Ob Dresdner Frauenkirche, Frankfurter Altstadt oder Berliner Stadtschloss: Aufwändige Rekonstruktionen symbolträchtiger historischer, im Zweiten Weltkrieg oder der unmittelbaren Nachkriegszeit zerstörter Bauten oder Gebäudeensembles gehören an vielen Orten in Deutschland zum Stadtbild. Oftmals sind solche Projekte Gegenstand kontrovers geführter städtebaulicher und geschichtspolitischer Debatten, die eine hohe mediale Aufmerksamkeit erreichen.
In der jüdischen Gemeinschaft fanden solche Rekonstruktionsdebatten bis vor Kurzem keinen Widerhall. In den vergangenen Jahrzehnten wurden zwar etliche neue Synagogen und Gemeindehäuser errichtet, doch handelte es sich fast ausschließlich um zeitgenössisch gestaltete Neubauten. Eine Ausnahme stellt die 2010 eingeweihte rekonstruierte Synagoge in Herford dar, die zumindest in ihrer äußeren Form dem historischen Vorbild des 1938 zerstörten Vorgängerbaus entspricht.
Die seit mehr als einem Jahr wahrnehmbar geführte Debatte um den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge in Hamburg ist daher ein Novum. Schließlich steht erstmals die Rekonstruktion einer großen, in der »Reichspogromnacht« vom 9. November 1938 zerstörten Synagoge im Raum. Doch auch in Frankfurt am Main wird über den Umgang mit Orten debattiert, an denen bis 1938 prächtige Synagogen standen. Welche Argumente werden dabei vorgebracht? Und was bedeuten diese Debatten für die Erinnerungskultur, aber auch für das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland heute? Im Folgenden möchte ich die Debatten in Hamburg und Frankfurt anreißen und wesentliche Akteure zu Wort kommen lassen.
Worum geht es in Hamburg?
Die Synagoge am Bornplatz im Hamburger Grindelviertel wurde 1906 eingeweiht. Das im neoromanischen Stil gestaltete Gebäude bot 700 Männern und 500 Frauen Platz. 1938 wurde es von Nationalsozialisten verwüstet und im Jahr darauf abgerissen. Neben dem Gelände wurde ein Hochbunker errichtet, der Rest des Grundstücks wurde in der Nachkriegszeit als Parkplatz genutzt.
Seit dem 9. November 1988 ziert ein Bodenmosaik der Künstlerin Margit Kahl den unbebauten, in Joseph-Carlebach-Platz umbenannten Ort der ehemaligen Bornplatzsynagoge. Das Kunstwerk zeichnet durch farblich abgesetzte Steine den Grundriss und das Deckengewölbe der ehemaligen Synagoge nach. Es markiert deren Abwesenheit. Der Joseph-Carlebach-Platz ist ein Ort des Gedenkens. In unmittelbarer Nähe steht das historische Gebäude der Talmud-Tora-Realschule, welches seit 2007 das Bildungshaus der Jüdischen Gemeinde beherbergt. Die von der Gemeinde seit 1960 genutzte Synagoge Hohe Weide ist etwa 20 Gehminuten entfernt.
2019 stießen Politiker der Hamburgischen Bürgerschaft und Landesrabbiner Shlomo Bistritzky die Wiederaufbaudebatte an. Im Februar 2020 beschloss die Bürgerschaft einstimmig die Wiedererrichtung der Synagoge am Bornplatz. Zunächst soll eine Machbarkeitsstudie erstellt werden. Der Senat erklärte seine Unterstützung, der Bund sagte zu, die Studie mitzufinanzieren. Im November 2020 beschloss der Haushaltsausschuss des Bundestags zudem, rund 65 Millionen Euro für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen.
»Nein zu Antisemitismus. Ja zur Bornplatzsynagoge« – Unter diesem Motto agiert die Initiative Wiederaufbau Bornplatzsynagoge in der Öffentlichkeit. Die argumentative Verbindung des Projekts mit dem Kampf gegen den Antisemitismus findet sich in den Äußerungen vieler Befürworter der Rekonstruktion. Auf der Webseite der Initiative wird etwa der Grünen-Politiker Cem Özdemir zitiert: »Dass die Bornplatzsynagoge wieder aufgebaut wird, ist die beste Antwort, die man den Nazis von damals geben kann, um sie zu ärgern. Es ist aber auch eine Antwort an die Antisemiten aller Richtungen von heute.«
In der Jüdischen Allgemeinen präzisierte Philipp Stricharz, Erster Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Hamburg, die Argumente für die Rekonstruktion und die damit einhergehende Überbauung des derzeitigen Gedenkensembles: »Ein früherer Wiederaufbau scheiterte auch an den Hamburger Nachkriegsbehörden. (…) Auch heute wollen Antisemiten, dass Judentum unsichtbar ist und Juden sich verstecken müssen. Leere Plätze und Erinnerungstafeln ändern daran nichts. Das macht den Wiederaufbau umso wichtiger.«
Eine mögliche Rekonstruktion der Bornplatzsynagoge wird in Teilen der Stadtöffentlichkeit kritisch gesehen. Auch die Effekte des Wiederaufbaus auf die Gedenkkultur bereiten einigen Beobachtern Sorge. In einem Brief stellten sich 45 Bürger, Wissenschaftler und Kulturschaffende gegen einen historisierenden Wiederaufbau. Es sei besonders problematisch, »dass dadurch das Resultat verbrecherischer Handlungen unsichtbar gemacht und die Erinnerung an dieses Verbrechen erschwert wird«, schrieben die Unterzeichner mit Blick auf die Zerstörung und den späteren Abriss der Bornplatzsynagoge.
Auch in Hamburgs jüdischer Gemeinschaft ist das Vorhaben nicht unumstritten. Barbara Guggenheim zählt zu den Mitbegründerinnen des Jüdischen Salons am Grindel. Sie berichtet: »Ich lebe in Hamburg im Grindel-Quartier, und meine fußläufigen Wege führen oft an oder über den Ort der ehemaligen Bornplatz-Synagoge. Die Lücke der Erinnerung, die die Zerstörung der größten Synagoge Norddeutschlands 1938 hier gerissen hat, berührt mich jedes Mal. Sie könnte für mich als solche bestehen bleiben.« Guggenheim betont: »Sollte doch ein Synagogen-Neubau entstehen, so würde ich mir dafür eine neuzeitliche Architektur wünschen, für die es weltweit, aber auch in Deutschland, bereits sehr gelungene Beispiele gibt.«
Der Rechtsanwalt und Steuerberater Michael Heimann, ebenfalls im Jüdischen Salon am Grindel engagiert, ist sich einerseits der Symbolwirkung des Vorhabens bewusst: »Mit der Rekonstruktion als Verweis auf die in der Pogromnacht 1938 geschändete und später abgerissene historische Bornplatz-Synagoge wird ein Signal gesetzt. Noch aber ist nicht geklärt, was die neue Bornplatz-Synagoge symbolisieren wird. Sie könnte in die Stadt ausstrahlen, dass trotz der Shoah, trotz der Ermordung und Vertreibung, es in Hamburg wieder ein lebendiges Judentum gibt, dass sich aber der schwierigen jüdisch-deutschen Geschichte sehr wohl bewusst ist.«
Heimann mahnt zugleich: »Was aber nicht passieren darf, ist, dass die rekonstruierte Bornplatz-Synagoge eine Kontinuität mit dem deutschen Judentum vor dem Krieg vorspiegelt und damit den nicht zu heilenden Bruch, den die Shoah darstellt, verleugnet.« Rekonstruktion brauche nicht eine Wiederherstellung in allen Aspekten zu bedeuten, so betont er.
Worum geht es in Frankfurt am Main?
Die 1907 eingeweihte Synagoge an der Friedberger Anlage im Frankfurter Ostend beherbergte die neo-orthodoxe Austrittsgemeinde, die Israelitische Religionsgesellschaft. Die Synagoge am Börneplatz wurde 1882 eingeweiht und vom orthodoxen Flügel der Israelitischen Gemeinde genutzt. Beide Gotteshäuser wurden am 9. November 1938 von den Nationalsozialisten geschändet, in Brand gesteckt und anschließend abgerissen. An der Friedberger Anlage wurde 1942/43 ein Hochbunker errichtet. Der Börneplatz blieb über Jahrzehnte in Teilen unbebaut.
1987 wurden dort bei Bauarbeiten für ein Kundenzentrum der Stadtwerke archäologische Überreste der Judengasse entdeckt und abgetragen. Dies löste Proteste aus, die in einer Besetzung der Baustelle durch Demonstranten kulminierten. Das Kundenzentrum wurde schließlich gebaut, zugleich wurden eine Gedenkstätte und das Museum Judengasse eingerichtet.
Der Börneplatz-Konflikt führte zur Entdeckung und Nutzung des Hochbunkers an der Friedberger Anlage durch eine Bürgervereinigung. Seit 1988 richtet die »Initiative 9. November« dort Gedenk- und Kulturveranstaltungen sowie Ausstellungen und Zeitzeugengespräche aus. Die Initiative fordert, die Fundamente der zerstörten Synagoge auszugraben und sichtbar zu machen, zugleich aber auch den Hochbunker »als authentisches Mahnmal von Zerstörung und Vernichtung einer Kultur, die freie Religionsausübung, Toleranz und Vielfalt dokumentieren sollte«, zu erhalten.
Im Dezember 2020 plädierte Marc Grünbaum, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde, im Journal Frankfurt für eine stärkere Rückbesinnung auf die Traditionen der Frankfurter Vorkriegsgemeinden, so auch der Israelitischen Religionsgesellschaft. »Ein Bezugspunkt könnte das Grundstück an der Friedberger Anlage sein«, schrieb er und brachte die Einrichtung eines Jugend-, Kultur und Begegnungszentrums ins Gespräch.
Schon im Oktober äußerte laut einem FAZ-Bericht der CDU-Politiker Thomas Dürbeck in einer Sitzung des Kulturausschusses des Frankfurter Stadtparlaments die Idee, den im städtischen Besitz befindlichen Hochbunker der Jüdischen Gemeinde zu übergeben. Dort könnte, so Dürbeck, eine Synagoge oder ein Gemeindezentrum entstehen. Marc Grünbaum soll den Vorschlag in der Sitzung gelobt haben.
Eine weitere Wiederaufbaudebatte stieß im Januar Frankfurts Bürgermeister und Kämmerer Uwe Becker (CDU) an. In einer Sitzung des Stadtparlaments sagte er, die Bebauung des Börneplatzes in den 80er Jahren sei ein Fehler gewesen. »Ich wäre dafür, wenn die Chance sich mal ergibt, die Börneplatzsynagoge wiederaufzubauen«, sagte Becker der Jüdischen Allgemeinen.
In Bezug auf den Börneplatz äußert sich Marc Grünbaum klar: »Die Zeit für den Wiederaufbau einer Börneplatzsynagoge ist längst verstrichen. Dort sind alle Chancen vertan.« Hinsichtlich des Hochbunkers an der Friedberger Anlage betont Grünbaum: »Ich würde mir wünschen, wenn von diesem Grundstück wieder eine engere Beziehung zur Jüdischen Gemeinde und zu jüdischem Leben in Frankfurt ausgehen würde.« Er erläutert: »Es geht mir darum, dass unsere Jugendlichen zurückkommen an ein Grundstück, bei dem es einen historischen Bezug gibt.«
Mit der derzeitigen Nutzung des Hochbunkers zeigt er sich unzufrieden. Insbesondere die Bedeutung des Ortes als Ausgangspunkt für die weltweite Bewegung der Neo-Orthodoxie komme dort gegenwärtig überhaupt nicht zum Ausdruck. Kurt Grünberg, Psychoanalytiker und Vorstandsmitglied der Initiative 9. November e. V., widerspricht: »Es müsste darum gehen, an diesem Ort an die Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft zu erinnern, aber eben auch an die Zerstörung der Gemeinde und an die Verbrechen der Nazis am 9. November 1938.« Mit dem Abreißen des Hochbunkers so zu tun, als wäre die Geschichte anders gewesen, sei erinnerungspolitisch und kulturpolitisch vollkommen falsch.
Im Hochbunker wird seit 2003 die vom Jüdischen Museum Frankfurt entwickelte Ausstellung »Ostend. Blick in ein jüdisches Viertel« gezeigt. Zur Debatte um die Zukunft des Hochbunkers sagt Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums: »Diese Frage muss man maßgeblich mit der Jüdischen Gemeinde besprechen, weil die zerstörte Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft für die Tradition der Neoorthodoxie von zentraler Bedeutung ist, die heute in der Gemeinde mehrheitlich praktiziert wird. Es wäre daher angemessen, der Gemeinde bei der zukünftigen Nutzung dieses Geländes eine tonangebende Rolle zu geben.«
Was bedeuten die Wiederaufbaudebatten?
Alexandra Klei forscht am Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden zur Synagogenarchitektur zwischen 1945 und 1989. In der Hamburger Rekonstruktionsdebatte betont sie ebenfalls die Rolle der Jüdischen Gemeinde: »Die Gemeinde hat wirklich ein Bedürfnis nach einem Neubau. Man möchte eine andere Präsenz haben. Das hat seine Berechtigung.«
Auch in puncto Gedenken plädiert sie für Rücksicht auf die Bedürfnisse der Jüdischen Gemeinde: »Es ist ein Unterschied, ob die Jüdische Gemeinde sagt, dass sie dieses Denkmal nicht braucht, oder eine nichtjüdische Gesellschaft sagt, wir brauchen diese Erinnerung nicht. Das wäre problematisch.« Man müsse lernen, dass Denkmäler etwas Anderes seien für Nachkommen der Opfergeneration und die Nachkommen der Tätergeneration.
Grundsätzlich sieht Klei Rekonstruktionen skeptisch: »Sie stehen für eine rückwärtsgewandte Vorstellung von Architektur und Stadt.« In Bezug auf den Wiederaufbau von Synagogen differenziert sie: Die Zerstörung einer Synagoge sei vor einem anderen Hintergrund zu sehen als etwa die Bombardierung Dresdens. »Warum sind diese Gebäude zerstört worden, wofür stehen sie, was ist der symbolische Gehalt?« – Diese Fragen seien zu berücksichtigen.
Mirjam Wenzel sieht die Rekonstruktion repräsentativer Bauten in deutschen Innenstädten ebenfalls kritisch. Auch sie unterscheidet diese von der Rekonstruktion von Synagogen: »Die Synagogen wurden beim Novemberpogrom 1938 zerstört. Wenn Jüdinnen und Juden sie heute wiederaufbauen und sich positiv auf die deutsch-jüdische Tradition vor dem Nationalsozialismus beziehen möchten, ist das etwas anderes, als wenn die deutsche Mehrheitsgesellschaft durch die Rekonstruktion repräsentativer Bauten in ihren Innenstädten die geschichtlichen Spuren der NS-Zeit verschwinden lässt.« Ersteres stelle, so Wenzel, den Versuch dar, die Zerstörung der jüdischen Kultur zu überwinden, letzteres leiste geschichtsrevisionistischen Wünschen Vorschub und sei der Erinnerung an den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus abträglich.
In den jüngsten Rekonstruktionsdebatten sieht Alexandra Klei »einen Bruch mit dem, wie man das Thema Synagogenbau bisher in Deutschland behandelt hat«. Auch dass eine Jüdische Gemeinde sage, die bisherige Form der Erinnerung brauche man nicht, sei neu. »Auch Erinnerungskultur ändert sich«, konstatiert Klei.
Der Blick nach Hamburg und Frankfurt zeigt, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland um einen neuen Zugang zum baulichen und kulturellen Erbe der Vorkriegsgemeinden ringt. Zugleich deutet sich eine Diskussion um die Weiterentwicklung des Gedenkens an den 9. November 1938 an. Die Politik artikuliert unterdessen immer deutlicher den Wunsch nach einer größeren Sichtbarkeit jüdischen Lebens. Die hier vorgestellten Rekonstruktionsdebatten könnten daher den Beginn eines längerfristigen Wandlungsprozesses markieren.
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