Am 28. September 2017 wäre Ruth Römer 90 Jahre alt geworden. Der von ihr selbst edierte Sammelband kleinerer Schriften Sprache zur Sprache gebracht erschien kurz nach ihrem Tod am 21. Juni 2011. In der ihr eigenen selbstironischen Bescheidenheit hatte sie in einem Gespräch dieses Buch mit der Bemerkung angekündigt, nur »etwa 30 Menschen dürften mich noch kennen«.
Höchste Zeit also, an ein Leben zu erinnern, das in vieler Hinsicht ungewöhnlich und erinnerungswürdig war, als deutsch-deutsches Schicksal und als Weg einer Frau in der damals so männerdominierten deutschen Hochschullandschaft.
In ihrem autobiografischen Essay Erinnerungen an Ernst Bloch (1990) konstatierte Ruth Römer lapidar: »Ich bin ohne Familie, ohne Vaterland und ohne Religion aufgewachsen.« Ruth Kirschner, so ihr Name vor der Verheiratung mit Karl Römer, wuchs als uneheliches Kind einer alleinerziehenden Fabrikarbeiterin auf. Ihr Vater Otto Kipp, der lange Zeit irrtümlich für tot gehalten wurde, war ebenfalls Fabrikarbeiter und dazu Kommunist, weshalb er 1933 emigrierte. Als verwundeter Spanienkämpfer wurde er an die Deutschen ausgeliefert und nach Buchenwald deportiert. Er konnte als Kapo-Mann überleben und hat zur Rettung zahlreicher Häftlinge beigetragen. Jorge Semprún, der Otto Kipp das Leben verdankte, hat über seine Rettung in dem Buch Der Tote mit meinem Namen geschrieben.
Im Haushalt von Mutter und Großmutter, die sie erzogen, gab es kein einziges Buch; sie habe von beiden »nie etwas Wissenswertes erfahren«. Vom Vater, den sie nach dem Krieg kennenlernte, erhielt sie den Impuls, Kommunistin und 1946 Mitglied der SED zu werden, aber ihrer Lernbegier und ihrem Wissensdurst war der moskauhörige und kenntnisarme, die Intellektuellen verachtende Kommunist nicht gewachsen.
So fand sie als Arbeiterkind mit einem Stipendium versehen ihre Heimat an der Universität Leipzig im Kreis der Studierenden und Lehrenden. Ihre Studienfächer waren Germanistik, Philosophie und Geschichte. 1954 heiratete sie Karl Römer, über den sie öffentlich wenig sagte. Umso gewichtiger war ihr emphatisches Eingeständnis: »diese Ehe ist das Beste in meinem ganzen Leben«.
Mehr Worte hat sie über ihren Lehrer, Förderer und Freund Ernst Bloch verloren. Sie war Schülerin und Mitarbeiterin des von ihr verehrten Philosophen, befreundet mit ihm und Karola Bloch bis zu seinem Tod in Tübingen. Im Gegensatz zu Hannah Arendt und Martin Heidegger, die sich auf gleicher Augenhöhe bewegten, war sich Ruth immer der Überlegenheit Blochs bewusst. Aber sie scheute nicht vor Kritik zurück. Als Bloch nach dem Bau der Berliner Mauer von Leipzig nach Tübingen wechselte, bemängelte sie seine nachträgliche, aus ihrer Sicht unredliche Verschleierung seiner politischen Irrtümer in der DDR. Und dass sie, in unausgesprochener Solidarität mit Karola, die Eitelkeit Blochs verspottete, belegt ihr ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Sie amüsierte sich über das an Bloch beobachtete »Phänomen der Selbstinszenierung«, ja »eine gewisse Schamlosigkeit, ohne die höhere geistige Existenzen offenbar nicht auskommen«. »Bloch«, schrieb sie, »verfügte über ein hinreichendes Talent zur Selbstinszenierung. Fast alles, was vorkam, hatte er besser, schlimmer oder tiefer oder einfach interessanter erlebt.«
1960, ein Jahr vor dem Mauerbau flüchteten Karl und Ruth Römer aus der DDR. Mit der Anstellung bei der Gesellschaft für deutsche Sprache in Lüneburg wechselte sie von der Philosophie zur Germanistik. 1963 schließlich berief Hugo Moser sie als Assistentin an seinen altgermanistischen Lehrstuhl an der Universität Bonn. Hier begegneten sich zwischen Mauerbau und 68er-Zeit zwei deutsche Existenzen, die verschiedener kaum sein konnten: Hugo Moser, ein liberaler Konservativer, und Ruth Römer, die sich selbst als Neubürgerin in der BRD als extrem links einschätzte. Sie war und blieb zeitlebens aller realsozialistischen Enttäuschungen zum Trotz Utopistin und vor allem Antifaschistin. Ob das Moser bewusst war, als er, dem Kalten-Kriegs-Denken der Adenauerzeit verhaftet, vielleicht glaubte, einer der kommunistischen Diktatur entronnenen Renegatin geholfen zu haben?
Ich bin beiden im Sommersemester 1966 begegnet. Als 21-jähriger Germanistikstudent im vierten Semester nahm ich an Hugo Mosers Hauptseminar »Übungen zum Nibelungenlied« teil. Meine Hauptseminararbeit »Die Gestalt Rüdigers« betreute seine Assistentin Ruth Römer. Ich erinnere mich, dass sie, im Auftrag ihres Chefs, am Wort »Heldentod« in meiner Arbeit Anstoß nahm. Im Rückblick von heute kann ich mir das besser als damals erklären. Hugo Moser waren kurz vor seinem Amtsantritt als Bonner Rektor im Herbst 1964 von Walter Boehlich in einem Artikel der ZEIT völkische Formulierungen in Publikationen während des Dritten Reiches nachgewiesen worden. Vermutlich war Moser deshalb der in der fiktiven Welt der Nibelungen nicht unpassende Begriff »Heldentod« im Blick auf das reale Sterben der Soldaten im Weltkrieg obsolet geworden.
Darüber wurde weder in der Sprechstunde Ruth Römers noch im Plenum des Seminars gesprochen. Vor 1968 war ja das Beschweigen der nationalsozialistischen Zeit gang und gäbe. Ob Hugo Moser und Ruth Römer über die deutsche Vergangenheit und ihre so unterschiedlichen Lebenswege je gesprochen haben? Ich weiß es nicht. Ruth Römer blieb an der Universität Bonn bis 1971. Sie entzog sich Moser und der Altgermanistik schon mit ihrer Dissertation Die Sprache der Anzeigenwerbung. Den Befreiungsschlag schaffte sie mit ihrem 1985 erschienenen Buch Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland. Den Sprachhistoriker Hugo Moser hat sie in dieser monomanisch im Alleingang verfassten Darstellung mit keinem Wort erwähnt. Aber sie beschäftigte die Frage, welchem Druck Wissenschaftler in der NS-Zeit ausgesetzt waren. Wie weit willfährige Anpassung im Wissenschaftsbetrieb damals unvermeidlich war, lässt sie am Ende ihres Buches offen: »Wir haben darüber kein, noch kein Urteil. Aber das krampfhafte Verschweigen der Vergangenheit legt den Verdacht nahe, dass die Unterstützung für die nationalsozialistische Herrschaft freiwillig geleistet worden ist.«
1971 ging Ruth Römer nach Bielefeld, nach ihrer Habilitation lehrte sie dort als Professorin für deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik bis zur Emeritierung 1990. In der Lehrerausbildung konnte sie den Reichtum ihrer Erfahrungen und die Breite ihres Wissens über das fachwissenschaftliche Fundament hinaus fruchtbar werden lassen.
Gedanken über die Wut
Erinnerungspolitisch wurde sie in Bielefeld aktiv. Ohne sie wäre wohl der deutsch-jüdische Sprachhistoriker und Ethnologe Sigmund Feist, ein Spezialist für die gotische Sprache und die Geschichte der jemenitischen Juden, gänzlich vergessen. Später, längst emeritiert, fühlte sie sich durch Angriffe Bielefelder Studenten und Kollegen verletzt, sie stehe rechts, weil sie einen Bielefelder Historiker und Hochschulbibliothekar gegen Anwürfe linker Antifaschisten verteidigt hatte. Als schon 80-Jährige ließ sie sich als Herausgeberin einer dubiosen Dokumentation einspannen. Die Texte der im rechtsextremen Grazer Aula-Verlag erschienenen Broschüre Geistige Brandstifter von Links. Wie Anti-Demokraten an den Hochschulen den Ton angeben. Am Beispiel Bielefeld (2007) sind eindeutig nicht von ihr zusammengestellt, geschweige von ihr verfasst worden. Bereits 1990 hatte sie, Antifaschistin und Antikommunistin zugleich, in ihren Sprachkritischen Anmerkungen zum Historikerstreit die Streitgräben übersprungen.
Abschließend sei ihre Glosse »Wut als Tugend« von 1993 ihrer Aktualität wegen zitiert. Nach den Mordanschlägen in Mölln und Solingen wurde Wut kollektiv inszeniert, etwa in der niederländischen Postkartenaktion »Ich bin wütend wegen Ausländerfeindlichkeit«. Ruth Römer kommentierte: »Viele Menschen rühmen sich, Wut zu haben. Wut ist zur Tugend der Gerechten geworden, über uns bricht eine Welle der Wut herein.« Die Wut gehöre aber nicht zu den antiken und christlichen Kardinaltugenden, sondern als »ira« zu den sieben Todsünden.
»Wutbürger« wurde 2010 zum Wort des Jahres, nicht etwa zum Unwort gewählt (das hieß »alternativlos«). Zum Hintergrund gehörten die durch Thilo Sarrazin ausgelösten Debatten besonders in der bürgerlichen Mittelschicht wie auch die Demonstrationen gegen Stuttgart 21. Der »Wutbürger« wurde durch die Wahl des Wortes nicht etwa abgelehnt, sondern in gewisser Weise gekürt, ja ausgezeichnet. Ihm sei Ruth Römers Empfehlung ans Herz gelegt: »In unserer Zeit, die so viel Unrecht und Gewalt erlebt, wollen ausgerechnet die Weltverbesserer mit ihrer Wut die Welt wieder einrenken, heil machen. Es ist aber jedem Menschen anzuraten, sich sofort aus dem Staub zu machen, wenn er einem Wütenden begegnet, einem Wüterich, der sich vielleicht noch etwas auf seine Wut einbildet. Wer Wut im Bauch hat, schlägt gleich zu.«
Entschiedenheit und Besonnenheit zeichneten das ungewöhnliche Leben Ruth Römers aus.
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