Menü

Die Chancen sozialdemokratischer Politik angesichts der internationalen Wahlergebnisse Ruf nach Veränderung

Was haben Emmanuel Macron und Jeremy Corbyn gemeinsam? Auf den ersten Blick wenig bis nichts. So wenig wie Bernie Sanders und Matteo Renzi, ein anderes Beispiel. Aber es lohnt der zweite Blick. Denn bei aller persönlichen und programmatischen Unterschiedlichkeit solcher Führungsfiguren, die international in den vergangenen Jahren im Mitte-links-Spektrum mehr oder weniger überraschend nach oben kamen: Ihre Anhängerschaften wollten Veränderung. Für Wahlsiege hat das nicht immer gereicht. Aber es wird etwas deutlich, aus dem man lernen kann.

Die große linke Strategiefrage in diesen Zeiten des wachsenden Populismus ist ja, wie sich in den verunsicherten Wohlstandsgesellschaften seriöse Programmatik und emotionale Überzeugungskraft glaubwürdig verbinden lassen. Gerechtigkeit und Individualismus, Gesetzgebung und Lebensgefühl. Der Abstand vieler Menschen zur Welt der politischen Institutionen ist derart groß geworden, dass eine zusätzliche Übersetzungsleistung nötig ist, in beide Richtungen.

Das geht nur über die jeweiligen Führungsfiguren, deshalb wird dieser internationale Blick so wichtig. Und die erste Erkenntnis dabei ist: Offenkundig erklärt eine klassisch programmatische Betrachtung längst nicht alles. Weder, warum in Großbritannien ein alter Mann wie Corbyn mit altlinken Positionen plötzlich die Sehnsucht nach einem neuen Wir-Gefühl trifft und er nach einem etwas längeren Wahlkampf womöglich heute Premierminister wäre. Noch, warum ausgerechnet im strukturbeharrenden Frankreich ein jugendlich auftretender Macron mit viel liberaler Reformrhetorik und trotz normalerweise systemstabilisierendem Mehrheitswahlrecht die Traditionsparteien derart pulverisieren konnte.

Dass die besten Chancen immer diejenigen haben, die als die konsequentesten Verächter des bisherigen Establishments gelten, war in den USA seit Ronald Reagan gelernte Erfahrung. Aus europäischer Sicht wurde dieses Grundmuster lange als US-typisch abgetan. Als Reflex in einem riesigen Land mit politisch wenig informierter und interessierter Bevölkerung. Als eine Art übergreifender Showeffekt dort, wo Show zum Teil die Politik ersetzt. Als irrationales Prinzip, dessen vorläufiger Tiefpunkt mit Donald Trump erreicht ist.

Aber spannend ist eben doch das Rationale an diesem Irrationalen. Nach Wahlen scheint dieses »Trotzdem-Rationale« in der Medienberichterstattung kurz auf, zum Beispiel in plötzlich sehr beflissenen Berichten über darniederliegende ehemalige Industrieregionen im Norden der USA. Parallelen zur Lage und Stimmung in manchen Regionen Ostdeutschlands oder auch Osteuropas sind durchaus unübersehbar. Jedenfalls gibt es so etwas: einfache realitätsnahe Begründungen für eine realitätsferne, ja irrationale Politik.

Dies ist das Spannungsfeld, in dem sich rationale soziale Politik heute weltweit bewähren muss. Und in den meisten europäischen Ländern gehören dabei sozialdemokratische oder der Sozialdemokratie nahestehende Parteien derzeit nicht gerade zu den Gewinnern dieses Trends, viele sind eher im Abwärtsstrudel. Der wichtigste Grund: Sie werden letztlich doch als funktionärshafte Repräsentanten des Alten, des Bestehenden wahrgenommen, selbst wenn sie aus der Opposition heraus antreten.

Die populistische Antwort lautet, dieses Bestehende rhetorisch in Grund und Boden zu rammen. Nicht selten funktioniert das bei Wahlen. Die seriöse sozialdemokratische Antwort jedoch kann nur sein, eine neue Zukunftserzählung zu entwickeln und zu verkörpern, die die Veränderungshoffnung positiv aufgreift. Programmatische Einzelpunkte wie Steuer- oder Rentenkonzepte müssen dabei die Solidität garantieren. Aber im Zentrum muss die emotionale Botschaft stehen, der gesellschaftliche Aufbruch. Neues Anpacken, neue Ziele, neue Wege.

Nun wird in Deutschland immer eingewandt, die Leute wollten im Grunde keine große Veränderung. Schon Gerhard Schröder war vor seinem Wahlsieg 1998 sehr bewusst dagegen, weitreichende Änderungen zu versprechen. Der Satz, er wolle »nicht alles anders, aber vieles besser machen«, war Ausdruck dessen. Die Wahlkampfberater setzten darauf, dass die Menschen zwar Helmut Kohl nach 16 Jahren loswerden, im Grunde aber – von Einzelentscheidungen abgesehen – dessen Politiklinie nicht verlassen wollten.

Andererseits: Das war eine Sondersituation. Wenn der Überdruss gegenüber der alten Regierung die gesamte Stimmung prägt, kann eine Opposition so oder so nicht viel falsch machen. Die Warnung vor der falschen Alternative ist da angebracht. In der Geschichte linker Parteien hat es immer wieder diesen vermeintlichen Gegensatz zwischen ethisch-moralischen Ansprüchen und pragmatisch-konkreten Politikkonzepten gegeben. Nicht selten aber hat der Streit zwischen beiden Linien die Wahlaussichten zerstört. Dabei ist doch klar: Das Publikum nimmt immer nur ganzheitlich wahr. Rechten Parteien reicht zum Wahlerfolg häufig die geräuschlose Verwaltung des Gemeinwesens, linken reicht das höchst selten.

Zuerst muss eine Sozialdemokratie, die ein Land führen will, überhaupt erst mal als regierungsfähige Alternative auftreten. Aus der großen Koalition heraus ist der Beweis der Regierungsfähigkeit dabei weniger ein Problem als der Auftritt als Alternative. Angela Merkels stärkste strategische Waffe bleibt es ja, sozialdemokratischen Forderungen so weit entgegen zu kommen, wie es die Union soeben noch toleriert. Davon kann man sich dann zwar immer noch »originalsozialdemokratisch« abgrenzen, aber die Konturen verschwimmen. Deshalb aber wird es umso wichtiger, die eine große Geschichte zu erzählen, nicht nur viele kleine.

Hier treffen sich, jenseits der Programmatik, Macron und Corbyn und so manch anderer, der es schafft, den Leuten Hoffnung zu machen. Das Gefühl, mit einer Stimmabgabe wieder etwas bewegen zu können, ist für sich genommen unideologisch und manchmal sogar unpolitisch. Anders sind die widersprüchlichen Ergebnisse vieler Wahlen und fast aller Volksentscheide kaum interpretierbar. Das Gefühl, etwas bewegen zu wollen, weckt andererseits aber immer gesellschaftliches Engagement. Es überbrückt in Form neuer Erwartungen die Distanz zwischen System und Publikum. Die Kunst guter Politik bleibt es, daraus etwas Produktives zu machen. Das ist oft schwer genug, siehe das Brexit-Votum.

So wie die Demokratie von jeder Generation neu gegen ihre Gegner verteidigt werden muss, muss sie für ihre Anhänger in jeder Generation neu begründet werden. Letzteres verschwindet als Herausforderung im politischen Alltag zu oft aus dem Blickfeld. Wahrlich nicht irrelevant ist da aber auch die in Deutschland gerade wieder einmal begonnene Diskussion darüber, warum eigentlich die vielen Pflichtschulstunden in Sozialkunde oder Geschichte so wenig an Politikverstehen bewirken und was offenkundig beim modernen politikdidaktischen Ansatz schiefläuft.

Gleichwohl reicht es nicht, mit dem Finger auf die Schulen oder die Elternhäuser zu zeigen: Positive Bindung an die Demokratie entstand historisch meistens, wenn um etwas gekämpft wurde. Die Ostverträge, die liberale Öffnung der Gesellschaft nach dem Spießertum der Adenauer-Zeit, später das Ende der Ost-West-Spaltung, der Atomausstieg, sogar der Verzicht auf Studiengebühren. In der digitalen Welt wird dieses Kämpfen in sozialer Hinsicht komplizierter. Manchmal auch abstrakter, weil die Emotionen nicht in der gesellschaftlichen Begegnung entstehen, sondern in allerlei Echokammern.

Aber die Frage nach erfolgversprechenden sozialdemokratischen Strategien wird doch gerade deshalb noch stärker zur Frage nach inhaltlichen Zielen, die zugleich Gefühle wecken. Das Ende des langen neoliberalen Zeitalters in Großbritannien zeichnet sich ab, dieser Kampf weckt starke Emotionen. Die Diskreditierung großer Teile der französischen Eliten hat viel mit der Undurchlässigkeit der alten Gesellschaftshierarchie in Frankreich zu tun, aber auch mit der traditionellen Dialogunfähigkeit zwischen den alten politischen Lagern.

Wer neu ist und von außen kommt, tut sich leichter, die Hoffnung, da etwas verändern zu können, politisch zu nutzen. Das war oft eine bittere Erfahrung für alle, die seit Jahren mit viel Engagement in den Parlamenten und politischen Institutionen für Verbesserungen gekämpft hatten. Eine Erfahrung aber, mit der man in der tagesbezogenen Stimmungsdemokratie, in der alles jetzt und sofort und nur aus der Gegenwart heraus bewertet und beurteilt wird, stets rechnen muss.

Umso wichtiger wird es, wenn Parteien gesellschaftlich breit verankert sind, wie es in Deutschland alles in allem immer noch eher der Fall ist als in vielen Nachbarländern. Das ist nicht zuletzt wegen des Föderalismus so, wegen des Verhältniswahlrechts und des Repräsentationsprinzips auf allen Ebenen bei vergleichsweise wenigen direktdemokratischen Elementen. Auch wenn die Kehrseite nicht wegzudiskutieren ist: Wo Politik erkennbar zum Berufsweg wurde, der bedroht ist, sobald demokratische Wechsel zustande kommen, werden neu entstehende Parteien – siehe Piraten und dann eben sogar die AfD – erst mal mit einem Sympathieüberschuss ausgestattet, selbst wenn sie hinterher nichts einlösen.

Die europäischen und nordamerikanischen Wahlergebnisse der vergangenen Jahre waren keine zusammenhanglose Ansammlung nationaler Ereignisse, sondern ergeben bei all ihren Besonderheiten ein größeres Bild. Es ist noch lange nicht entschieden, ob sich daraus ein Trend verfestigt, der aus Christ- und Sozialdemokraten mitteleuropäischer Prägung irgendwann »Systemparteien« im negativen Sinn macht, zur emotionalen Entfachung eines großen Aufbruchs nicht mehr in der Lage. Im Gegenteil, hier liegt die Chance: Das System der offenen Demokratie, das es wahrlich zu verkörpern lohnt, stärkt man dauerhaft nur durch einen ständigen Aufbruch, der Junge und Skeptische neu bindet.

Jede erfolgversprechende Strategie braucht neben dem Nachweis, solide regieren zu können, viel jungen Elan und die Ausstrahlung von Neuem. Das umzusetzen ist ungeheuer schwer in einer Gesellschaft, die auf Neuigkeiten programmiert ist und jegliche Idee binnen Tagesfrist in einen alten Vorschlag verwandelt. Es ist überhaupt nur vorstellbar in Kombination mit einer unbefangenen, optimistischen Anmutung. Aber es ist möglich, das zeigt der Blick in die internationale Arena.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben