-shoring). Der geopolitische Wettbewerb prägt den Blick der Kontrahenten auf die Entwicklungsländer: Entscheiden sich Länder für »unsere Seite«, dürfen sie auf Investitionsströme hoffen, entscheiden sie sich für die »falsche Seite«, müssen sie fürchten, aus den globalen Lieferketten verbannt zu werden. Zugleich droht die Politisierung von Marktzugängen (»wer unseren politischen Vorgaben folgt, ist willkommen; wer nicht, muss gehen«) die Exportmotoren zum Stottern zu bringen.
Die geopolitisch motivierten Exportkontrollen für Hochtechnologien wirken in den Entwicklungsländern als Hemmschuh für die nachholende Industrialisierung. Eskaliert der strategische Wettbewerb zwischen China und den Vereinigten Staaten weiter, müssen sich Unternehmen beziehungsweise ganze Länder zwischen konkurrierenden Märkten, Infrastrukturinvestitionen und Technologiewelten entscheiden. Am Ende dieser Entwicklung könnten bipolare Blöcke entstehen, die zu Wohlstandsverlusten für alle Länder führen, aber vor allem die Entwicklungschancen des Globalen Südens empfindlich beeinträchtigen würden.
Nicht umsonst vollziehen die kleineren Mächte Asiens gerade delikate Balanceakte, um diese Risiken abzufedern. Gelingt die Anpassung der Entwicklungsmodelle, können kurzfristige Wachstumsdellen langfristig kompensiert werden. Mittelfristig dürfte jedoch in vielen Entwicklungsländern der Wirtschaftsmotor ins Stocken geraten – mit erheblichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen.
Wie verletzlich Entwicklungsländer gegenüber wirtschaftlichen Verwerfungen sind, hat der durch Pandemie und Ukrainekrieg verursachte Wachstumseinbruch eindrücklich gezeigt. Die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen hat weltweit Millionen Menschen zurück in die Armut geworfen. Schrumpft die Wirtschaft, entbrennen Verteilungskämpfe um das eigene Stück vom Kuchen. Aus einer Win-win-Situation wird eine »Wir-gegen-die«-Nullsummen-Logik.
Autoritärer Chauvinismus: Weg in die Barbarei
Kulturell aufgeladene Stammeskämpfe sind jedoch das ideale Spielfeld für chauvinistische Identitätspolitik. »Die Anderen« als Schreckgespenst zu zeichnen hilft völkischen Autokraten bei der Gewinnung und Erhaltung der Macht. Aber das Schüren von Ressentiments zwischen identitären Gruppen kann schnell in Gewalt umschlagen. In der jüngeren Geschichte finden sich Dutzende Beispiele dafür, dass autoritäre Chauvinisten nicht einmal vor Pogromen gegen Minderheiten zurückschrecken, wenn dies ihren politischen Zwecken dient.
In multiethnischen und multireligiösen Ländern löst der Chauvinismus der Mehrheit Sezessionsbewegungen aus, die zu Bürgerkriegen eskalieren können. Sezessionistische Gewalt wiederum ermöglicht es Autokraten, legitime politische Forderungen als Bedrohung der nationalen Sicherheit zu interpretieren, und so den Sicherheitsapparat des Staates unter ihre Kontrolle zu bringen. Für die identitäre Linke sollte dies eine Warnung sein: Wenn der Diskurs auf die kulturellen Unterschiede zwischen Gruppen verengt wird, werden immer diejenigen, die die Mehrheitsgruppe mobilisieren können, die Nase vorne haben – mit verheerenden Auswirkungen für verwundbare Minderheiten und oft mit fatalen Folgen für die Demokratie. Zugespitzt: Bestimmen Stammeslogiken nach dem Prinzip »Wir gegen sie« die politische Dynamik, dann gewinnt immer die chauvinistische Rechte.
»Um ein Abgleiten in einen autoritären Chauvinismus zu verhindern, müssen Sozialdemokraten am demokratischen Universalismus festhalten.«
Insbesondere multiethnische Gesellschaften und fragile Demokratien sind also in Gefahr. Um ein Abgleiten in einen autoritären Chauvinismus zu verhindern, müssen Sozialdemokraten ohne Wenn und Aber am demokratischen Universalismus festhalten. Im Gegensatz zum Ansatz der identitären Linken, »Privilegien für meinen Stamm« zu sichern, bedeutet demokratischer Universalismus für gleiche Rechte für alle zu kämpfen. Statt an die chauvinistischen Instinkte muss die Sozialdemokratie an die gemeinsame Menschlichkeit aller appellieren. Anstelle einer Politik der Spaltung und der Stammeskonflikte muss sie den sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Volksgruppen fördern. Im Gegensatz zum völkischen Nationalismus ermöglicht ein progressiver Patriotismus eine positive Identifizierung mit einer sozialen Demokratie, die allen Bürger*Innen gleiche Chancen gibt.
Um wirtschaftliche Verwerfungen zu vermeiden, müssen die Länder des Globalen Südens ihre Entwicklungsmodelle an die sich rapide verändernden Rahmenbedingungen anpassen. Dies ist eine ebenso große intellektuelle wie politische Herausforderung. Da jeder Wandel unweigerlich Gewinner und Verlierer hervorbringt, widersetzen sich die Profiteure des Status quo meist der Neuausrichtung des Entwicklungspfads. Umsichtige Sozialdemokraten müssen verhindern, dass die gesellschaftliche Linke in die Transformationsfalle tappt. Denn das avantgardistische Motto der Silicon-Valley-Disruptoren »Move fast and break things« ist für den klimaneutralen oder emanzipatorischen Umbau von Gesellschaften ungeeignet, weil dieses »Augen zu und durch« blind ist für die sozialen Kosten, und daher von der Heftigkeit der politischen Gegenwehr überrascht wird.
Deswegen hat sich der – moralisch lobenswerte – Aktivismus des radikalen Flügels vieler progressiver Bewegungen als politisch fatal erwiesen. Anstatt den erhofften Umbau der Gesellschaft herbeizuführen, verprellt er Verbündete in der politischen Mitte, und treibt die Verunsicherten in die Arme seiner ideologischen Gegner. Im besten Fall führt das zu einer politischen Pattsituation, in der die Gesellschaft als Ganzes in der Stagnation verharrt; im schlimmsten Fall kann der reaktionäre Gegenangriff sogar dazu führen, dass über Jahrzehnte erkämpfte Fortschritte zunichte gemacht werden.
»Den potenziellen Verlierern des Umbaus müssen neue Perspektiven eröffnet werden.«
Im Gegensatz dazu muss die Sozialdemokratie die verschiedenen Milieus der Gesellschaft zu einem breiten transformativen Bündnis zusammenführen. Die Profiteure des Status quo werden dafür kaum zu gewinnen sein. Der soziale Kompromiss mit den Transformationsskeptikern hat eine materielle Dimension: Den potenziellen Verlierern des Umbaus müssen neue Perspektiven eröffnet werden; gelingt das nicht schnell genug, sollten sie entschädigt werden. Aber nicht minder wichtig ist die kulturelle Komponente: Statt Umerziehung von der Kanzel herab braucht es Respekt für die Lebensstile und Lebensleistungen aller Bürger*innen.
Chancen für eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik
Weltweit schafft der geopolitische Wettbewerb zwischen den USA und China ein grundlegend anderes wirtschaftliches Umfeld. Mit der Rückkehr des Primats der Sicherheit in die Wirtschaftsführung, die sich in der geopolitisch motivierten Rückkehr von Industriepolitik, Export- und Investitionskontrollen sowie Handels-, Technologie- und Währungskriegen ausdrückt, ist die Ära der neoliberalen Globalisierung vorbei. Sowohl China mit seiner Dualen Kreislaufwirtschaft als auch die Vereinigten Staaten mit ihrem Inflation Reduction Act haben ihre Wirtschaftspolitik umgedreht. Chinas Ansatz zeigt, dass die Entscheidungsträger in Peking klar verstanden haben, dass die Werkbank der Welt angesichts des geopolitischen Gegenwinds ihre übermäßige Abhängigkeit vom Export durch eine stärkere Konzentration auf die Inlandsnachfrage abmildern muss.
»Im innersten Kern des strategischen Wettbewerbs gewinnt der (Sicherheits-)Staat wieder die Vorherrschaft über den Markt.«
Und der Versuch der USA, wichtige Industrien nach Amerika zurückzuholen, läutet das Ende der Offshoring Globalisierung ein. Wer Zweifel an der Durchschlagskraft dieses Kurswechsels hat, sei auf die breite Ablehnung des Angebots des chinesischen Konzerns Huawei zur Bereitstellung der 5G-Kommunikationsinfrastruktur, und die Abkopplung der Halbleiterindustrien der Chip4-Alliierten Südkorea, Taiwan und Niederlande vom chinesischen Markt verwiesen; in beiden Fällen dürfte der geopolitisch motivierte Druck Washingtons die Interessen der Privatwirtschaft übertrumpft haben. Das heißt, im innersten Kern des strategischen Wettbewerbs gewinnt der (Sicherheits-)Staat wieder die Vorherrschaft über den Markt. Dementsprechend folgt die Weltwirtschaft nicht mehr der Logik der Kosteneffizienz, sondern strebt nach größerer Widerstandsfähigkeit und wirtschaftlicher Sicherheit. Wer diesen Paradigmenwechsel verschläft, riskiert auf der Strecke zu bleiben.
Nach 40 Jahren neoliberaler Angebotsökonomie ist die Notwendigkeit, die Gesamtnachfrage – also den öffentlichen Konsum und die öffentlichen Investitionen – sowie die private Konsumnachfrage zu stützen, wieder da. Dies öffnet die Tür für eine nachfrageorientierte, fordistische Lohnpolitik, die Geld in die Taschen der Verbraucher spült. Arbeit, die jahrzehntelang als Ware ausgebeutet wurde, kann zu einem strategischen Vermögenswert werden.
Die geopolitische Notwendigkeit, kritische Industrien wiederherzustellen und die Kontrolle über privaten Technologietransfer und Investitionen zu erlangen, stärkt die Rolle des Staates bei der wirtschaftlichen Sicherheit. Der Keynesianismus, der lange auf die Rolle des Retters der letzten Instanz im Falle einer Finanzkrise beschränkt war, wird mit seinem Schwerpunkt auf nachfrageorientiertem Wachstum und antizyklischen Makropolitiken wieder in den Mittelpunkt rücken. Nach dem Ende des Neoliberalismus hat das längst vergessene Wirtschaftsmodell der Sozialdemokratie große Chancen, zum Paradigma für die Zeit nach der Globalisierung zu werden.
Demokratischer Sozialismus oder Barbarei
Der Globale Süden steht also vor einem historischen Scheideweg. Ein Weg, der autoritäre Chauvinismus, könnte das soziale Gefüge gewaltsam zerstören und autokratische Herrschaftsstrukturen auf Jahrzehnte verhärten. Der andere Weg, der demokratische Universalismus, wahrt den sozialen Frieden, und damit die Voraussetzung für jeden Versuch, einen neuen Entwicklungspfad einzuschlagen. Der große Umbau ist ein Rennen gegen die Zeit, denn die geoökonomischen Verwerfungen drohen die Entwicklungschancen des Globalen Südens rapide zu verschlechtern. Andererseits bietet das Ende des Neoliberalismus die einmalige Gelegenheit, zu einem nachfrageorientierten keynesianischen Entwicklungsmodell zurückzukehren. Die Sozialdemokratie muss also einmal mehr beweisen, dass sie die richtige politische Kraft ist, um die chauvinistischen Monster der Zwischenzeit (Antonio Gramsci) zu zähmen und die sozialen Kompromisse auszuhandeln, die es den streitenden Stämmen erlaubt, sich auf einen neuen Gesellschaftsvertrag zu einigen.
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