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Bücher über soziale Dissonanzen Risse und Ressentiments

Über Jahrzehnte hinweg konnten Optimisten die Politik seit den 60er Jahren als einen mühsamen, doch beharrlich betriebenen Verständigungs- und Aussöhnungsprozess verstehen. Der zum Kalten Krieg erstarrte Ost-West-Konflikt wurde durch Verträge und vertrauensbildende Maßnahmen eingehegt, man erprobte einen Wandel durch Annäherung, trieb die europäische Einigung voran, und die Veränderung von Lebensweisen und Öffentlichkeit brachte schließlich selbst entschieden Wertkonservative dazu, ihr Verhältnis zu Themen wie Emanzipation, Homosexualität und Abtreibung zu überdenken.

Der Zerfall des Ostblocks und die ökonomische Öffnung Chinas erscheinen wie unverhoffte Belohnungen solcher Bemühungen, und eine Zeit lang schien es so, als würden nicht nur beide Teile Deutschlands, sondern auch die Staaten der EU und die Welt insgesamt friedlich zusammenwachsen. Nicht zuletzt das Internet erschien als große Chance zur globalen Teilhabe aller an den Errungenschaften der Menschheit. All das erwies sich aber als allzu optimistisch. Der britische Politologe David Runciman analysiert deshalb unter dem reißerischen Titel So endet die Demokratie nicht deren unmittelbar bevorstehendes Ableben, sondern vielmehr deren »Midlife-Crisis«, zu der auch eine gewisse Ruppigkeit im politischen Habitus gehöre.

Auf internationaler wie auf nationaler Ebene tun sich weltweit Risse auf, entstehen Ressentiments, die rein rational kaum zu fassen sind. Der israelische Journalist Nadav Eyal hat für seinen Band Revolte. Der weltweite Aufstand gegen die Globalisierung rund um den Erdkreis recherchiert und dabei auch deutsche Neonazis interviewt: »Das möchte ich nicht!« sagt einer von ihnen »mit ausdrucksloser Miene«, als Eyal ihm erzählt, dass derzeit »Israelis in Scharen nach Berlin übersiedeln«. Damit endet das Gespräch, das im Grunde nie so richtig begonnen hatte, weil seinem Interviewpartner dabei der rechte Resonanzboden fehlte, auf dem seine wahren Ansichten plausibel klingen könnten.

Während Rechtsextremen vor den »Scharen« der Israelis graut, zeigt Oliver Bullough in seinem Band Land des Geldes, wie Kleptokraten und Wirtschaftskriminelle aus der Ukraine, Afrika und Ländern anderer Regionen Milliarden auf Konten in der Schweiz, auf karibischen Inseln und zunehmend auch in den USA vor der Justiz und den Finanzämtern in Sicherheit bringen. Doch nicht darüber geraten politische Eiferer in Rage, sondern über den arbeitswilligen Arbeitsmigranten, der das Asylrecht als Türöffner benutzt. Dass Rassenhass den Klassenhass überwiegt, dürfte den einfachen Grund haben, dass milliardenschwere Ganoven sich eher am Genfer See oder in London ansiedeln als in Finsterwalde oder Bebra. Man fürchtet vor allem den Fremden, der einem zu nahe kommen könnte.

Der verborgene Rassismus

Das zu verhindern, war Ziel der Bewegung »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida), der es um Europa so wenig ging wie um abendländische Traditionen. In seinem Buch Der Riss beschreibt der Journalist und Romancier Michael Kraske anschaulich, »wie die Radikalisierung im Osten unser Zusammenleben zerstört«. Er beginnt dies mit der Geschichte seiner eigenen, gelungenen Sozialisation als westlicher Student in Leipzig, in die sich in den letzten Jahren und angesichts steigender Flüchtlingszahlen aber zunehmend ein »mulmiges« Gefühl eingeschlichen habe: »Ein Kollege vertraute mir in einem unserer zunehmend besorgten Gespräche an, er habe das Gefühl, seine Verwandten könnten Gemeinschaft und Lebendigkeit nur noch dann spüren, wenn sie zusammen auf ›die da oben‹ schimpften.«

Das ist recht vage und allgemein formuliert, und warum das so ist, wird deutlich, wenn Kraske solches Schimpfen konkretisiert und die Ausländerfeindlichkeit im Osten als den »als Sorge und Angst verniedlichte(n) Rassismus von Pegida« kenntlich macht. Es sei etwas »ins Rutschen gekommen, und das Unbehagen rückt näher«, urteilt Kraske. Als literarisch geschulter Autor spürt er gerade in dieser verniedlichenden Vagheit die fatale Verbindung einer ausgeprägten Ablehnung des Anderen mit der Verharmlosung der eigenen Intoleranz. So zitiert er einen Arzt, der ihm am Rande eines Festes von seltsamen Erlebnissen mit seinen Patienten berichtet habe. Auf seine Frage, ob er gegen irgendwas allergisch sei, habe einer mit »Ja, gegen Ausländer«, geantwortet.

Angesichts der Pöbeleien gegen eine aus dem Westen stammende Flüchtlingshelferin in Bautzen schreibt Kraske: »Aber im Kern dreht sich der Streit um ihre Person nicht um Ost gegen West, sondern um fundamental unterschiedliche Gesellschaftsmodelle. Die einen wollen in einer homogenen Gemeinschaft ethnisch und kulturell vermeintlich gleicher Menschen leben und wehren sich aggressiv gegen Abweichler und Fremde. Für die anderen ist es selbstverständlich, dass Menschen vielfältig sind und Respekt sowie gleiche Behandlung verdienen. Die einen sind bereit, auf einfache Lösungen autoritärer Politik zu vertrauen, die anderen akzeptieren, dass demokratische Prozesse kompliziert sind und halten unterschiedliche Interessen aus. Das ist der große Riss.«

Man muss hier Kraskes Bemerkung unterstreichen, dass sich solche fundamentalen Unterschiede nicht pauschal auf ein Ost-West-Schema übertragen lassen. Doch die Wiedervereinigung führte zusammen, was sich über Jahrzehnte hinweg sehr unterschiedlich entwickelt hatte. Zu den eingangs erwähnten Errungenschaften zählte auch die mühsame und oft unwillige Integration von Millionen Zuwanderern im Westen, die man zunächst als »Gastarbeiter« betrachtet hatte, um dann endlich einzusehen, dass sie bleiben würden. Die Zeit der Wiedervereinigung war auch eine Zeit, in der sich diese Deutschen mit »Migrationshintergrund« zunehmend etabliert hatten und teils schon in zweiter Generation ihre Ansprüche und Ansichten öffentlich artikulierten und geltend machten. Zu den Zumutungen und Härten in einem bundesrepublikanisch geprägten Deutschland kam für die Ostdeutschen so auch die Erfahrung, dass sich viele jener »Ausländer«, die der erwähnte Allergiker nicht vertrug, im vereinten Deutschland heimischer zu fühlen schienen als die Bürger aus dem damals aparterweise »Beitrittsgebiet« titulierten Osten.

Ein anderer Takt

Da wirkt es wie ein Wink des Weltgeistes, dass gerade jetzt William Melvin Kelleys Roman Ein anderer Takt wiederentdeckt wird. Kelley (1937–2017) war ein Kind des jungen afroamerikanischen Bürgertums, dessen Hoffnungen, den tief eingefleischten Rassismus der USA zu überwinden, bis heute unerfüllt geblieben sind. Sein Romandebüt A Different Drummer erzählt, wie der afroamerikanische Farmer Tucker Caliban im Juni 1957 sein Land versalzt, sein Vieh schlachtet, sein Haus niederbrennt und so den Exodus der gesamten schwarzen Bevölkerung aus seinem Bundesstaat einleitet. Später orientierte sich Kelley stark an den Werken des späten James Joyce, und so wirkt sein Buch auch wie der Abschiedsgruß einer afroamerikanischen Avantgarde an Bücher wie Onkel Toms Hütte und Wer die Nachtigall stört. Das Motto zu dieser merkwürdigen Parabel hatte er bei Henry David Thoreau entlehnt: »Wenn jemand mit seinen Gefährten nicht Schritt hält, so tut er es vielleicht deshalb nicht, weil er einen anderen Trommler hört.« Darauf folgte ein Ratschlag, wie ihn ein Neuengländer des frühen 19. Jahrhunderts noch recht unbesorgt geben konnte: »Lasst ihn zu der Musik marschieren, die er hört, wie immer ihr Takt und wie fern sie selbst auch sei.« Das gerade war der Grund für viele Menschen gewesen, in die USA auszuwandern, doch auch Thoreau hat noch den Ausbruch des Bürgerkriegs erlebt, nach dessen Ende der Takt der USA zunehmend vom Norden vorgegeben wurde. Zumindest oberflächlich und aus offizieller Sicht, denn während sich die USA zur führenden Weltmacht entwickelten, lebten alte Konflikte und Dissonanzen fort – und entwickeln wie der inzwischen als Mord eingestufte Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd während einer brutalen Festnahme fatale Sprengwirkungen.

Das Vertrackte an Thoreaus so harmlos anmutender Metapher ist, dass sie Einklang zwischen Menschen nicht ausschließt, aber auch nicht befördert. Der Trommler ist ja derjenige, der den Takt vorgibt, nach dem andere marschieren sollen, und wer einmal in Reih und Glied marschiert, kann sich nicht einfach einen anderen Takt aussuchen. Dem Wunsch nach Einklang aber ist der nach Führung nicht fremd, und Einklang kann auch durch das gemeinsame Bedürfnis nach einem anderen Takt entstehen. Der »weltweite Aufstand gegen die Globalisierung«, den Nadav Eyal beschreibt, ist auch ein Aufstand gegen einen verordneten Gleichtakt, den liberale Intellektuelle im Hinblick auf Liberalität und Minderheitenschutz anstreben, während große Teile der Bevölkerung zunehmend unwillig hinterherhinken, weil die Veränderungen ihnen zu schnell kommen.

Ein gewisses Taktgefühl

Gesellschaftliche Lernprozesse wie etwa die Entwicklung der Arbeiterbewegung bedürfen einer positiven Verstärkung, um internalisiert zu werden. Liberalität muss sich lohnen, und das ist im Falle eines Kleinstädters, der statt der ersehnten Busverbindung in die Kreisstadt ein Flüchtlingsheim bekommt, eben nicht zu spüren. Gäbe es die Busverbindung, so könnte sich jener Kleinstädter in der Kreisstadt vielleicht der Erfahrung öffnen, dass die Zuwanderung auch ausgezeichnete Ärztinnen und Gemüsehändler ins Land gebracht hat. Der Wert der Vielfalt liegt ja darin, dass er die Wahlmöglichkeiten vermehrt. Und wenn Vielfalt als Bedrohung sozialer Homogenität empfunden oder dargestellt wird, wie Kraske es zeigt, dann ist an dieser Homogenität möglicherweise etwas faul.

Das Ziel des Brexit, schreibt Runciman, sei durch den Slogan »Take back control« sehr öffentlichkeitswirksam beschrieben worden, weil er versprach, das Selbstbestimmungsrecht der Briten zur Geltung zu bringen: »Im Ergebnis übertrug er jedoch mehr Macht auf die Exekutive, der die Aufgabe zufiel, umzusetzen, was das britische Volk wollte. Nun ringt die Exekutive mit dem britischen Parlament in dem Bestreben, diese Machtbefugnisse auch nach dem Vollzug des Brexits zu behalten.« Erkennen Sie die Melodie, die nicht nur in Europa derzeit en vogue ist? Nicht nur der Brexit zeigt, so Runcimans Schlussfolgerung, »wie einfach die populäre Forderung nach mehr Demokratie letztlich die gegenteilige Wirkung haben kann«.

»Mehr Demokratie wagen« heißt eben nicht, dass alle nun einem Trommler folgen, sondern eine Zivilisierung und Kultivierung des Streitens. Hierzu bedarf es allerseits eines gewissen Taktgefühls im Umgang mit Menschen und deren Eigenheiten, denn was intellektuell erfassbar ist, wird nicht von jedem sofort und gleich empfunden.

Oliver Bullough: Land des Geldes. Warum Diebe und Betrüger die Welt beherrschen. Kunstmann, München 2020, 333 S., 25 €. – Nadav Eyal: Revolte. Der weltweite Aufstand gegen die Globalisierung. Ullstein, Berlin 2020, 496 S., 29,99 €. – William Melvin Kelley: Ein anderer Takt. Hoffmann & Campe, Hamburg 2019, 304 S., 22 €. – Michael Kraske: Der Riss. Wie die Radikalisierung im Osten unser Zusammenleben zerstört. Ullstein, Berlin 2020, 352 S., 19,99 €. – David Runciman: So endet die Demokratie. Campus, Frankfurt/M. 2020, 232 S., 19,95 €.

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