Menü

Publikationen zum Protest gegen den Hamburger G20-Gipfel »Riot«?

Die Ergebnisse des G20-Gipfels der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer in Hamburg versanken am Ende ebenso im Nebel wie die Proteste gegen dieses Treffen im Sommer 2017. In dessen von Straßenschlachten und Brandstiftungen geprägten Umfeld machte aber ein Wort eine seltsame Karriere: Riot. Was war das los in Hamburg? betitelten entsprechend die Herausgeber ihren Sammelband aus dem Laika-Verlag, der die Ereignisse jener Tage aus Sicht der Vertreter eines radikalen Antikapitalismus interpretiert. Dabei beziehen sie sich auf ein Werk des amerikanischen Dichters und Literaturprofessors Joshua Clover, der in seinem aktuellen Buch unter dem markigen Titel Riot. Strike. Riot unlängst eine neue Ära von Aufständen proklamiert hat. Mit einer gewissen anarchistischen Ironie hingegen hat bei Nautilus das anonyme »Komitee 17« seine G20-Flugschrift Verkehrsprobleme in einer Geisterstadt überschrieben. Der Freiburger Jurist Benjamin Rusteberg wiederum analysiert auf dem Verfassungsblog unter dem Titel »Schrödingers Camp oder die Versammlungsfreiheit vor dem Gesetz« das aus Laiensicht absurd anmutende Tauziehen um ein geplantes Protestcamp, »das gleichzeitig der Versammlungsfreiheit unterfällt und der Versammlungsfreiheit nicht unterfällt«.

Der Gipfel am 7. und 8. Juli 2017 war in mehrfacher Hinsicht auch ein Gipfel der Entfremdung. Hamburg sei den Teilnehmenden als eine Stadt präsentiert worden, deren öffentliches Leben aus der großräumigen Sicherheitszone verbannt war, heißt es im Nautilus-Band: »Den internationalen Gästen wurde eine betäubte Lebenswelt zu Füßen gelegt.« Diesem Politikertreffen, das von einem polizeilichen Großaufgebot so massiv abgeschottet wurde, dass man es auch auf einer Raumstation hätte abhalten können, stand eine militante politische Linke gegenüber, deren Drang zur direkten Aktion in Hamburg die Toleranzbereitschaft selbst ihrer Sympathisanten exzessiv überstrapazierte. Das ergab einen grotesken Antagonismus: Hier eine radikale Opposition, die die Gesellschaftsordnung als prinzipiell falsch und unerträglich ansieht, dort eine Politik, die sich selbst für alternativlos hält. Und irgendwo dazwischen stand die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die spürt, dass es so mit der Welt nicht weitergehen kann. Die mit den Protestierenden manchmal sympathisiert, aber nicht zu radikalen Schritten neigt, obwohl ihr der Glaube, durch Wahlen etwas verändern zu können, zusehends abhandenkommt.

Abhandengekommen ist der radikalen Linken wiederum ihr politisches Subjekt, und das schon seit einem Jahrhundert. Clovers titelgebende Formel Riot. Strike. Riot zielt auf diesen historischen Wandel. Dabei versteht der Autor den Ausdruck »Riot« im Sinne von »Aufstand«, weist aber darauf hin, dass er früher für eine »kriminelle, lose oder wüste Lebensweise« gestanden und erst im 18. Jahrhundert die Bedeutung einer »gewaltsamen Störung des öffentlichen Friedens durch eine Versammlung oder Gruppe von Personen« angenommen habe.

An die Stelle solcher gewalttätiger »Versammlungen«, etwa Hungerrevolten, die rechtlich als »Ausbruch aktiver Rechtlosigkeit oder Unordnung des Pöbels« behandelt wurden, sei im Zuge der Industrialisierung der Streik getreten, dessen Macht sich freilich mit dem »Niedergang der Arbeiterbewegung im Westen« erschöpft habe. Die einst machtvollen, organisierten Streiks seien seit Ende des 20. Jahrhunderts wiederum durch neue »Riots« abgelöst worden, die sich, wie die in Los Angeles im Jahr 1992, oft an Übergriffen der Polizei entfacht hätten. Seinen drei historischen Phasen ordnet Clover spezifische Schauplätze zu: »Für die frühe Ära der Aufstände ist dieser Ort der Markt oder, mehr noch, der Hafen; für die Ära der Streiks die Fabrikhalle und für die neue Ära der Aufstände der Platz und die Straße.«

Vandalismus statt Revolution

Hamburgs Straßen und Plätze schienen einen geradezu idealen Raum zu bieten, um zeitgemäße »Riots« zu inszenieren. Dazu zählte das seit den Tagen der Occupy-Bewegung obligatorische Protestcamp, die »Welcome-to-Hell«-Demo mit Verstößen gegen das Vermummungsverbot und brutalen Polizeiaktionen, ein friedlicher, aber kaum beachteter Massenprotest und endlich Vandalismus mit Brandstiftungen an der Elbchaussee und Plünderungen im Karolinenviertel, die von Teilen der Linken publizistisch als »Riot« gefeiert, von anderen hingegen scharf verurteilt wurden.

In der taz vom 10. Juli 2018 ging Roger Behrens mit den Publikationen von Nautilus und Laika ins Gericht und nannte die »Riots« eine »Konstellation, die man sich als revolutionäre Situation erhoffte und die dann doch nicht mehr war als ein brutales und überdies ziemlich fantasieloses, unüberlegtes Scharmützel«.

Als Hintergrund für eine »revolutionäre Situation« war das G20-Treffen viel zu diffus, aber schon im Vorfeld zeigte der Versuch, Protestcamps einzurichten, dass man den internationalen Politiktourismus mit einem ebensolchen Protesttourismus konfrontieren wollte. Hamburg sollte zum Schauplatz eines großen Schauturniers gegen die Herrschenden der Welt werden, doch die blieben in ihrer Manege unter sich und bekamen von der Asymmetrie zwischen Staatsaktionen und Straßenkrawallen wahrscheinlich am wenigsten mit.

Schon zuvor war das im Artikel 8 des Grundgesetzes verankerte Versammlungsrecht zum Zankapfel geworden. Dort heißt es im ersten Satz: »Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln«, und weil dies ausdrücklich nur für »alle Deutschen« gilt, sollte sich daraus eigentlich keine Erlaubnis für ein internationales Protestcamp ableiten lassen. Zudem gilt auch der zweite Satz: »Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.«

Gerade solche Beschränkungen wollten Behörden und Polizei durchsetzen – wegen der Möglichkeit, dass die Camps zu Rückzugsorten gewaltbereiter Aktivisten werden können, aber auch, weil ein wildes Campieren in Deutschland verboten ist. Es gibt in und um Hamburg attraktive Campingplätze und zahlreiche Übernachtungsmöglichkeiten. Wer meinte, unbedingt in Hamburg selbst gegen den G20-Gipfel demonstrieren zu müssen, hätte hier durchaus unterkommen können – freilich zu ortsüblichen Preisen. Andreas Engelmann und Max Pichel erläuterten jedoch auf dem juristischen Blog juwiss unter dem Titel »Schlaflos in Hamburg«: »Wer aktuell versuchen sollte, in Hamburg bezahlbare Unterkünfte zu erhalten, dürfte es schwer haben. Der Bund bezahlt dabei die Kosten für die Unterbringung der Gipfelgäste, während es den Gegendemonstrant*innen versagt sein soll, in Zelten zu schlafen?«

Rausch ohne Kater?

Niemand hat es den »Gegendemonstrant*innen« versagt, in Zelten zu schlafen, nur wurde zwischen geladenen und ungeladenen Gästen unterschieden, weshalb letztere in Hamburg auch keinen Limousinenservice und kein Begleitprogramm geboten bekamen. Für eine »Konkurrenz zu einem internationalen Gipfeltreffen« fehlte ihnen neben der Einladung auch das politische Mandat. Der Funke, der dann durch Brandstiftungen, Zerstörungen und Plünderungen entstand, ist dann trotz seiner viralen Verbreitung im Netz auch nicht übergesprungen. Stattdessen räumten tags darauf etliche Freiwillige die Spuren der Exzesse auf, was den ernüchternden Eindruck einer für (fast) alle peinlich aus dem Ruder gelaufenen Party hinterließ, die man lieber heute als morgen vergessen wollte.

In der Publikation des Laika-Verlags erscheint der »Riot« hingegen als ein Rausch ohne Kater: »Das kollektive Subjekt, das dort spontan in Aktion trat, die Schwingungen, die zwischen den leuchtenden Augen hin und her waberten, das unausgesprochene Einverständnis und überhaupt das Verständnis füreinander: mit einem mal wie weggeblasen der unerklärliche Erklärungsdruck über das ›praktische politische Engagement‹, das oft gegenüber ›fremden‹ Menschen auftritt. Die Barrieren zwischen ›radikalen Linken‹ und vielfältigen Anderen lösten sich auf in den Barrikaden an den Kreuzungen, endlich standen wir gemeinsam auf einer Seite, e i n esoziale Bewegung.« Was selbst der CSU nur im Bierzelt gelingt, gelang hier angeblich mitten auf den Straßen Hamburgs. Zwar sei St. Pauli auch ein besonders »widerständiges Territorium«, räumt Autor Yann Döhner ein, doch ein Anfang sei gemacht: »Im Vergleich mit defensiven, statischen Aktionsformen, wie etwa passiver Widerstand durch den Versuch der Blockade einer Zwangsräumung, haben Riots das Potential, aktiv die Situation zu bestimmen – und scheinen dabei wesentlich anschlussfähiger für Menschen zu sein, die (noch) nicht aus tiefer antikapitalistischer Überzeugung handeln.« Die anhaltende Debatte darüber böte die »traumhafte Chance, den Riot als politische Handlungsoption im direkten Austausch mit der – (bewusst oder unbewusst) sehnsüchtig auf Befreiung aus der alltäglichen Demütigung wartenden – Nachbarschaft auf den Plan zu rufen«.

Sind die Brandstifter und Plünderer von Hamburg also Leute, auf die wir alle (bewusst oder unbewusst) sehnsüchtig gewartet haben? Weniger ironisch gefragt: Wie hätte jene Nachbarschaft reagiert, wenn es Brandopfer gegeben hätte? Und was wäre geschehen, wenn ein gut organisiertes Terrorkommando die eskalierende Lage für Schüsse auf Polizisten genutzt hätte? Souverän ist nicht, wer den Ausnahmezustand herbeiführt, sondern wer ihn beherrscht. Die Hamburger »Riots« haben das Momentum des Widerstandes gegen G20 nicht politisch umgesetzt, sondern es gegen die Wand gefahren. Dass dabei wieder auch Bankfilialen »entglast« wurden, wird manche Vorstände freuen. Argumente für weitere Filialschließungen und Entlassungen sind jederzeit willkommen.

Das »kollektive Subjekt« eines emanzipatorischen Aufstandes blieb ein bloßer Wunschtraum. Der »Riot« von Hamburg hat sein Ziel nicht erreicht – auch weil die viel beschworene »internationale Gemeinschaft« beim Politikertreffen ein Phantom blieb, ungreifbar und damit fast schon unangreifbar.

Joshua Clover: Riot. Strike. Riot. The New Era of Uprisings. Verso, London/New York 2016, 224 S., 16,99 €. – Karl-Heinz Dellwo/Achim Szepanski/J. Paul Weiler (Hg.): Riot. Was war da los in Hamburg? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion. Laika, Hamburg 2018, 268 S., 16 €. – Komitee 17: G20. Verkehrsprobleme in einer Geisterstadt. Nautilus Flugschrift, Edition Nautilus, Hamburg 2018, 98 S., 10 €.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben