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Welche Folgen hätte ein Rechtsruck für die EU? Sand im Getriebe des Einigungsprojektes

Seit 1979 konnten die Bürger/innen der Europäischen Union das Europäische Parlament achtmal direkt wählen. Die bevorstehenden neunten Wahlen im Mai erzeugen nun allerdings so massive Ungewissheiten, wie bislang kaum eine andere. Die jüngste Entscheidung des Europäischen Rates für einen »Halloween Brexit« – die Verschiebung des Austritts Großbritanniens aus der EU auf den 31. Oktober – stellt einen weiteren Kulminationspunkt dar, macht sie doch die Teilnahme der Briten an der bevorstehenden Europawahl unumgänglich. Dies wirft drängende Fragen auf: Wie wahrscheinlich ist es im Lichte dieser Entwicklungen, dass die antieuropäischen und euroskeptischen Kräfte ein stattliches Ergebnis erzielen? Welche Folgen hätte ein massiver Rechtsruck im Europäischen Parlament für die Zukunft der EU? Und wäre im »worst case« ein »Europa der Vaterländer« überhaupt noch »ein Europa«? Die bevorstehenden Europawahlen sollten uns veranlassen, die Wahlchancen der Rechtspopulisten und die möglichen Folgen eines aus ihrer Sicht guten Abschneidens für die Zukunft der Union stärker in den Blick zu nehmen.

Wahlchancen der Rechtspopulisten

Aktuelle Umfragen lassen massive Kräfteverschiebungen innerhalb des neu gewählten Europaparlaments erwarten. So sind sich die unterschiedlichen Meinungsforschungsinstitute weitgehend einig, dass die beiden großen Fraktionen – die der Europäischen Volkspartei (EVP) und die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D) damit rechnen müssen, unter dem Strich hohe Einbußen zu erleiden (jeweils etwa 40 Sitze), also ihre gemeinsame Parlamentsmehrheit zu verlieren. Hierauf deuten Zeichen der Schwächung, etwa beim spanischen Partido Popular und bei Forza Italia auf EVP-Seite, oder beim italienischen Partito Democratico, der SPD und der französischen Parti socialiste auf der S&D-Seite. Dem rechtspopulistischen Lager stehen dagegen Erfolge ins Haus: Infolge des kometenhaften Aufstiegs der von Matteo Salvini angeführten italienischen Lega werden seiner Parlamentsfraktion, dem »Europe of Nations and Freedoms« (ENF) kräftige Gewinne in Aussicht gestellt (bis zu 22 Sitze). Ihre starke Position behaupten dürften die »European Conservatives and Reformists« (ERC), denen neben der polnischen PiS und den Schwedendemokraten nun bis auf Weiteres noch die britischen Konservativen angehören. Weiterhin dürfte die rechtspopulistische Fraktion »Europe of Freedom and Direct Democracy« (EFDD) soweit an Stärke gewinnen, wie es AfD und M5S gelingt, ihre Stimmenanteile im Vergleich zu 2014 auszubauen.

Aufgrund einer Reihe von Faktoren lässt sich allerdings die künftige Stärke der europäischen populistischen Rechten kaum verlässlich vorhersagen: Zum einen sind Umfrageergebnisse für Wählerpotenziale rechts vom parteipolitischen Mainstream keine hinreichend verlässliche Grundlage. Um eine realistischere Einschätzung zu erlangen, müssten andere Instrumente hinzugezogen werden, etwa die Reichweite und Wirksamkeit der von diesen Parteien zur Wählermobilisierung eingesetzten sozialen Medien. Weiterhin ist nicht abzuschätzen, auf welche Weise die britischen Wähler/innen den für das Brexit-Desaster Verantwortlichen bei den Europawahlen die Quittung geben werden. Schließlich wird die künftige Stärke der populistischen, radikalen und extremistischen Rechten davon abhängen, inwieweit sie ihre europapolitische Fragmentierung – in derzeit fünf Fraktionen – überwinden und sich mit Bündnispartnern zusammenschließen kann. Solange diese Fragen offen sind, muss die nächste große europäische Wahl als ein undurchdringliches Chaos erscheinen.

Sollten rechtspopulistische Kräfte einen starken Zugewinn verbuchen, wird die zerstörerische Konfrontation zwischen pro- und antieuropäischen Kräften im Europaparlament zunehmen. Dies würde die EU in einen Sumpf konfrontativer Politik stürzen. Was das für ihre Handlungsfähigkeit heißt, führen exemplarisch die britische Regierung und das House of Commons seit Monaten vor. Wenn das Europaparlament keine konstruktiven Mehrheiten zu bilden vermag, wird es das Spitzenkandidatenverfahren ad acta legen müssen. Dann wird der Europäische Rat den neuen Kommissionspräsidenten bestimmen. Die Kommission würde von einer dem europäischen Gemeinwohl verpflichteten, unabhängigen Institution wieder auf ein Ausführungsorgan der Staats- und Regierungschefs reduziert. Auch andere Fortschritte zur Überwindung der demokratischen Defizite der EU – Transparenz- und Lobbyregulierungen – drohen damit wieder verloren zu gehen. Im Lichte der sich in den vergangenen Jahren bereits häufenden Entscheidungsblockaden der EU wäre zu befürchten, dass dies zur Aushöhlung der Legitimation und Rückabwicklung des europäischen Einigungsprojektes beitragen kann.

Der zu erwartende Verlust der Mehrheitsfähigkeit von EVP und S&D wird die stärkere beider Fraktionen, möglicherweise die EVP, zweifellos dazu zwingen, nach neuen Bündnispartnern zu suchen. Dafür böten sich eine proeuropäische und eine euroskeptische Alternative: Die proeuropäische Option wäre, die Allianz proeuropäischer Kräfte – etwa durch ALDE (die Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa), La République en Marche! (LREM) und Die Grünen/Europäische Freie Allianz – zu verstärken. Dafür müsste sich die EVP allerdings auf eine ambitioniertere Reformagenda für die Stärkung des Zusammenhalts und der inneren und äußeren Handlungsfähigkeit der EU einlassen. Die in der EVP wie in der S&D versammelten Parteien würden dazu vermutlich kaum alle bereit sein – man denke nur an Viktor Orbáns Fidesz, an die ÖVP oder auch an Teile der deutschen Großen Koalition, die dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron bewusst eine Antwort verweigerten. Die euroskeptische Option liefe darauf hinaus, dass die EVP auf Seiten der Rechten nach neuen Bündnispartnern sucht. Im Interesse des europapolitischen Machterhalts – und um für sie unbequeme Reformen zu vermeiden – könnte sie bereit sein, Kompromisse mit populistischen und radikalen Rechten einzugehen. Dies würde den dysfunktionalen Tendenzen in der EU gerade auf den Feldern Tür und Tor öffnen, auf denen die Bürger/innen nach effektiven Antworten verlangen, etwa in Wirtschaftsangelegenheiten.

Was wollen die Unionsbürger/innen?

Die Liste der Top-Prioritäten, mit der die Unionsbürger/innen in die Europawahlen gehen, wird in der EU-27 von den Themen Migration, Jugendarbeitslosigkeit, Wirtschaft und Terrorismus angeführt. Hierbei sowie in den Bereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, Klimaschutz, Menschenrechte, Schutz der Außengrenzen und Kriminalitätsbekämpfung, Digitalisierung und Bildung wünschen sich die Bürgerinnen und Bürger eine starke europäische Kooperation. Die jüngste Umfrage des Allensbach-Instituts zeigt, dass die Deutschen Sinn und Nutzen der engen Verbindung der EU-Länder grundsätzlich nicht infrage stellen. Die meisten Bürger/innen sind allerdings besorgt, dass die EU nicht ausreichend reformfähig sei, ja durch einen Rechtsruck weiter geschwächt würde: »Die überwältigende Mehrheit sieht gravierenden Reformbedarf, hat aber gleichzeitig kein Vertrauen in die Reformwilligkeit und ‑fähigkeit der EU«. Die von der europäischen Rechten propagierte Rückkehr zum »Europa der Vaterländer« der 60er Jahre würde die Erwartungen an eine zukunftsfähige, kooperations- und handlungsfähige Union massiv enttäuschen. Das Vertrauen der Bürger/innen in die EU variiert ohnehin stark: In nur zwölf von 28 EU-Staaten vertraut mehr als die Hälfte der Befragten der Union. Im Norden zählen dazu Litauen, Estland, Schweden, Dänemark, Holland und Irland, im Süden Rumänien, Bulgarien, Portugal und Spanien. Dagegen vertrauen lediglich nur etwa 27 % der Griechen der EU.

Die Verfestigung solch kritisch-resignativer Grundstimmungen wäre fatal. Sie droht, die Gruppe der Nichtwähler und die populistischen Ränder zu stärken. Dies würde das im Mitentscheidungsverfahren mit dem Rat bemerkenswert erfolgreiche Europaparlament schwächen, statt es zu stärken. Die proeuropäischen Parteien werden diese Tendenzen nur abwenden können, wenn sie die blinden Flecken der Desinformation und Manipulation der öffentlichen Meinung beseitigen, Wählermobilisierung betreiben und die europapolitische Meinungs- und Willensbildung stärken. Dazu benötigen sie einen klaren Kompass für die Erneuerung Europas. Damit die Bürger/innen aktiv daran mitwirken können, hat die Europäische Bewegung Deutschland (in der 245 Organisationen aus Wirtschaft und Gesellschaft vernetzt sind) einen Katalog an Forderungen vorgelegt, an welchen sie die Europawahlprogramme der wichtigsten deutschen Parteien misst: die Achtung der europäischen Werte und Grundrechte, die Stärkung der europäischen parlamentarischen Demokratie und des Pluralismus, der europäischen Bildung und Gleichstellung, der sozialen und wirtschaftlichen Konvergenz, eines an gesamteuropäischen Prioritäten ausgerichteten gesamteuropäischen Haushalts, einer gemeinsamen Asylpolitik, den Abbau von Grenzen innerhalb Europas, eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik, einen zukunftsfähigen Binnenmarkt, die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und des Klimaschutzabkommens sowie eine effektive und transparente Rechtsetzung.

Nur wenige sehen die Europawahl 2019 derzeit als eine Schicksalswahl. Dies könnte sich als ein fataler Irrtum erweisen. Denn wie Umfragen zeigen, ist deren Ausgang diesmal offener denn je. Wenn die antieuropäischen populistischen Rechten und die euroskeptischen Parteien zusammen auf ein stattliches Ergebnis kommen, wird dies die Europäische Union massiv verändern. Auch wenn es den nationalistischen »Patrioten« und illiberalen Staatsführern in den kommenden fünf Jahren kaum gelingen wird, die EU umzusteuern, alle ihre Befugnisse zu renationalisieren und das angestrebte »Europa der Vaterländer« zu verwirklichen: Sie könnten stark genug werden, um dem europäischen Einigungsprojekt so viel Sand ins Getriebe zu streuen, dass der Rückwärtsgang zur Desintegration unabwendbar wird. Es liegt nun also an den Bürgerinnen und Bürgern Europas zu bestimmen, welche politischen Kräfte im Europaparlament fünf Jahre den Ton angeben sollen: die reformwilligen und kompromissbereiten Gruppierungen, die Reformblockierer und Verteidiger des Status quo oder die diesmal geeinter als 2014 antretenden antieuropäischen Populisten.

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