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Corona und Streaming – Kino unter Druck »Schauen Sie meine Filme nicht auf dem Handy«

Wer das Kino liebt, tut das meist mit Leidenschaft. Aber auch wahre Kinoliebe stößt manchmal an ihre Grenzen. Wer im vergangenen Dezember als Dreifachgeimpfter einen Film ansehen wollte, brauchte in mehreren Bundesländern zusätzlich noch einen frischen Coronatest. Kein Wunder, dass die Säle in der für die Filmwirtschaft eigentlich besonders umsatzstarken Kinozeit diesmal leer blieben.

Während der gegenwärtigen vierten Welle der COVID-19-Pandemie durchlebt die Filmbranche eine der schwersten Krisen ihrer Geschichte. Verleiher zogen geplante Kinostarts zurück, selbst die Berlinale im Februar 2022 erscheint vielen Branchenteilnehmer/innen alles andere als sicher. Der eingespielte Austausch von Filmproduktion und Publikum ist unterbrochen, und mithin auch die Zukunft der Kinokultur, wie wir sie kennen. Auch wenn staatliche Hilfsprogramme die meisten Filmtheater über die schwierige Zeit retten sollten, ist ihre Zukunft ungewiss. Sehgewohnheiten verändern sich, und schon vor der Coronakrise litten die Kinos unter der neuen Konkurrenz der Streamingdienste.

Nun ist Medienwandel ein konstantes Phänomen in der Kulturgeschichte. Das Theater des 20. Jahrhunderts hat wenig gemein mit dem der Antike; statt Operetten komponiert man heute Musicals, der Tonfilm verdrängte den pantomimischen Stummfilm, und ganze Gattungen wie das Melodram und populäre Präsentationsformen wie das Panorama verschwanden und kamen niemals wieder. Warum sollte es dem Kino da anders ergehen?

Schon als ich als Teenager in den 80er Jahren meine ersten Filmkritiken schrieb, sahen manche das Ende des Kinos kommen. Doch weder die Unkenrufe des britischen Filmemachers Peter Greenaway noch der liberalisierte TV-Markt, weder Videokasette noch DVD, nicht einmal die Digitalisierung konnten das Kino zu Fall bringen. Erst die Pandemie und der gleichzeitige Aufschwung der Streaming-Kultur gaben mir eine Ahnung von einer Welt ohne Kino.

»Mach Dir ein paar schöne Stunden, geh ins Kino«, lautete ein langlebiger Slogan der Filmbranche. Lange Zeit war »ins Kino gehen« ein so selbstverständlicher Teil des Alltags, dass derartige institutionelle Werbung völlig überflüssig gewesen wäre. Kinobesitzer bewarben ihre Premieren auf riesigen, farbenprächtigen Transparenten. Wer hätte sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts ernstlich um den Freizeit- und Kulturort als solchen Sorgen gemacht? Schon vor dem Ersten Weltkrieg gehörten Kinos in Deutschland zum Straßenbild. Ende der 50er Jahre aber stürzte die deutsche Kinobranche schlagartig in eine erste, schwere Krise.

Zwischen 1957 und 1968 sank in Deutschland die Zahl verkaufter Kinokarten von 800 auf 200 Millionen. Dafür war nicht allein das aufkommende Fernsehen verantwortlich. Der Babyboom spielte eine weitere Rolle, junge Eltern gingen oft nicht mehr ins Kino. Vor allem aber kamen nun die Defizite der bundesdeutschen Filmwirtschaft auf allen Ebenen (strukturell, wirtschaftlich und künstlerisch) zum Tragen. Firmenzusammenbrüche erschütterten die Branche. Und »Papas Kino« wollte die neue Generation nicht mehr sehen.

Gestorben aber ist das Kino in dieser Krise nicht. Ganz im Gegenteil erlebte es in den 70er und 80er Jahren auch eine neue gesellschaftliche Anerkennung: Überall in Deutschland eröffneten kommunale Kinos oder auf Autorenfilme und -klassiker spezialisierte Programmkinos. Auch die Geburt der Filmförderung war eine positive Begleiterscheinung der Kinokrise der frühen 60er Jahre.

Eine Gruppe junger Filmemacher, darunter Alexander Kluge und Edgar Reitz, hatten 1962 im »Oberhausener Manifest« eine Qualitätsdebatte über das deutsche Kino begonnen. 1965 wurde nach einem Erlass des Bundesinnenministeriums das »Kuratorium junger deutscher Film« gegründet; es war der Beginn einer kulturellen Filmförderung und ein Meilenstein auf dem Weg zu einer Weltmarke – dem auf vielen Filmfestivals gefeierten »Neuen Deutschen Films«.

Gleichwohl blieb das Krisenbewusstsein insbesondere in Deutschland ein Teil der Filmbranche. Man wusste, dass eine nationale Filmindustrie ohne öffentliche Subventionen kaum überlebensfähig sein würde. Und durch das Fernsehen hatte das Kino sein Monopol auf das Bewegtbild eingebüßt. Plötzlich also war es nötig, für die Institution Kino Werbung zu machen – und mit den Slogans ihre Besonderheiten herauszustellen: »Was anderes sehen – ins Kino gehen.« Oder: »Im Kino hat man mehr vom Film«.

Die Frage lautet nun: Wird das Kino auch weiterhin seine Einzigartigkeit – die Wirtschaft nennt es: »Alleinstellungsmerkmal« –, das gemeinsame Filmerlebnis in überragender technischer Qualität sowie den Zugriff auf ein exklusives Filmangebot bewahren können? Oder wird es diesem Medium sogar abermals gelingen, von der Veränderung zu profitieren? Und wenn ja, worin bestünde dann die Zukunft des Kinos?

Zunächst einmal ist da natürlich die Hoffnung, dass die zeitweilige Abstinenz auch das Bewusstsein für das Besondere weckt. Aber reicht das schon für mehr als ein Nischendasein? So wie Alte Musik auf alten Instrumenten, Stummfilme mit Live-Musik oder das Abspielen einer Vinylscheibe auf dem heimischen Plattenteller?

Es könnte natürlich auch anders kommen: Wird nicht ein großer Teil des Filmpublikums nach mehreren Lockdowns andere Vorlieben entwickelt haben und dem Heimkino den Vorzug geben? Und was nützte das späte Bewusstsein für das Entbehrte, wenn Kinos in teuren Innenstadtlagen nicht überlebensfähig bleiben und deshalb ihr Personal über die Krisenzeit hindurch nicht halten können?

Wie dramatisch die Situation schon nach dem ersten Coronajahr wurde, zeigen die jährlich von der Filmförderungsanstalt veröffentlichten Ergebnisse. Wurden 2019 noch 111,6 Millionen Kinokarten in Deutschland verkauft, waren es 2020 noch 38,1 Millionen; ein Rückgang von 67,9 Prozent.

Derart gebeutelt veröffentlichten die deutschen Kinobetreiber am 9. Februar 2021 eine Presseerklärung. Darin heißt es: »Es ist Zeit, dass das kulturelle Leben nach Deutschland zurückkehrt, auch wenn die Pandemie noch nicht überwunden ist. Jüngst hatte die Kultusministerkonferenz die frühzeitige Öffnung der Kulturbetriebe als relevante Lebensbereiche angeregt. Die wirtschaftlich besonders stark betroffene Kino- und Filmwirtschaft benötigt dringend eine Perspektive, um wieder Fuß zu fassen.«

Man erinnere sich: Während der Kinokrise der 60er und 70er-Jahre wuchs im Gegenzug die Anerkennung durch die Kulturpolitik. In den meisten Gesprächen, die ich in dieser Zeit mit Menschen führen konnte, die Kino machen, klang dagegen an, was vor allem vermisst wurde: Worte der Wertschätzung durch die Politik.

Ohne in einen Forderungston zu verfallen, erbaten die Verfasser dieser Erklärung zumindest keine Benachteiligung gegenüber Geschäften oder Gastronomie und ein bundesweit einheitliches Vorgehen. Es waren bescheidene Wünsche angesichts der Tatsache, dass Kinos keine Hotspots der Pandemie waren und so positiver Erfahrungen wie dem vorausgegangenen Filmfestival Venedig, bei dem kein einziger Coronafall festgestellt wurde.

Abgesehen von den guten Gründen, die es gibt, öffentliche Orte generell zu meiden und keinerlei Anreize zu schaffen, sich überhaupt unter das Volk zu mischen: Der Umgang der Politik mit der Kultur war während der Coronakrise mitunter so erniedrigend, dass allein der sachliche Ton dieses Schreibens imponierte.

Im offiziellen Text der Verordnung zum November-Lockdown 2020 stand folgende Passage: »Geschlossen werden Institutionen und Einrichtungen, die der Freizeitgestaltung zuzuordnen sind. Dazu gehören: Theater, Opern, Konzerthäuser und ähnliche Einrichtungen, Kinos, Freizeitparks und Anbieter von Freizeitaktivitäten (drinnen und draußen), Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnliche Einrichtungen, Prostitutionsstätten, Schwimm- und Spaßbäder, Saunen, Thermen, Fitnessstudios, Wellnesseinrichtungen, Museen, Zoos und ähnliche Einrichtungen.«

Wer Museen und Freudenhäuser schon deshalb für ähnliche Einrichtungen hielt, weil man in ihnen seine Freizeit verbringen könne, hatte offensichtlich jegliches Verständnis dafür verloren, was der Kunstfreiheit einen so hohen Rang in unserem Rechtsstaat gibt. Kunstfreiheit ist wie die Pressefreiheit ein Garant der Demokratie. Sie zu beschneiden lässt sich nur mit extremen Notlagen begründen. Dass Kultur für eine freie Gesellschaft lebenswichtig ist, schien unter der damaligen rot-schwarzen Koalition jedenfalls vergessen.

Niemand weiß, wie viele Kinos nach den Corona-Lockdowns noch dauerhaft öffnen werden. Vielleicht wird man später sagen, das Virus habe den Ausschlag zum großen und endgültigen Kinosterben gegeben. So wie der Komet, der die Saurier tötete. Es könnten am Ende nur noch ein paar kommunale Kinos übrigbleiben, möglicherweise auch einige neue Multimedia-Museen, die Filmfestivals beherbergen können, wenn es sonst keine Säle mehr dafür zu mieten gibt.

Eine Musealisierung der Kinos, wie sie etwa Lars Henrik Gass, der Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen, formuliert hat, ist eine verständliche Reaktion auf die Geringschätzung des Films in zahllosen deutschen Kommunen, die, wie etwa die Millionenstadt Köln, viel Geld in ihre Opernhäuser und Theater stecken, aber sich nicht einmal ein kommunales Kino leisten.

Was läge da näher als wenigstens ein Kino als bespieltes Denkmal zu erhalten? Moderne Multimedia-Museen, so vielseitig einsetzbar und populär sie sein mögen, werden uns die Kinos nicht ersetzen, weder in ihrer Architektur und der Aura ihrer gelebten Geschichte, noch werden sie das Dispositiv Kino vermitteln können, also den komplexen Sinnzusammenhang – das, was das Erlebnis einer Filmerzählung in einem Filmtheater in über 100 Jahren ausgemacht hat.

Mein Vorschlag lautet also: Die Musealisierung sollte nicht mit schicken Neubauten beginnen, sondern mit dem Erhalt wenigstens eines noch existierenden Traditionskinos. Die Essener Lichtburg ist hier ein Beispiel, das International in Berlin, das Gartenbaukino in Wien. Aber auch kleine Kinos wie etwa die Kölner Filmpalette oder das Frankfurter Mal seh’n können das Wunder bewirken, Film authentisch erlebbar zu machen. Die Wirklichkeit sieht jedoch ganz anders aus. Die Diskussion um den Erhalt der Filmkultur droht gerade angesichts der Musealisierung in eine gefährliche Sackgasse zu geraten.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Kommunen ein Verständnis für das Spezifische dieser Kulturform entwickeln werden und sie nicht der Bildenden Kunst unterordnen. Der Kunstkontext (oder wie man dort sagen würde, das »Dispositiv Kunst«) hat längst seine eigene Spielart des Bewegtbilds kultiviert. Auch wenn es unter den Künstlern, die mit Bewegtbildern arbeiten, viele Grenzgänger zum Kunstbetrieb gibt – Steve McQueen, Shirin Neshat, Matthias Müller und Christoph Girardet sind ein paar Beispiele – wäre die Vorstellung naiv, Kunstmuseen könnten sich in Kinos verwandeln, die Kinofilme als solche zeigen. Das Kino darf seine Deutungshoheit über den für das Kino konzipierten Film nicht verlieren.

Und vergessen wir nicht: Das Kino eroberte sich seinen Platz in der Kultur als Unterhaltungsform, die sich erst zur Kunst emanzipierte. Viele aus heutiger Sicht klassische Filme wurden erst spät als Kunstwerke erkannt. Noch immer gelingt es vielen großen Hollywoodproduktionen, durch die weltweiten Abspielmöglichkeiten Multimillionenumsätze zu erzielen.

Aber würde es solche Werke auch in einem reinen Streaming-Zeitalter geben? Netflix und Co. feiern ihre größten Erfolge nicht mit aufwändigen Einzelfilmen, sondern mit Serienformaten, durch die sie ihre Abonnenten binden. Die Kunst der auf den Punkt gebrachten Filmerzählung könnte in Zukunft weniger gefragt sein.

Tatsächlich war der dramatische Wandel in der Bewegtbildbranche schon im Herbst 2019, als sich das Virus gerade erst in Wuhan seine ersten menschlichen Wirte suchte, in vollem Gange. Martin Scorsese wandte sich damals an die Zuschauer/innen der populären Filmsendung des Kritikers Peter Travers: »Sehen Sie sich meine Filme nicht auf dem Handy an!«, »Bitte nehmen Sie dazu wenigstens ein großes iPad.« Wie ist es um die Zukunft des Kinos bestellt, wenn nicht einmal der berühmteste Regisseur der USA einen Filmtheaterbesuch zum Erlebnis seiner Werke für notwendig hält?

Schon bevor das Coronavirus das erste Mal gesichtet wurde, hatte im Herbst 2019 die Debatte über die Zukunft mit Scorseses Netflix-Produktion The Irishman einen Höhepunkt erreicht. Ein neuer »Scorsese« sollte doch noch immer ein cinephiles Publikum in die Filmtheater locken. Doch an einer breiten Kinoauswertung schien der Streamingdienst kaum interessiert. Schließlich möchte man mit prestigeträchtigen Großproduktionen eingefleischte Filmfreunde als Abonnementen anwerben.

Wer wegen der imposanten Erfahrung des dreieinhalbstündigen Epos auf der großen Leinwand dennoch ins Kino ging, musste sich wie ein Streikbrecher fühlen. Schließlich boykottierten sowohl das Filmfestival von Cannes als auch ein großer Teil der deutschen Kinobetreiber Netflix-Produktionen, da sie höchstens ein paar Wochen exklusiv auf Leinwänden laufen. Andererseits: Worin besteht eigentlich das Besondere eines Kinobesuchs im digitalen Zeitalter? Ist ein digitales Kinoerlebnis überhaupt noch vergleichbar mit dem, was ein analoges früher ausgemacht hat? Ist es nicht längst jedem passionierten Filmfan möglich, einen Videoprojektor zu erwerben, der Filme in 4K-Auflösung auf die heimischen Wände wirft?

Mit der flächendeckenden Digitalisierung der Kinos, in Deutschland mit Millionenaufwand gefördert, verschwand bereits im ersten Jahrzehnt des Jahrtausends das analoge Abspiel fast vollständig aus dem Filmalltag. Betrauert wurde das nur von einer kleinen Minderheit, eine öffentliche Debatte über den Erhalt analoger Filmprojektion fand nicht statt.

1966 wurde in Essen das erste kommunale Kino Deutschlands gegründet. Nun kommt diesen Kinos eine besondere Bedeutung zu. Sie müssen die Internationalität der Kinokultur in Deutschland sichern, zugleich aber auch die künstlerische Vielfalt. Auch der öffentlich geförderten Digitalisierung müssen sie sich mit ihren bescheidenen Mitteln entgegenstellen, indem sie weiterhin analoge Filmkopien abspielen. Denn auch wenn in Deutschland fast keine Spielfilme mehr analog gedreht werden, halten viele internationale Filmkünstler wie Lászlò Nemes, Christopher Nolan oder Quentin Tarantino dem Zelluloid die Treue. Ebenso wichtig ist die Vermittlung von Filmgeschichte, die bei Netflix schließlich fast ebenso unsichtbar ist wie bei ARD und ZDF.

Doch was die kommunalen Kinos vor allem erhalten müssen, ist der Erlebnisort selbst. Und da ist es mit einer Spielstätte nicht getan: Es geht um die Grundversorgung, die Alltäglichkeit des Filmangebots. Hier droht die eigentliche Gefahr, denn Eventkultur scheint bei Kommunen einen zunehmend höheren Stellenwert zu haben als die Grundversorgung.

Eine Woche Filmfestival ist vielen Städten längst mehr wert als ein Jahr Kinokultur. Doch im Glanz der Eventkultur könnte die Selbstverständlichkeit eines Kinobesuchs für immer aussterben. Denn Kinokultur bedeutete immer eine Auswahl aus einem vielfältigen Filmangebot zu haben, auch ganz spontan im Dunkeln verschwinden zu können, sich auch nachmittags ein paar schöne Stunden machen zu können, ohne Umstände. Zu erleben, wie eine Tür sich schließt und man zwei Stunden lang einfach in einem Film versinkt.

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