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»Rettet uns der technische Fortschritt?«

Kluge Köpfe haben sich immer wieder Gedanken gemacht über den technischen Fortschritt, ihn unterschiedlich definiert und interpretiert. Joseph Schumpeter verstand darunter die Einführung eines neuen Produktes oder eines neuen Produktionsverfahrens, die Erschließung neuer Märkte und Rohstoffquellen verbunden mit der Einführung neuer Formen industrieller Organisation. Kritischer ging der Philosoph Karl Popper zu Werke und beschäftigte sich damit, wie eine Gesellschaft auf eine Steigerung der Arbeitsproduktivität infolge des technischen Fortschritts reagieren kann. So schlug Popper vor, die zur Verfügung stehende höhere Produktivkraft für Investitionsgüter, Konsumgüter und Arbeitszeitverkürzung zu nutzen. Grundsätzlich solle der technische Fortschritt also Motor für Wirtschaftswachstum sein, das im besten Fall gerechter zu verteilen sei.

Diese Art technischer Fortschritt wird uns gewiss nicht retten, denn er zielt darauf ab, den bestehenden Wohlstand und Lebenswandel mit immer raffinierteren Techniken zu sichern und auszubauen. Strukturelle Änderungen sind vonnöten. Unverzichtbar sind Gesetze zur Kreislaufwirtschaft, eine konsequente Wiederverwertung von Materialien, eine Umverteilung von Reichtum oder eine Neustrukturierung der internationalen Handelsbeziehungen. Wirtschaftliche Vielfalt, demokratische Strukturen, Bildung, Kompetenz und Kultur gehören ebenfalls zum Portfolio eines nachhaltigen technischen Fortschritts. Die Strategien von Mega-Konzernen wie Amazon beruhen auf absoluter Gewinnmaximierung und Dominanz, sie berauben uns dieser Vielfalt und Kompetenzen. Dieser vermeintliche Fortschritt weckt falsche Hoffnungen, behindert nachhaltige Entwicklungen und bindet Mittel an falscher Stelle.

Heute sollten die politischen Zielsetzungen der Vereinten Nationen Maßstab für eine technologische Entwicklung sein. In 17 Zielen fordert die Agenda 2030 eine nachhaltige soziale, ökonomische und ökologische Entwicklung unserer Welt. Die mit den Sustainable Development Goals verbundenen Transformationen sind enorm. Anhand von vier Beispielen soll die Ambivalenz technischer Entwicklungen gezeigt werden, ihre Problematik, gleichzeitig aber auch ihre Notwendigkeit zur Erreichung der UN-Ziele.

Das zweite Ziel fordert ein Ende des Hungers und Ernährungssicherheit. Hier spielt ein vor 100 Jahren entwickeltes großtechnisches chemisches Verfahren eine entscheidende Rolle. Im berühmten Haber-Bosch-Verfahren wird aus atmosphärischem Stickstoff und Wasserstoff bei hohen Drücken und Temperaturen unter Zuhilfenahme eines eisenhaltigen Katalysators Ammoniak gewonnen. Das bedeutende Chemieverfahren mit einem Produktionsausstoß von mehr als 150 Millionen Tonnen im Jahr 2017 deckt fast die gesamte weltweite Produktion an Ammoniak. Ammoniak wird überwiegend für die Herstellung von Düngemitteln verwendet und trägt damit wesentlich zur Ernährung der Weltbevölkerung bei.

Die Fixierung von Stickstoff aus der Atmosphäre für die Herstellung von Düngemitteln wurde in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts als »Brot aus der Luft« gefeiert. Bis dahin wurden Düngemittel aus Salpeter gewonnen. Aus heutiger Sicht wirft die Ammoniak-Synthese allerdings auch Probleme auf. Die Reaktionen bei hohen Temperaturen und Drücken erfordern einen enormen Energieeinsatz, verbunden mit beträchtlichen CO 2 -Emissionen. Der für die Synthese mit Stickstoff eingesetzte Wasserstoff kommt aus Erdgas. Allein zehn Prozent des Erdgases weltweit werden für den im Haber-Bosch-Verfahren benötigten Wasserstoff eingesetzt. Wir müssen also nach Lösungen suchen, die Ammoniak-Synthese unter milderen Bedingungen durchzuführen oder gar andere Prozesse der Stickstofffixierung zu finden.

Das dritte Ziel möchte ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten. Dazu gehört unter anderem eine schnelle, finanziell verträgliche und gesellschaftlich akzeptierte Entwicklung von Arzneimitteln. Bestes Beispiel dafür sind die COVID-Impfstoffe. Die in vielen Jahren entwickelte mRNA-Technologie hat Impfstoffe in Rekordzeit verfügbar gemacht und damit die Pandemie entscheidend beeinflusst. So konnten schwere Verläufe deutlich reduziert werden.

Unglaubliches Entwicklungstempo

Mit der mRNA-Technologie kann sehr flexibel eine große Bandbreite an Krankheitsbildern adressiert werden. Sie erlaubt eine schnelle Entwicklung von Medikamenten und vor allem eine Skalierbarkeit in der Produktion von sehr kleinen bis hin zu sehr großen Mengen. Die Palette reicht hier von Impfstoffen gegen Infektionskrankheiten bis hin zu Medikamenten gegen Krebserkrankungen. Booster-Impfstoffe sind innerhalb kurzer Entwicklungszeit verfügbar. So stellen BioNTech/Pfizer und andere Unternehmen modifizierte Impfstoffe her, die an neue Omikron-Varianten angepasst sind und schon bald eingesetzt werden können. Ein solches Entwicklungstempo für Impfstoffe war bis vor Kurzem undenkbar, ist nun aber dank der mRNA-Technologie Wirklichkeit geworden.

Eine nachhaltige und moderne Energie für alle wird in Ziel sieben anvisiert, verbunden mit einem Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und zeitgemäßer Energie. Natürlich steht hier die Entwicklung der erneuerbaren Energiequellen im Fokus. Wind und Sonne sind solche unerschöpflichen Quellen, stehen aber nicht rund um die Uhr, an jedem Tag und zu jeder Jahreszeit gleichmäßig zur Verfügung. Um die Volatilität dieser Energieformen aufzufangen, benötigen wir ausreichende Speicherkapazitäten und geeignete Transportmöglichkeiten für den aus Erneuerbaren erzeugten Strom. Dazu muss die Entwicklung von Batterien und Akkus sowie deren Einsatz im Verkehr weiter vorangetrieben werden. Auf die Wasserstofftechnologie werden wir ebenfalls nicht verzichten können.

Mit Strom aus On- und Offshore-Windanlagen wird durch Elektrolyse von Wasser der Energieträger Wasserstoff gewonnen, für den geeignete Speicher- und Transportmöglichkeiten zu entwickeln sind. Da der reine Wasserstoff schlecht zu handhaben ist, empfiehlt sich eine Speicherung in wasserstoffreichen Molekülen, wie Ameisensäure, Ammoniak, Methanol oder Methan. Diese Verbindungen können als Grundstoffe in der chemischen Industrie eingesetzt werden, die zuvor aus fossilen Energieträgern gewonnen wurden. Transportmöglichkeiten dafür sind bereits vorhanden, sodass am Zielort auch wieder Wasserstoff freigesetzt und mittels einer Brennstoffzelle wieder Strom on demand gewonnen werden kann.

Ziel neun fordert den Aufbau einer widerstandsfähigen Infrastruktur, die Förderung einer breitenwirksamen und nachhaltigen Industrialisierung sowie die Unterstützung von Innovationen. Hier sei an die berüchtigten Fluorkohlenwasserstoffe (FCKW) erinnert, die vor langer Zeit entwickelt wurden, um giftige und schnell entflammbare Kältemittel zu ersetzen. In den 80er Jahren stellte sich heraus, dass diese FCKW wesentlich für den Abbau der Ozonschicht verantwortlich sind. Im Montrealer Protokoll von 1987 wurde international vereinbart, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die menschliche Gesundheit und die Umwelt vor schädlichen Auswirkungen zu schützen.

Dies kam einem Verbot der FCKW gleich. Die Substitution der FCKW war nicht einfach, denn die Vorteile dieser Substanzen, nämlich unreaktiv und nicht entflammbar zu sein, sollten nicht verloren gehen. Der Ersatz gelang, inzwischen hat sich die Ozonschicht wieder geschlossen. In dem Protokoll verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten auch, neue Technologien unter »gerechten und möglichst günstigen Bedingungen« weiterzugeben. Allerdings muss kräftig weiter geforscht werden, denn die neuen Kältemittel tragen zur Klimaerwärmung bei.

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass der Beitrag von Wissenschaft und Forschung für die Lösung der großen Herausforderungen als ein Teil einer Zukunftsstrategie unverzichtbar ist. Wir benötigen neue Technologien zur Bewältigung dieser Mammutaufgaben, nicht nur in Krisensituationen. Wirklicher Fortschritt wird aber nur erreicht, wenn diese Technologien nachhaltig sind, von der Gesellschaft akzeptiert werden und die Situation von Mensch und Umwelt tatsächlich verbessern. Dies bedarf nicht nur struktureller Änderungen, sondern auch der Abkehr von einem reinen Wachstumsdenken.

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