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Eine empirische Antwort auf eine Grundfrage der Demokratie Schließen sich Freiheit und Gleichheit aus?

Freiheit und Gleichheit sind Kernprinzipien der liberalen Demokratie. Darüber herrscht weitgehend Einigkeit in der politischen Philosophie, der Demokratietheorie und der empirischen Demokratieforschung. Heftig umstritten sind aber die Bedeutung der beiden demokratischen Prinzipien und das Verhältnis, in dem sie zueinander stehen müssen, um eine gute politische Ordnung zu gewährleisten. Das würde bedeuten, dass beide Prinzipien nicht gleichzeitig maximiert werden können, sondern nur jeweils eines auf Kosten des anderen. Wir diskutieren im Folgenden zunächst den theoretischen Hintergrund dieser These. Dann betrachten wir Daten zur Messung von Freiheit und Gleichheit für mehr als 50 etablierte und junge Demokratien über einen Zeitraum von 20 Jahren. So können wir empirisch überprüfen, ob es tatsächlich einen Zielkonflikt zwischen Freiheit und Gleichheit gibt – oder ob sich die beiden Prinzipien im Gegenteil sogar wechselseitig verstärken.

Das berühmte Buch von Alexis de Tocqueville Über die Demokratie in Amerika, 1835 verfasst, ist wahrscheinlich die prominenteste Schrift, die von einem Zielkonflikt zwischen Freiheit und Gleichheit ausgeht. Tocqueville sieht ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit im Allgemeinen und zwischen individueller Freiheit und Massendemokratie im Besonderen. Der unaufhörliche Vormarsch politischer und sozialer Gleichheit in den Demokratien birgt dem politischen Philosophen zufolge die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit. Das Problem insbesondere der amerikanischen Demokratie, die Europa den Spiegel vorhalte, ist für Tocqueville die unbegrenzte Macht der Mehrheit: Zu viel politische Gleichheit in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft schwächt die institutionellen Garantien für die Rechte des Einzelnen und die Rechte von Minderheiten. Tocquevilles Argumentation beruht auf der Annahme, dass Individuen stets der Gleichheit den Vorzug geben. Dasselbe wird für die Makroebene der politischen Ordnung angenommen. Bei Gruppen und Individuen entfesselt die Demokratie den Kampf um mehr Gleichheit. Sie ermuntert die Bürger zu einem politischen Eintreten für die Egalisierung von Macht, Eigentum und Status – immer auf Kosten der Freiheit. Aus diesem Grund müsse, so Tocqueville, jede demokratische politische Ordnung über institutionalisierte Kontrollen zum Schutz der Freiheit verfügen, um eine Tyrannei der gleichheitsgetriebenen Mehrheit zu verhindern.

Erst die Gleichheit, dann die Freiheit

Schon vor Tocqueville hat Jean-Jacques Rousseau in seiner Schrift Vom Gesellschaftsvertrag aus dem Jahr 1762 eine andere gedankliche Perspektive entwickelt. Sie bildet in der klassischen politischen Philosophie den Gegenpol zur These eines Zielkonfliktes von Freiheit und Gleichheit. Wichtig für unsere Zwecke ist vor allem Rousseaus Argument, dass Menschen nur frei sein können, wenn sie politisch gleich bleiben. Politische Gleichheit wiederum kann nur erreicht werden, wenn die soziale Ungleichheit so klein wie möglich gehalten wird. Im »Naturzustand« seien die Menschen prinzipiell frei und gleich, doch der Fortgang der Zivilisation und die aus dem Privateigentum resultierende Ungleichheit habe beides zerstört: erst die Gleichheit, dann die Freiheit. Rousseau unterscheidet zwei Arten der Gleichheit: politische Gleichheit in Form von direkter Demokratie unter Beteiligung aller Bürger und sozioökonomische Gleichheit, die durch das Privateigentum bedroht ist.

Um die Vereinbarkeit von maximaler Gleichheit bei maximaler Freiheit haben sich in Philosophie, Wirtschaft und Politik eigenständige Denkschulen, ideologische Lager und parteipolitische Programme gebildet, die bis heute einflussreich sind. Wir bestreiten nicht, dass individuelle Freiheit unabhängig von ihrer Beziehung zur Gleichheit für sich selbst einen hohen Wert darstellt. Auch erkennen wir an, dass Verfechter des Egalitarismus die Gleichheit als Wert an sich für so bedeutsam halten mögen, dass sie dafür, falls nötig, mit einem Weniger an Freiheit bezahlen würden. Diese anhaltende normative Debatte zwischen Anhängern des Egalitarismus und des Libertarismus, bzw. der sozialen und libertären Demokratie kann nicht entschieden werden – nicht hier und wahrscheinlich auch grundsätzlich nicht. Was wir aber tun können, ist, zu untersuchen, ob sich die weit verbreitete »Tocqueville’sche Befürchtung« eines Zielkonflikts in heutigen Demokratien überhaupt empirisch belegen lässt. Oder gibt es möglicherweise Belege für einen positiven Zusammenhang zwischen Freiheit und Gleichheit, wie dies der indische Nobelpreisträger und Ökonom Amartya Sen postuliert? Anders ausgedrückt: Ist es möglich – oder vielleicht sogar nötig –, dass beide Prinzipien in ein und demselben demokratischen System realisiert sind und sich wechselseitig stützen? Weiter gefragt: Was passiert, wenn wir zwischen politischer und sozioökonomischer Gleichheit unterscheiden? Gäbe es dann zwar einen negativen Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Gleichheit und Freiheit, aber einen positiven Zusammenhang zwischen politischer Gleichheit und Freiheit? Beide Thesen sind in der philosophierenden Ökonomie bis heute populär. Insbesondere die sozioökonomische Gleichheit bedränge die politische Freiheit, so die weit verbreitete These der Ökonomen Friedrich August von Hayek und Milton Friedman oder des libertären Harvard-Philosophen Robert Nozick.

Wir sind nicht darauf aus, Kausalbeziehungen zwischen Freiheit und Gleichheit zu bestimmen. Obwohl sich in der Literatur heroische Thesen und kühne Untersuchungen dazu finden lassen, haben wir uns für einen bescheideneren Ansatz entschieden. Wir wollen Muster identifizieren, also den Zusammenhang der beiden grundlegenden demokratischen Prinzipien in realexistierenden Demokratien messen. Dies ist als erster Schritt zur Überprüfung normativer Behauptungen gedacht und will damit auch eine Brücke über die Kluft zwischen politischer Philosophie und empirischer Demokratieforschung schlagen.

Zur empirischen Überprüfung der Frage, ob ein Zielkonflikt zwischen Freiheit und Gleichheit vorliegt, verwenden wir Daten aus zwei Quellen: Das »Demokratiebarometer« (democracybarometer.org) bietet Informationen zur politischen Freiheit und politischen Gleichheit im Zeitverlauf für eine große Anzahl von Ländern. Zum Konzept der Freiheit zählen dort u. a. Eigentumsrechte und deren Schutz gegenüber dem Staat. Es umfasst darüber hinaus individuelle Freiheiten wie körperliche Unversehrtheit sowie Religions-, Meinungs-, und Informationsfreiheit sowie Freizügigkeit. Außerdem beinhaltet das Konzept der Freiheit das Recht zur Organisation und Bildung gesellschaftlicher Assoziationen sowie die Stärke der Zivilgesellschaft selbst. Gleichheit wird als politische Gleichheit verstanden; sozioökonomische Gleichheit zählt in der Anlage des Demokratiebarometers nicht zum Konzept der politischen Gleichheit. Der Leitgedanke ist, dass alle Bürger tatsächlich und rechtlich gleichen Zugang zu politischer Macht und Beteiligung haben müssen.

Da uns aber auch Unterschiede in der Beziehung von politischer und sozioökonomischer Gleichheit zur Freiheit interessieren, benötigen wir für unsere Untersuchung zusätzlich einen verlässlichen Indikator für sozioökonomische Gleichheit. Gut geeignet, wenn auch nicht immer unumstritten, ist ein Blick auf die Einkommensverteilung. Zur Darstellung von Einkommensungleichheiten verwenden wir den Netto-Gini-Koeffizienten (nach Steuern und Sozialtransfers) aus der Standardized World Income Inequality Database des Politikwissenschaftlers Frederick Solt.

Auf dieser Grundlage stehen uns für unsere Untersuchung jährliche Daten zu 54 demokratischen Ländern für den Zeitraum (vor allem) von 1990 bis 2012 – insgesamt 1.141 Fälle (sogenannte Länderjahre) – zur Verfügung. Wie hängen Freiheit und Gleichheit nun empirisch zusammen? Im ersten Schritt soll der Zusammenhang zwischen Freiheit und politischer Gleichheit geprüft werden. Dieser ist eindeutig: Ein hohes Maß an politischer Freiheit geht einher mit politischer Gleichheit und umgekehrt. Eine gleichzeitige Umsetzung der beiden demokratischen Kernprinzipien scheint folglich alles andere als unmöglich, sie erscheint geradezu geboten. Dieser symmetrische Zusammenhang von politischer Freiheit und politischer Gleichheit gilt durchgehend: das Muster ist bei niedrigen oder hohen Freiheits- und Gleichheitswerten weder stärker noch schwächer ausgeprägt, gilt also auch hier.

Freiheit setzt sich im Mittel nahezu eins zu eins in politische Gleichheit um und umgekehrt. Diese Befunde stärken die normativen Überlegungen, dass Freiheit und Gleichheit gleichermaßen Funktionsprinzipien von Demokratien sind, die sich wechselseitig stärken und nicht widersprechen.

Wie steht es dann aber um den Zusammenhang von sozioökonomischer Gleichheit und politischer wie individueller Freiheit? Gibt es den von Tocqueville über von Hayek und Nozick behaupteten negativen Zusammenhang zwischen Gleichheit und Freiheit? Unsere empirischen Untersuchungen zeigen klar: Ein höheres Maß an Freiheit ist mit einem geringeren Maß an sozioökonomischer Ungleichheit verbunden. Oder: Je geringer die sozioökonomische Ungleichheit, umso stärker ist die Freiheit ausgeprägt. Es zeigt sich somit substanziell derselbe Zusammenhang wie im ersten Untersuchungsschritt, mit dem wir die positive Korrelation von politischer Gleichheit und politischer wie individueller Freiheit nachweisen. Auch hier deuten die Daten auf eine Vereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit und eben nicht auf einen störenden Trade-off hin, wie dies mit Verweis auf Tocqueville gerade von Anhängern Friedrich August von Hayeks immer wieder vorgebracht wird.

Nach unseren Berechnungen gibt es keine Belege für einen Zielkonflikt der beiden Prinzipien, aber starke Belege für einen positiven Zusammenhang. Es existiert also kein eindeutiger Unterschied zwischen den beiden Arten der Gleichheit. Somit muss also auch nicht zwischen politischer und wirtschaftlicher Gleichheit unterschieden werden, wenn es um den Zusammenhang mit politischer Freiheit geht.

Wir haben in unserer Studie zwei weitere komplexere statistische Modelle getestet, da deskriptive Analysen nur begrenzt aussagefähig sind. Das erste Modell zeigt einen signifikanten Effekt der politischen Gleichheit auf die politische Freiheit, so wie wir es in der ersten deskriptiven Korrelation gefunden haben. Gleichheit ist auch dann mit mehr Freiheit verbunden, wenn im Test strengere Kriterien angelegt werden. Die These eines Zielkonflikts kann somit erneut verworfen werden. Die Modelle zeigen allerdings auch eine erhebliche Variation zwischen den einzelnen Ländern bezüglich der Wirkung politischer Gleichheit auf die Freiheit. Es existiert somit zwar kein allgemeiner Zielkonflikt, aber es gibt durchaus auch einige wenige Ausnahmen von dieser Regel. Insgesamt aber bestätigen die komplexeren Modelle den deskriptiven Befund, dass sich auch die sozioökonomische Gleichheit positiv auf die politische Freiheit auswirkt.

Wir finden also keine Belege für einen negativen Zusammenhang zwischen Freiheit auf der einen Seite und den beiden Arten von Gleichheit auf der anderen. Die Zielkonflikt-These kann also prinzipiell verworfen werfen. Die traditionelle libertäre Befürchtung einer wechselseitigen Destruktion bei der Optimierung beider Prinzipien ist unbegründet – gleichgültig, ob wir von politischer oder sozioökonomischer Gleichheit ausgehen. Nach unseren Erkenntnissen ist der Zusammenhang zwischen den beiden demokratischen Kernprinzipien der Freiheit und der Gleichheit einer der wechselseitigen Verstärkung.

Wir deuten das als positives Zeichen: Gesellschaften und politische Ordnungen müssen sich nicht zwischen den beiden Prinzipien entscheiden. Sie können vielmehr die gleichzeitige Maximierung von Freiheit und Gleichheit anstreben. Das heißt selbstverständlich nicht, dass Vertreter der normativen Theorie oder der realen Politik nicht dem einen oder dem anderen Prinzip den Vorzug geben dürfen. Das unterscheidet eben die Vertreter des neoliberalen Libertarismus und die Verfechter der sozialen Demokratie. Beide Gruppen sollten aber jenseits ihrer normativen Vorlieben auch gute empirische Gründe vorbringen können. Die These aber, dass sich die beiden Prinzipien in modernen Demokratien gegenseitig ausschließen oder stören würden, lässt sich bei solider empirischer Überprüfung nicht stützen. In Zeiten wachsender sozialer und ökonomischer Ungleichheit sind unsere Ergebnisse ein klares Warnsignal an die libertären Verfechter reiner Marktlehren. Steigen die mit deregulierten Märkten verbundenen wirtschaftlichen Ungleichheiten, dann besteht für demokratische Gesellschaften auch das Risiko, dass die politische Freiheit erodiert. Die Freiheit als eines der tragenden Prinzipien der Demokratie würde damit beschädigt.

In modernen Demokratien geht es längst nicht mehr alleine um die sogenannte »negative Freiheit«, also die Freiheit »von etwas«, nämlich von der Einmischung des Staates wie von Dritten, wie sie sich aus der schottischen und französischen Aufklärung im 18. Jahrhundert entwickelt hat. Im 21. Jahrhundert geht es genauso um die »positive Freiheit«, also die Freiheit »für etwas«, wie sie etwa der Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften Amartya Sen betont hat. Für die Sozialdemokratie als politische Gestaltungskraft können das dann gute Nachrichten sein, wenn sie die Frage nach mehr sozioökonomischer Gleichheit nicht verschämt ausblendet, sondern diese wieder beherzter in den Mittelpunkt ihrer politischen Agenda rückt.

(Ausführlicher in: Heiko Giebler/Wolfgang Merkel: Freedom and equality in democracies: Is there a trade-off? International Political Science Review 37 (5) 2016: 594-605.).

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