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Debatte über das koloniale Kulturerbe Restitution und Menschheitserbe

Seit der Dekolonisierung mehren sich in Afrika die Forderungen nach der Rückgabe von Kulturobjekten. Der 2018 von dem senegalesischen Ökonomen Felwine Sarr und der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy für Präsident Emmanuel Macron erstellte Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter hat deshalb große Aufmerksamkeit gefunden. Die Autoren geben nicht nur genaue Daten für die Erwerbsgeschichte französischer Objekte, die zeigen, dass fragwürdige Aneignungen auch nach der Dekolonisierung stattgefunden haben. Ihre Zahlenangaben verdeutlichen auch, dass sich die Lage in Frankreich durchaus mit der in anderen Staaten Europas vergleichen lässt. Sie reichen »vom British Museum (69.000 afrikanische Objekte) bis zum Weltmuseum Wien (37.000), vom Afrikamuseum Tervuren in Belgien (180.000) bis zum zukünftigen Humboldt Forum in Berlin (75.000), von den Museen des Vatikans bis zum Musée du quai Branly (70.000)«. Während Sarr darüber hinaus in seinem Buch Afrotopia dem Blick auf das Kulturerbe Afrikas auch eine utopische Perspektive abzugewinnen sucht, entwirft Savoy in ihrer Schrift Die Provenienz der Kultur eine übergreifende Sicht.

Schon Ende der 60er Jahre hat der aus Mali stammende Autor Yambo Ouologuem (1940–2017) in seinem jetzt neu aufgelegten Roman Das Gebot der Gewalt gegen eine einseitige Verklärung afrikanischer Geschichte konstatiert. Auch dieses Buch ist gewissermaßen ein Zeugnis hemmungsloser Aneignung, das wegen überzogener Plagiatsvorwürfe zeitweilig vom Buchmarkt verschwunden war. Es passt gerade deshalb zu einer Diskussion, in der es um merkwürdige deutsche Komposita wie »Raub- und Beutekunst« geht. Zur Beute geworden, dann als museales Zeugnis fremder kultureller Bildung ausgestellt, werden solche Kunst- bzw. Kulturobjekte nun zu Belastungszeugen gegen den europäischen Kolonialismus.

Im aufgeklärten Europa aber sah man sich seinerzeit nicht allein als militärischen Triumphator, sondern als Avantgarde der Menschheit und legitimer Wahrer der Weltkultur. Deshalb konkurrierte man in London, Paris und Berlin nicht nur um deren Meisterwerke, sondern stellte sie auch unter besonderen Schutz. »Die erste Schwierigkeit besteht darin«, für Frankreich, so Sarr und Savoy, »einen Restitutionsprozess anzuvisieren, ohne zugleich am allgemeinen Unveräußerlichkeitsprinzip für Kulturobjekte in öffentlicher Hand zu rütteln – dem Gründungsprinzip der Museumsgesetzgebung in Frankreich«. Noch im Jahre 2016 waren Forderungen der Republik Benin nach Rückgabe geraubter Kunstwerke zurückgewiesen worden. Mit der Aneignung fremden Eigentums hatte man sich in Paris abgefunden, dessen Rückgabe aber wäre gesetzwidrig, weil es sich eben um »Kulturobjekte in öffentlicher Hand« handelt.

Zum Glück aber lassen sich Bestimmungen auch umgehen. Zum einen durch Ausnahmegesetze, die etwa 2002 eine Rückgabe der »sterblichen Überreste der Person, die unter dem Namen Saartjie Baartman bekannt ist« erlaubten. Zum anderen durch die »Entdeckung eines irreparablen Mangels bei der Erwerbung«, aufgrund dessen die illegal erworbenen Objekte so behandelt werden könnten, als seien sie nie in öffentliches Eigentum übergegangen.

Profiteure auf beiden Seiten?

Diese wundersame Wandlung des Rechtstatus von Kulturobjekten erinnert an Ouologuems satirische Darstellung ihres Erwerbs und ihrer kommerziellen Reproduktion. In Das Gebot der Gewalt werden, im Zuge der Christianisierung des fiktiven afrikanischen Reichs Nakem und der Dynastie Saïf, heidnische Artefakte eingesammelt und sollen eigentlich der läuternden Macht des Feuers übergeben werden. Bald darauf aber müssen Soldaten, die nach Frankreich gelangt waren, dort »zu ihrer Überraschung feststellen, dass die gleichen Masken, die gleichen Idole nicht etwa, wie der Bischof de Saignac vorgab, verbrannt, sondern verschachert und von Antiquaren, Sammlern, Museen, Ladenbesitzern mit Gold aufgewogen wurden. Die Einkünfte waren der Kirche zugeflossen (…)«.

Verbrannt hätten die Christen nur die »ausdruckslosesten und neuesten« Artefakte, doch nicht nur europäische Missionare und »Wissenschaftler« hatten einen Geschäftssinn: »Also ließ Saïf – der Brauch ist heute noch üblich – Zentner von hastig nach den Originalen ausgeführten Masken vergraben, sie in Moraste, Sümpfe, Seen, Teiche, Lehm und Schlamm versenken – um sie einige Zeit danach wieder auszugraben und sie von Neugierigen wie Laien mit Gold aufwiegen zu lassen. Diese etwa drei Jahre alten Masken waren, wie es hieß, mit dem ›Gewicht einer vierhundertjährigen Kultur belastet‹.«

Ironisch zeigt Ouologuem hier, was in der kolonialkritischen Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte gern übersehen wird, dass es im Verhältnis Europas zu seinen Kolonien auf beiden Seiten Profiteure und Verlierer gab. Sein Roman war eine bis zum Grobianismus eines Louis-Ferdinand Céline reichende Auseinandersetzung mit der Négritude, jenem neuen afrikanischen Selbstbewusstsein, das sich im Zuge der Dekolonisierung entwickelte und auf die Schriften des deutschen Anthropologen Leo Frobenius stützte. Der taucht im Roman als »Schrobenius« auf, dem sein Schöpfer den »nachtwandlerisch genialen Einfall« eingegeben habe, »Kultur und Vergangenheit des Nakem zu rühmen: ›Aber das sind doch bis auf die Knochen wohlerzogene und zivilisierte Leute! Überall breite, ruhige, friedliche Alleen, in denen man die Größe eines Volkes, sein menschliches Genie atmet (…) Nur weil der weiße Imperialismus dort mit seinen Gewalttaten und seinem kolonisatorischem Materialismus eingedrungen ist, fiel das so zivilisierte Volk plötzlich in den Zustand der Wildheit zurück, wurde des Kannibalismus, der Primitivität beschuldigt, während im Gegenteil – zum Beweis: der Glanz seiner Kunst – die großen mittelalterlichen Reiche das wahre Gesicht eines weisen, schönen, reichen, geordneten, friedfertigen und sowohl machtvollen wie humanistischen Afrikas ausmachten – die eigentliche Wiege der ägyptischen Kultur.‹« Lakonisch vernichtend urteilt der Erzähler: »Dieses Gewäsch brachte Schrobenius nach der Heimkehr einen doppelten Profit ein: Einerseits täuschte er sein Land, das ihn entzückt auf einen hohen Lehrstuhl setzte, anderseits beutete er die Sentimentalität des Negerpacks aus – das nur zu glücklich war, aus dem Munde eines Weißen zu hören, ›dass Afrika der Nabel der Welt und die Wiege der Kultur sei‹.«

Die ironische Verächtlichkeit, mit der Ouologuems Erzähler dem »Negerpack«, den Geschundenen, Betrogenen und immer noch Gutgläubigen, hier die Leviten liest, zielt auf Ernüchterung. Und auch wenn Felwine Sarr in Afrotopia heute eine Rehabilitierung afrikanischer Werte wie Würde, Gemeinschaftlichkeit, Gastfreundschaft, Bescheidenheit, Gründlichkeit und Ehrgefühl fordert und postuliert, »den tiefgreifenden Humanismus der afrikanischen Kulturen zutage zu fördern und zu erneuern«, erscheint das ein wenig idealistisch. Als seien solche Werte in Stein gemeißelt und hätten irgendwo im Schoße der Erde die schlechten Zeiten überdauert.

Auch die Debatte um die Restitution afrikanischer Kunstobjekte ist nicht frei von Tendenzen zur Verklärung, denn Rückgabe von Raubkunst wird zwar als Restitution bezeichnet, kann naturgemäß aber keine Restitutio ad Integrum, keine heilende Rückführung zum Ursprungszustand sein. Einmal und oft für Jahrzehnte und Jahrhunderte aus ihrem kulturellen oder kultischen Kontext gerissen, sind solche Kunstwerke entweiht, kontaminiert, wie es Ouologuem in seiner Schilderung der Verwandlung von Kultobjekten zu heidnischem Feuerholz und dann wiederum zu wertvollen Kunsthandelsobjekten zeigt.

Mögen die restituierbaren Objekte auch auf präkoloniale Zeiten verweisen, die vielleicht bessere Zeiten waren, so verweisen sie doch auch auf das, was folgte. Provenienzforschung führt idealerweise zum Ursprung und ersten Eigentümer eines Artefaktes zurück und verfolgt gerade dabei auch dessen oft wechselvolle Geschichte. »Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen«. Das gilt auch für Kunstwerke. Und wenn die Kunstwerke Afrikas einmal vollständig dorthin zurückgekehrt sein sollten, werden sie in Europa beredte Spuren hinterlassen haben.

Sterbliche Menschen und unsterbliche Objekte

In Die Provenienz der Kultur stellt Bénédicte Savoy drei Kunstwerke vor, die ihr selbst besonders am Herzen liegen: Eine uralte Kopfplastik des ägyptischen Königs Echnaton, eine Statuette des Franziskanermönchs Bernhardin von Siena aus dem 15. Jahrhundert und eine Perlenskulptur aus der Region Foumban im Westen Kameruns. Die beiden ersten als Gipsmodelle aus Berliner Museen, die dritte als eine mit Plastikperlen verzierte moderne Touristenversion. Wie zahllose andere Objekte hätten sie den Raum durchquert, seien »gereist, wurden beschädigt, restauriert, kopiert, abgegossen, verändert«. Als Original oder Reproduktion – »Schatten ihrer selbst« – hätten sie die Zeit durchmessen, Jahrtausende einsam im Sand, Jahrhunderte und Jahrzehnte inmitten von »Kriegen und Brüchen, von Erinnerung und Vergessen, von verworrenen Linien, von Eroberungen und Beutezügen«. Und sei es nicht vielmehr so, heißt es über diese viel betrachteten Schauobjekte, »dass der Ägypter, der Kameruner und der Italiener uns anschauen, wie sie Generationen von Sterblichen vor uns angeschaut haben und wie sie noch weitere Generationen nach uns anschauen werden?«

Dieses Angeblicktsein habe eine Beunruhigung zur Folge, schreibt Savoy, die uns dazu auffordere, »das kulturelle Erbe als eine ständig erneuerte Begegnung zwischen den Sterblichen (das sind wir) und den – vielleicht beinahe – Unsterblichen (das sind sie, die Objekte) zu begreifen«. Bemerkenswerterweise genügen der Autorin für diese spirituelle Zwiesprache Reproduktionen jener Kunstwerke, und der gewaltige zeitliche Abstand, den sie verkörpern, erscheint weit bedeutsamer als die räumliche Nähe zu den Originalen. Wenn solche Originale nun im Zuge umfassender Restitutionen aus den Museen Europas zu den Enkeln und Urenkelinnen, zu den fernen Nachfahren ihrer Schöpfer zurückkehren sollten – wird das die spirituelle Revolution Afrikas, die Sarr antizipiert, so weit ermächtigen, dass sie den Verlauf der Geschichte ändern könnte, von deren Gewalt doch gerade ihre eigene zeugt?

»Oft, das ist wahr, möchte die Seele vom vergangenheitslosen Echo des Glückes träumen«, schließt Yambo Ouologuems sarkastischer Erzähler illusionslos. In diese Welt geworfen aber könne man sich dem Gedanken nicht verschließen, dass in Wirklichkeit das gewaltsame Regime der Dynastie Saïf immer wiedergeboren werde »aus der heißen Asche von über dreißig afrikanischen Republiken (…)«

Yambo Ouologuem: Das Gebot der Gewalt. Elster, Zürich 2019, 276 S., 24 €. – Felwine Sarr: Afrotopia. Matthes & Seitz, Berlin 2019, 176 S., 20 €. – Felwine Sarr/Bénédicte Savoy: Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Matthes & Seitz, Berlin 2019, 200 S., 18 €. – Bénédicte Savoy: Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe. Matthes & Seitz, Berlin 2018, 72 S., 10 €.

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