» Read the English version of this article
Bewegt man sich in den dunkleren Ecken des Internets, wo die neuen »Manfluencer«, Online-Machos mit hoher Reichweite, ihr Unwesen treiben, gewinnt man den Eindruck, der Kampf um ein gerechteres Miteinander der Geschlechter ist verloren. In der sogenannten Manosphere herrschen Frauenhass und archaische Vorstellungen von Geschlechterrollen. Doch der Backlash an frauenfeindlichen Bewegungen täuscht über eine tiefer liegende Transformation in der Gesellschaft hinweg, die nicht umkehrbar ist.
Männlichkeit steht in der Kritik. Spätestens mit der anhaltenden #MeToo-Bewegung ist der Begriff »toxische Männlichkeit« zum festen Bestandteil unseres Vokabulars geworden. Bisher fokussiert er vor allem die Perspektive der Frauen. Dass die alten Vorstellungen rund um das »starke Geschlecht« auch Männern schadet, wird nur ansatzweise diskutiert. Tatsache ist aber: Die als maskulin empfundenen Eigenschaften wie Dominanz, Aggression und Konkurrenzdenken treiben Männer häufiger hinter Gitter, ins Krankenhaus und sogar in den Tod. Viel zu viele Jungs, die nicht lernen, Schwäche zu zeigen und Gefühle zu artikulieren, geraten später im Leben in Burn-outs, Sucht und Depressionen. Die Überwindung alter Männlichkeitsbilder hat das Potenzial, auch Männer zu ermächtigen.
Geschlechterrollen entstehen durch Sozialisation. Vor allem in der Erziehung werden Weichen für’s ganze Leben gestellt. »So sind Jungs eben.« »Er ist halt auch nur ein Mann.« »Boys will be Boys.« Es gibt eine ganze Reihe von Sätzen, die vom frühen Kindesalter an genutzt werden, um destruktives Verhalten zu legitimieren. Sei es, wenn Kinder um Spielzeuge raufen, Jugendliche es in Trinkspielen oder Mutproben übertreiben oder wenn heranwachsende Männer Frauen objektivieren. Ein Äquivalent für Frauen gibt es nicht. Männliche Kinder werden anders erzogen, Gewalt wird weniger streng sanktioniert. Dafür wird bei Tränen, Schwäche und Unsicherheit eher gegengesteuert – denn: Große Jungs weinen nicht.
»Ein Mädchen, das Angst hat, ist klug. Ein Junge, der Angst hat, ist feige.« Christian Gesellmann
Schwäche, Zweifel, Angst, Hilflosigkeit, Furcht, Schüchternheit, Weichheit, Bedürftigkeit und sogar übertriebene Euphorie gelten als unmännlich. Mit Jungs wird nicht nur weniger gekuschelt und sie werden weniger in den Arm genommen. Mit Jungs wird sogar weniger und weniger metaphernreich geredet. Darunter leidet nachweislich ihre Sprachkompetenz. Sie werden viel häufiger angehalten, stark zu sein, mutig zu sein und durchsetzungsstark.
Schon als Kleinkind werden sie als »kleiner Mann« bezeichnet, während niemand ein weibliches Kleinkind als »kleine Frau« anspricht. Im Gegenteil: Frauen bleiben bis in die späten Dreißiger »Mädels«. Überhaupt verrät uns die Sprache viel über unbewusste Geschlechterklischees: Wir kennen keine »Powermänner« und keine »Familienmütter«, keinen »Karrieremann« und keine »Männerversteherin«. Wir sagen »Sohnemann« und »Muttersöhnchen«, aber niemals »Tochterfrau« oder »Vatertöchterchen«. Und für die Kategorie »Schlampe« oder »Flittchen« gibt es kein männliches Äquivalent. Hinter all diesen Begriffen beziehungsweise deren Fehlen werden größtenteils unbewusste Ideale von Männlichkeit und Weiblichkeit sichtbar.
Männer leiden
Frauen leiden vielfach unter diesen Geschlechterrollen. Unter Männern, die ungefragt Dinge erklären, zu laut über ihre eigenen Witze lachen, aggressiv genervt sind vom Gendern. Aber auch unter Männern, die belästigen, schlagen und vergewaltigen. Doch das Problem mit der Männlichkeit betrifft nicht nur Frauen: Die allermeiste Gewalt von Männern trifft andere Männer. Und das nicht nur physisch. Auch der psychische Druck, den Menschen aushalten müssen, um als richtige Männer durchzugehen, wird maßgeblich von anderen Männern erzeugt.
Das überkommene Männlichkeitsideal belastet die Psyche, Gesundheit, Freundschaften und Liebesbeziehungen. Es macht Männer anfälliger für Kriminalität und abhängiger von ihrer Karriere – und führt bis in den Tod: Suizid ist die häufigste Todesursache von Männern unter 35. »Mannsein ist etwas, das man sich erarbeiten muss. Ein an sich prekäres Konzept, das immer in Gefahr ist, immer wieder verteidigt werden muss. Bei einer Mutprobe gekniffen, einmal den Cocktail mit dem Schirmchen bestellt, im falschen Moment geheult, und Jahre des männlichen Mannseins waren für den Arsch«, schreibt der Journalist Christian Gesellmann.
»Das eigentliche Problem am Männlichkeitsideal ist die Angst davor, ihm nicht zu entsprechen.«
Das eigentliche Problem am Männlichkeitsideal ist die Angst davor, ihm nicht zu entsprechen. Die Sorge, nicht männlich genug zu sein, begleitet viele Jungs und junge Männer. »Toxische Männlichkeit erwächst im Grunde aus der Angst vor Entmannung, die als das Schlimmste gilt, was einem Mann passieren kann«, schreibt der Journalist Jack Urwin. »Es gibt kein echtes Äquivalent dafür bei Frauen. Warum? Weil sie in der Hierarchie schon ganz unten sind.« Deswegen können Frauen Bier trinken, Punkbands hören, Hosen tragen oder als Pilotin arbeiten ohne Sorge vor sozialem Abstieg, während Männer Statusverlust riskieren, wenn sie Prosecco trinken, Boybands hören, Röcke tragen oder als Kosmetiker arbeiten.
Dieses Männlichkeitsgehabe hat seinen Ursprung nicht in der Konkurrenz um potenzielle Partnerinnen, sondern in der Angst vor Abwertung durch andere Männer. Denn toxische Männlichkeit wird im Alltag zu einem großen Teil von Männern untereinander forciert und eingefordert durch »das Belächeln, Auslachen, Kleinreden, Verurteilen, Verletzen, Bloßstellen, Beleidigen, Beschimpfen und Diskriminieren von Männern, die nicht der Idee des wahren Mann-Seins entsprechen«, so Jacy Fortin in der New York Times.
Ein neues Miteinander
Der Schlüssel zum Überwinden der giftigen Männlichkeit liegt daher vor allem in einem neuen Miteinander unter Männern. Und das ändert sich gerade radikal: Von einer Generation zur nächsten ist ein riesiger Sprung in der Evolution von Männlichkeit entstanden. Junge Männer unterscheiden sich grundlegend von ihren Vätern und Großvätern. Sie zeichnen sich vor allem durch eins aus: Sie sind unheimlich nett zueinander.
Viele Teenager der Generation Woke haben komplett eigene Vorstellungen vom Umgang mit der Peergroup entwickelt: Kein Machogehabe, kein Konkurrenzdenken, keine Mutproben, kein Rumgeprolle, kein Wettbewerb. Und: In der jungen Generation wird über Gefühle gesprochen! Man drückt Zuneigung aus, spricht miteinander, nimmt sich in den Arm. Scheinbar kleine, unbedeutende Gesten, die nichts weniger als das Ende des harten, starken Mannes einläuten.
Beobachten kann man dieses neue Miteinander zum Beispiel in den Social-Media-Bubbles junger Leute. Influencer wie Theo Carow, Jordan Stephens, Jon Gustin oder Waldemar Zeiler stehen exemplarisch für diesen neuen Typus Mann. In ihren Crews spricht man über Gefühle, Ängste und Schwächen. Tränen sind normal. Lustig gemacht wird sich nur über sich selbst, nie über andere. Sie sind wie ein lebendiger Gegenentwurf zur toxischen Incel-Blase, in der es scheinbar ausschließlich darum geht, sich und andere fertigzumachen.
»Revolution der Rollenbilder – für beide Geschlechter.«
Diese neuen Männer sprechen offen über Hilflosigkeit, Nagellack, Erektionsprobleme, Meditation, Scham, psychische Krankheiten oder Disneyfilme – und brechen damit jahrzehntealte Tabus. Ihr Umgang ist liebevoll und unterstützend. Es wird auch unter Jungs gekuschelt und Händchen gehalten. Diese offenen Zuneigungsbekundungen sind für viele Männer der jungen Generation normal, für ihre Vätergeneration unvorstellbar. Dieser neue Umgang bedeutet eine Revolution der Rollenbilder – und zwar für beide Geschlechter. »In einer Gesellschaft, in der Männer anderen Männern gegenüber überwiegend gewalttätig sind, ist ein Mann, der einen anderen Mann liebt, ein radikaler, progressiver Akt« schreibt JJ Bola in seinem Buch Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist.
Diese neuen Männer haben für sich selbst erkannt, dass die propagierten Männlichkeitsbilder und Rollenklischees ihnen nicht mehr dienen. Sie befreien sich davon mit der Leichtigkeit derer, die von Gleichgesinnten umgeben sind.
Neue Männer überall
Immer mehr junge Männer brechen aus dem engen Korsett der Geschlechterrollen aus. Dass heute immer häufiger Männer in Röcken zu sehen sind, ist mehr als ein Modetrend. Es ist der Beginn einer neuen Ära der Geschlechterverhältnisse. In progressiven Tiktok-Bubbles, in urbanen Party- und Künstlerszenen und in der Popkultur eignen sich immer mehr Männer feminine Mode an. Prominente Vertreter der jungen Generation – durchaus Hetero-Cis-Männer, wie Harry Styles, Jaden Smith oder Jared Leto – brechen alte Genderschranken ein, nicht nur durch ihre Kleiderwahl.
Auch im Sport ist der Wandel wahrnehmbar. Jahrzehntelang strotzten Sportidole nur so vor traditioneller Männlichkeit: starke, erfolgreiche Hetero-Männer, die sich durchkämpfen und wissen, was sie wollen. Die Coming-outs der Profifußballer Robbie Rogers und Thomas Hitzlsperger, des Olympiasiegers Tom Daley oder des Footballers Carl Nassib sind bedeutsame Meilensteine, nicht nur für die LGBT-Community, sondern für die Gesellschaft insgesamt.
Auch Spitzensportler, die sich schwach und verletzlich zeigen, markieren die Wende in Sachen harte Männlichkeit. Wenn der NBA-Star Demar DeRozan über seine Depressionen twittert oder sein NBA-Kollege Kevin Love öffentlich über Angstzustände und Panikattacken spricht, leben sie damit eine neue Offenheit vor, die mit alten Klischees bricht. Auch im Fußball brechen Menschen wie Martin Hinteregger oder Francisco Rodriguez Tabus und sprechen über psychische Probleme. Und immer häufiger sehen wir Sportgrößen vor laufender Kamera so richtig heulen: Basketballlegende Michael Jordan bei seiner Dankesrede, als er in die Hall of Fame aufgenommen wurde oder Tennisstar Roger Federer bei zahlreichen Gelegenheiten.
Konstruktive Männlichkeit auch in den Medien
Auch die Medienlandschaft füllt sich langsam mit Figuren, die eine ganz neue konstruktive Männlichkeit verkörpern. Apples Erfolgsserie Ted Lasso sieht sich wie eine Anleitung hin zu einer neuen Männlichkeit. Auch der Netflix-Hit Queer Eye lebt die neue, fröhlich-freundliche Männlichkeit authentisch vor. Die Protagonisten mischen mühelos und spielerisch weibliche und männliche Attribute und stellen eine wertschätzende Kommunikation ins Zentrum der Serie. Und in den internationalen Medien geistert die Figur des »Decarbonize Bro« herum. Männer, die sich für die Dekarbonisierung engagieren – ganz solidarisch und untereinander verbrüdert.
»Der Kampf um gerechte Verteilung der Care-Arbeit wird immer häufiger von Männern getragen.«
Der Wandel ist zäh. Doch die Zukunft lässt hoffen. Denn der größte Hebel, den diese Pioniere neuer Männlichkeiten haben, ist die Rolle, die sie als Väter der nächsten Generation spielen. Väter, die emotional zugänglich, umsorgend und kommunikativ sind, werden eine neue Generation von Männern (und Frauen) aufziehen. So wird der einst feministisch motivierte Kampf um eine gerechtere Verteilung von Care-Arbeit heute auch immer häufiger von Männern getragen, die die Freiheit einfordern, die Familie priorisieren zu dürfen.
Sie haben dem klassischen Karrierestreben den Kampf angesagt und lösen sich von einem Männerbild, das durch beruflichen Erfolg definiert ist. Diese Umdeutung von Vaterschaft weg vom Versorgermodell und hin zur Übernahme von Verantwortung leitet einen radikalen Wandel in der Geschlechterordnung ein. Denn: Geschlechterrollen entstehen durch Sozialisation.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!