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Republikanischer Kosmopolitismus

Seit Anfang der 80er Jahre entwickelte sich in den USA eine kommunitaristische Kritik des Liberalismus, besonders eindrucksvoll in Michael Sandels Buch Liberalism and the Limits of Justice, welches gewissermaßen den Auftakt zu der bis heute anhaltenden Debatte darstellt. Diese Kritik betonte die Angewiesenheit auf Gemeinschaften, wie immer diese verfasst sind, und bemängelte die unangemessene Konzeption der Person, wie sie in liberalen Theorien, insbesondere der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls – implizit oder explizit – zugrunde gelegt wird. Rasch wurde diese Gegenüberstellung von Liberalismus und Kommunitarismus auch in Europa übernommen und prägt bis heute die politikphilosophische und demokratietheoretische Debatte in hohem Maße. Durch die politische Entwicklung der letzten Jahre, zumal durch das Auftreten rechtspopulistischer Bewegungen in westlichen Demokratien, erfährt diese Polarität von Liberalismus und Kommunitarismus innerhalb der politischen Philosophie, die schon etwas in die Jahre gekommen war, eine Renaissance und greift verstärkt auf die empirischen Disziplinen Soziologie und Politikwissenschaft aus.

Die kommunitaristische Kritik entzündete sich zunächst an John Rawls Theory of Justice, hatte aber vor allem die Fehlentwicklungen einer, in ihrem Selbstverständnis von Individualismus und Marktrationalität geprägten amerikanischen Gesellschaft im Auge. Die europäischen Demokratien hatten dagegen seit dem Zweiten Weltkrieg, auch in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 und das Aufkommen von Faschismus und Nationalsozialismus in Europa, auf eine Balance zwischen Sozialstaatlichkeit und Marktorientierung Wert gelegt. Die europäischen Demokratien sind – aber in sehr unterschiedlichen Formationen, wie in Gøsta Esping-Andersens The Three Worlds of Welfare Capitalism beschrieben – von einem sozialstaatlichen Grundkonsens zwischen den christdemokratischen oder konservativen Volksparteien einerseits und den sozialdemokratischen oder sozialistischen Volksparteien andererseits bis in die Gegenwart geprägt. Die kommunitaristische Kritik an einem Übermaß von Individualismus und Marktökonomie trifft in Europa auf Gesellschaften, die in unterschiedlichem Ausmaß von einem historischen Kompromiss zwischen ökonomischen und sozialen Interessen geprägt sind.

Der Kommunitarismus avant la lettre hat in Europa zudem eine lange anti-aufklärerische, kulturalistische und nationalistische Tradition. Er befeuerte den weltanschaulichen Konflikt zwischen vermeintlich oberflächlicher »Zivilisation« und vermeintlich tiefer »Kultur«, den ideologischen Überbau des Konfliktes zwischen Frankreich und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg und zieht sich durch die konservative Demokratiekritik in Europa bis heute. Die Ideologien der Identitären greifen in Europa auf diese Begrifflichkeiten heute wieder zurück. Der britische Soziologe David Goodhart unterscheidet in seinem Buch The Road to Somewhere zwischen den Somewheres und den Anywheres, denjenigen, die, wie die Mehrheit der britischen Bevölkerung in dem Ort leben, in dem sie geboren sind und sich entsprechend verwurzelt fühlen und denjenigen, die irgendwo sind, mal hier und mal dort, die sich längst von ihrer Herkunft distanziert haben. Zu letzteren zählt das, was oft als »kosmopolitische Elite« apostrophiert wird und gegen die sich – vermeintlich oder tatsächlich – die Wut der Abgehängten, der ländlichen Bevölkerung, derjenigen ohne akademischen Abschluss, derjenigen, die das Gefühl haben in den öffentlichen Diskursen nicht gemeint zu sein, richtet. Die überkommene Rechts-Links-Polarisierung werde durch diejenige zwischen kommunitaristischen bzw. kosmopolitischen Einstellungen überlagert.

Diese Interpretation hat viel für sich und sie lässt sich durch empirische Befunde stützen, wie das Buch The Struggle over Borders von Pieter de Wilde, Ruud Koopmans, Wolfgang Merkel, Oliver Strijbis and Michael Zürn zeigt. Zugleich aber formatiert sie den politischen Diskurs und die politikwissenschaftliche Analyse in problematischer Weise. Dies führt zu systematischen Verzerrungen der politischen Realität und der normativen Urteile und blendet eine bedeutsame Alternative sowohl zum Liberalismus, wie zum Kommunitarismus aus: den Republikanismus.

Rechts- wie linkspopulistische Bewegungen stemmen sich gegen den Bedeutungsverlust des Nationalstaates. In Italien, derzeit von einem Bündnis aus der rechten Lega und der vom Komiker Beppe Grillo gegründeten Bürgerbewegung Movimento Cinque Stelle regiert, hat sich dafür der Begriff sovranisti eingebürgert, er meint diejenigen, die auf die einzelstaatliche Souveränität pochen und nationale Interessen nicht internationalen Verpflichtungen unterordnen wollen. Auch der südamerikanische Linkspopulismus ist von jeher nationalistisch gewesen. Er verteidigt nationale Interessen gegenüber den Interventionen und Einflussversuchen seitens der USA und internationaler Konzerne. Diesen linken wie rechten Nationalismus als eine Form des Kommunitarismus zu interpretieren, führt allerdings in die Irre. Es war historisch – und ist bis heute – eine der wichtigsten Funktionen von Nationalstaatlichkeit, kommunitäre Bindungen abzuschwächen und zu einer, partikulare Interessen überwölbenden Loyalität zusammenzuführen.

Die Gemeinschaftsbindungen der kommunitaristischen Analyse sind gerade dadurch charakterisiert, dass sie ohne institutionelle Fassung bestehen, während die nationalstaatliche erst durch die institutionelle Etablierung eines kollektiven Akteurs und legitimationsstiftender Verfahren der Entscheidungsfindung etabliert wird. Historisch gilt, dass so gut wie alle Nationalstaaten gegen vor-staatliche Kommunitäten erst durchgesetzt werden mussten und in Fällen, in denen die Widerstände besonders groß waren, dies nur in Gestalt einer föderalen Nationalstaatlichkeit erreicht werden konnte. Die späten Nationalstaaten Deutschland und Italien bieten dafür besonders aufschlussreiches Illustrationsmaterial.

Zur Rolle staatlich organisierter sozialer Solidarität

In den Schulbüchern lernen die Jugendlichen in Deutschland, dass der deutsche Nationalstaat 1871 etabliert wurde. Tatsächlich wurde das kleindeutsche Reich außerhalb Preußens zunächst, als Folge einer Serie von militärischen Niederlagen, zuletzt der Bayern bei Königgrätz 1866, weithin als preußischer Oktroi empfunden und die Loyalitätsbindung an dieses staatliche Gebilde hielt sich in engen Grenzen. Dies änderte sich erst im Zuge des Aufbaus einer rudimentären Sozialstaatlichkeit (Reichsversicherungsordnung) und der realen, oder zumindest erfolgreich konstruierten, Bedrohung von außen und der ideologisch aufgeladenen Konkurrenz zum westlichen Nachbarn Frankreich (Kultur versus Zivilisation) als düsteres Vorspiel zum Ersten Weltkrieg.

Damit ist das zweite Stichwort gefallen: Sozialstaatlichkeit. Der aktuelle Linkspopulismus beklagt den nationalen Kontrollverlust durch ökonomische Globalisierung und internationale Verrechtlichung sowie die Europäisierung der Gesetzgebung, weil dadurch der soziale Ausgleich, der Aufbau sozialstaatlicher Institutionen mit der Garantie gleicher sozialer Rechte der Bürgerinnen und Bürger, welcher bislang nur im nationalen Rahmen möglich war, gefährdet werde, wie Wolfgang Streeck ausführt.

Es wäre jedoch eine dramatische Verkennung der Rolle staatlich organisierter sozialer Solidarität, diese als eine Form kommunitärer Bindungen zu interpretieren. Für die Bereitschaft Steuern und Abgaben zu zahlen, um für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Elternschaft, Pflege vorzusorgen, beziehungsweise diejenigen zu unterstützen, die aus diesen Gründen aktuell nicht erwerbstätig sein können, ist keineswegs die gemeinsame Zugehörigkeit zu, wie auch immer verfassten, Gemeinschaften (religiöser, ethnischer, regionaler etc. Art) erforderlich, sondern lediglich ein Verhältnis der Kooperation: Alle tragen jeweils nach ihren Möglichkeiten dazu bei, diese individuellen Rechte zu realisieren, in der Erwartung, dass sie selbst zumindest potenziell Nutznießer dieser Kooperation werden.

Dies ist auch die naheliegendste Erklärung für den Widerstand der europäischen Bevölkerungen, neu Hinzugekommene (Geflüchtete und Arbeitsmigranten) in dieses sozialstaatliche Gefüge in großer Zahl aufzunehmen: Die Symmetrie zwischen Leistungsbereitschaft in Gestalt von Steuern und Abgaben einerseits und Empfang sozialstaatlicher Leistungen andererseits als Bedingung umfassender Kooperationsbereitschaft ist hier nicht realisiert. Die Hinzukommenden treten (zunächst) überwiegend als Empfänger und nicht als Leistungserbringer in Erscheinung. Hier geht es also keineswegs um ein kulturelles Nähe-Verhältnis, wie die kommunitaristische Interpretation nahelegt, sondern um das Bestehen oder eben Nichtbestehen von Kooperationsverhältnissen. Diese beiden Kategorien miteinander zu verwechseln führt zu schwerwiegenden Fehlinterpretationen.

Dies gilt auch für die empirische Analyse. So hat sich in Umfragen nach dem Herbst 2015, in dem hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland kamen, für viele überraschend herausgestellt, dass ausgerechnet der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund die Einwanderung kritischer beurteilte als die Bevölkerungsmehrheit ohne Migrationshintergrund. Dies kann aber nur diejenigen überraschen, die eine kommunitaristische Fehlinterpretation vornehmen, wonach es das Nähe-Verhältnis ist, das die Einstellungen bestimmt. Wenn man jedoch den Sozialstaat im Wesentlichen als Kooperationsverhältnis interpretiert, wobei auch hier zwischen den Ländern große Unterschiede bestehen, wie Esping-Andersen in seinem Buch beschreibt, löst sich das Rätsel sogleich auf: In Deutschland ist der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund in höherem Maße auf sozialstaatliche Leistungen angewiesen und er hat zugleich zum ganz überwiegenden Teil, das gilt in besonderem Maße für die sogenannte Gastarbeiter-Immigration zwischen Mitte der 50er und Mitte der 70er Jahre, zur Leistungserbringung beigetragen. Auch der Widerstand der unteren und mittleren Arbeitnehmerschichten in Deutschland ohne Migrationshintergrund lässt sich nach diesem Muster erklären: Es ist die Sorge, dass die sozialen Kooperationsbeziehungen durch einen Symmetriebruch zwischen Leistungserbringung und Leistungsbezug zu Lasten der schwächer Gestellten empfindlich gestört werden.

Nationalstaatlichkeit wie Sozialstaatlichkeit sollte man also nicht in kommunitaristischer Begrifflichkeit analysieren. Im Gegenteil, Nationalstaatlichkeit wie Sozialstaatlichkeit, und die Verbindung von beiden schwächen kommunitäre Bindungen ab, weil sie einen eigenen Status als Bürgerin einer Nation beziehungsweise eines Sozialbürgers stiften, der von kommunitären Bindungen unabhängig ist. Dies ist der Kern der republikanischen Kritik am Multikulturalismus, der den Status von Personen an den Respekt und die Rolle kultureller Identität bindet, wie er etwa von Tariq Modood in Multiculturalism: A Civic Idea (2007) vertreten wird.

Das Versprechen des Liberalismus, das einzelne Individuum von seinen Abhängigkeiten zu befreien, es zum Autor seines eigenen Lebens zu machen, wird im modernen Sozialstaat erst Realität. In dieser Hinsicht hat der US-amerikanische Liberalismus einen Erkenntnisvorsprung gegenüber seinen europäischen Verwandten. Die Verbindung von Multikulturalismus und Liberalismus, wie sie die jüngste Entwicklung in den USA prägt und zur Niederlage Hillary Clintons gegenüber Donald Trump beigetragen hat, ist so gesehen eine Abkehr vom sozialliberalen Erbe der US-Demokraten.

Die politische Schlussfolgerung aus dieser Überlegung liegt auf der Hand und sie hat zwei Teile: Jenseits des Konfliktes zwischen Kommunitarismus und Liberalismus gibt es einen dritten Pol, nämlich den des »Republikanismus«, der die Zugehörigkeit zu einer demokratisch verfassten Staatlichkeit, getragen von sozialer Kooperation, einsetzt, um sowohl den Individualisierungstendenzen eines entfesselten Wirtschaftsliberalismus zu begegnen, wie den Partikularisierungstendenzen des Multikulturalismus. Die demokratische Teilhabe und die Möglichkeit der politischen und sozialen Gestaltung der Lebensverhältnisse stiftet eine kollektive, eben republikanische, genuin politische Identität, die den Kollektivismus partikularer Identitäten ebenso wie den Atomismus kapitalistischer Marktgesellschaften auf ein ziviles Maß beschränkt.

Die zweite – kosmopolitische – Kritik lautet, dass angesichts der globalen Herausforderungen, Staatlichkeit über die bestehenden Nationalstaaten hinaus ausgedehnt werden muss, um politische Gestaltungskraft zu sichern und eine weltbürgerliche Verantwortung zu stiften. Der ängstliche Rückzug des Links- wie des Rechtspopulismus auf den nationalstaatlichen Rahmen, verbunden mit einer Renaissance nationaler Egoismen würde zwangsläufig gegenüber den großen Menschheitsherausforderungen wie Klimawandel, Ressourcenschonung, Artenvielfalt, Elendsbekämpfung etc. versagen und am Ende in einen hobbesschen bellum omnium contra omnes, einen Krieg aller gegen alle münden.

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