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© picture alliance / photothek | Ute Grabowsky

Wie eine kluge Verknüpfung von Stadt und Land neue Potenziale freisetzen kann Schluss mit jottwede

Und auf einmal war Wittenberge in aller Munde. Wittenberge liegt an der Elbe, 150 Kilometer vor Hamburg, hat nichts mit der bekannten Lutherstadt zu tun, dafür umso mehr mit Nähmaschinen. Die alte Industriestadt beherbergte bis Anfang der 90er Jahre die größte Nähmaschinenfabrik Europas, hatte fast 30.000 Einwohner – von denen sie in den vergangenen drei Jahrzehnten fast die Hälfte verlor, samt der Fabrik und nahezu aller Industriearbeitsplätze. Der Strukturwandel in Wittenberge kam für viele Menschen als Zusammenbruch daher. Und weit und breit keine Alternativen in Sicht. Denn Wittenberge liegt im äußersten Nordwesten von Brandenburg, rundherum die Prignitz – einer der am dünnsten besiedelten Landkreise Deutschlands.

Doch dann, vor zwei Jahren, begann ein Experiment: Die Stadt startete den »Summer of Pioneers«. Sie lud 20 Digitalarbeiter ein für sechs Monate in Wittenberge zu wohnen und zu arbeiten. Dazu bot sie günstige Wohnmöglichkeiten an und richtete den Co‑Working-Space mit dem wohl schönsten Ausblick Deutschlands ein – die Elbe, das breite Elbtal und der weite Prignitzer Himmel lagen direkt vor den Arbeitstischen im 3. Stock der alten Ölmühle. Dieser »Digitale Sommer« löste eine Berichterstattung in fast allen deutschen Medien aus. Selbst die New York Times berichtete über das ungewöhnliche Experiment, der Spiegel schaute vor ein paar Monaten nochmal vorbei um zu schauen, was nach einem Jahr geblieben ist.

Und geblieben ist eine ganze Menge. Zunächst dringend benötigte Aufmerksamkeit für eine Stadt im Wandel – eine Werbekampagne mit dieser Reichweite hätte sich die Stadt niemals leisten können. Vor allem aber veränderte sich der Blick der Wittenbergerinnen und Wittenberger auf die eigene Stadt. Es stellte sich heraus: Sie liegt eben gar nicht »janz weit draußen«, sondern mittendrin. Mit dem ICE braucht man nur eine Stunde nach Berlin und eine nach Hamburg. Digitalisierung macht es heute möglich, seinen Arbeitsplatz mobil zu gestalten.

Man muss nicht mehr jeden Tag ins Büro fahren – ein- oder zweimal die Woche kann unter Umständen reichen. Hinzu kommt, und das war schon vor der Coronapandemie erkennbar, ein Wertewandel hin zu größerer Wertschätzung für Familie, Gesundheit, Natur und Nachhaltigkeit, hin zu einer besseren Work-Life-Balance – was den Trend zur mobilen Arbeit jenseits der Großstadt noch verstärkt. Die digitalen Pioniere brachten neue Ideen und Geschäftsmodelle in die Stadt – und zogen neue Interessenten für Wohnungen und Gewerbe nach sich. Eine neue Chance also für eine Stadt im ländlichen Raum?

Das Verhältnis zwischen Stadt und Land, zwischen Metropole und Peripherie war immer schon durch Wellenbewegungen gekennzeichnet. Die Verlockungen der Großstadt sind enorm, »Stadtluft macht frei« hieß es schon im Mittelalter. Das große Kulturangebot, eine enorme Wirtschaftskraft, gut bezahlte Arbeitsplätze, viele Forschungs- und Lehrangebote, vielfältige Möglichkeiten zum Einkaufen, Leben und leben lassen – all dies zog Menschen seit jeher magisch an. Doch nur bis zu dem Punkt, an dem es zu teuer, zu laut und zu unsicher wird. Es folgt eine Welle der Suburbanisierung – Menschen ziehen ins Umland, wo ein kleines Häuschen samt Garten ruft und am Wochenende gar etwas Ruhe winkt.

Am Beispiel Berlin kann man diese Wellenbewegung sehr schön sehen. In den 90er Jahren kam es zunächst zur Deindustrialisierung, dann folgte der Zug ins Berliner Umland. Ab den Nullerjahren war Berlin zwar noch arm, vor allem aber sexy. Nicht nur Touristen kamen, pro Jahr zogen auch zehntausende Neu-Berliner in die Stadt, die nicht hinterherkam mit dem Bauen von Wohnungen.

Wie überall auf der Welt ziehen die Metropolen vor allem junge Menschen an, die sich in neuen kreativen und digitalen Industrien verdingen und neue Wertschöpfungsketten entwickeln. Die Dichte – und auch Liberalität – der Großstädte mit ihren Universitäten, bunten Netzwerken und Unternehmen führte zu einer immer weiter fortschreitenden Clusterbildung. Damit aber auch zu steigenden Mieten und Immobilienpreisen, zu immer weniger Platz und Raum für Gewerbe, Kultur, Wohnen und Leben. In Berlin beispielsweise liegen die Zuzugsraten mittlerweile so niedrig wie seit 15 Jahren nicht mehr, 2020 schrumpfte die Bevölkerung sogar. Ähnlich sieht es in anderen deutschen Großstädten aus.

Doch die Folge ist nicht mehr automatisch der Wegzug ins direkte Umland, in einen Radius von 10, 20 Kilometern um die Stadt herum. Längst erleben auch Orte jenseits dieser Schwelle einen Zuzugsfrühling. In Hamburg oder München ist der Radius schon eine ganze Weile größer. Doch entscheidend ist, wie daraus eine Strategie werden kann, die Wachstum, Lebensqualität und Nachhaltigkeit in Stadt und Land in Übereinstimmung bringt.

Der Zeitfaktor

Als erstes braucht es dazu veränderte Blickwinkel. Es geht heute nicht mehr um Kilometer, es geht um Zeit. Entscheidend ist, wie schnell man am Wohn- oder Arbeitsort ist – nicht wie weit er entfernt ist. Reisezeiten mit dem Auto sind heute nur sehr begrenzt verkürzbar, zumal auch die Räume für immer mehr Straßen gar nicht mehr vorhanden sind. Es geht also um schnelle Bahnverbindungen aus der Stadt in die Region. Auf der Schiene lassen sich viele Menschen mit hoher Geschwindigkeit transportieren.

Überall da, wo Bahnstrecken modernisiert und beschleunigt werden, steigt die Zahl der Fahrgäste enorm. Damit lässt sich auch das Denken in konzentrischen Kreisen – in der Mitte das Stadtzentrum, drumherum die weiteren Stadtteile, dahinter das Umland der Einfamilienhäuser und dann das platte Land – überwinden. Man kommt so zu einem Korridor, der Entwicklung viel weiter in den ländlichen Raum trägt und Chancen eröffnet für Orte, die bisher als jottwede galten.

Neben der Zeit geht es zweitens darum, Entwicklungen in diesen Bahnkorridoren zu konzentrieren und ein Konzept für die letzte Meile zu entwickeln. Das heißt: Bahnhöfe zu Mobilitätshubs umzugestalten, mit Einkaufsmöglichkeiten, mit Gesundheitseinrichtungen, mit Bibliotheken, mit Treffpunkten, mit Parkplätzen, vor allem aber auch mit Ladesäulen für E‑Autos und E‑Bikes, mit Car‑Sharing-Angeboten, flexiblen Busangeboten.

Es ist ermutigend, dass der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung diese Themen bereits erfasst hat. Die »letzte Meile« vom und zum Bahnhof wird auch in Zukunft die Domäne des Individualverkehrs sein – entscheidend ist dabei, die Vernetzung der Verkehrsträger und Angebote des guten Lebens zu bündeln. Bahnhöfe wieder zum Mittelpunkt eines Ortes zu machen – das ist die Herausforderung der nächsten Jahre. Die Entwickler sagen heute, in absehbarer Zeit sei das autonome Fahren keine Fantasie mehr, sondern bald Realität. Ob sie in zehn oder 15 Jahren alltagstauglich und bezahlbar ist, wird man sehen. Fakt ist: Mobilität muss bis dahin so gut organisiert sein, dass Menschen nicht aus Bequemlichkeit am Ende ein autonomes elektrisch fahrendes Gefährt einem Zug vorziehen.

Darüber hinaus werden wir uns, drittens, daran gewöhnen müssen, dass auch auf dem Land nicht jede Familie in einem Einfamilienhaus wird wohnen können. Geschosswohnungsbau – möglichst klimaschonend aus Holz – und eine Verdichtung auch der Ortskerne, die Reaktivierung von Brachflächen sind nicht nur aus Nachhaltigkeitsgründen das Gebot der Stunde. Denn auch die Flächenkonkurrenz wird stärker – denn wir werden Platz brauchen für die Energieproduktion der Zukunft, sei es aus Wind, Sonne, Biomasse, sei es, weil wir Bäume zur CO2-Speicherung brauchen.

Die Möglichkeit, auch außerhalb des angestammten Büros zu arbeiten, eröffnet viertens Chancen für neue Wirtschaftskreisläufe für den ländlichen Raum. Das Dorf, die Kleinstadt ist dann eben zu mehr als nur zum Schlafen da. Co-Working-Spaces boomen derzeit gerade auch im ländlichen Raum. In Lübben, einer Stadt gut 50 Kilometer von Berlin entfernt, entsteht in einer einzigartigen Kooperation zwischen Kommune und der Wissenschaftsstadt Adlershof ein Co-Working-Space für mehrere hundert Menschen. Dort können sie gemeinsam arbeiten – und brauchen dafür am Ende nur zwei- oder dreimal pro Woche in die Wissenschaftsstadt nach Berlin pendeln.

Solche Co-Working-Spaces mit neuen Arbeitsplätzen können zu Kernen einer neuen Lebendigkeit und Wertschöpfung auch auf dem Land werden. Sie können dazu beitragen, dass vor Ort lebendige Ortskerne entstehen, wo manches gebündelt wird, was sich bisher nicht mehr gelohnt hat, sei es eine Kneipe, ein Bankautomat, eine Poststelle, eine Arztpraxis, eine Außenstelle der Kreisbibliothek, ein Raum für Vereine. Auch hier hat die neue Regierung vor, solche Orte zu unterstützen.

Doch es sind nicht nur Büroarbeitsplätze, die gemeinsam genutzt werden können. In Wiesenburg, im südlichen Brandenburg, wird gerade ein neues Dorf gegründet – ein ähnliches Projekt ist auch in Nordrhein-Westfalen im Gang.

Genossenschaftlich organisiert und aufgebaut, wird – direkt am Bahnhof – ein altes Sägewerk zu neuem Leben erweckt, gemeinschaftlich genutzte Arbeitsplätze und neuer Wohnraum geschaffen. In Wiesenburg mit seinen kaum 4.000 Bewohnern entsteht ein regelrechter »digitaler Campus«, wo weitere alte Gebäude neu genutzt werden. So entstehen neue Perspektiven für alte Räume. Energie wird in Zukunft viel stärker dezentral produziert und setzt so neue Wertschöpfungsketten in Gang – und zwar insbesondere auf dem Land.

Außenstellen von Hochschulen, Unternehmen oder Innovationsparks lassen sich so auch in ländlicheren Regionen ansiedeln – versorgt mit regional erzeugter Energie. Große Verwaltungen können für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Arbeitsplätze jenseits des »Stammhauses« anbieten, die sie tageweise nutzen können, wenn sie nicht am Küchentisch sitzen wollen aber auch nicht ins Amt pendeln müssen. Nutzungsdurchmischung – ein Schlagwort, das bisher vor allem für die geschäftigen Innenbezirke von großen Städten relevant war, kann so auch zu einem Markenzeichen für Dörfer und Kleinstädte werden.

Diese neuen Perspektiven müssen durch eine neue Politik flankiert werden. Eine Politik, die den ländlichen Raum und die Metropolen zusammendenkt, die Unterstützungsmöglichkeiten für neue Wohn- und Arbeitsformen entwickelt, die Genehmigungs- und Fördermöglichkeiten vereinfacht und an neue gesellschaftliche Entwicklungen anpasst. Der Anspruch der neuen Ampelkoalition auf deutliche Verkürzung und Vereinfachung von Antrags-, Förder- und Genehmigungsverfahren ist da bereits ein erster wichtiger Ansatzpunkt.

Die 400.000 neuen Wohnungen, die die neue Regierung pro Jahr ermöglichen will, werden kaum nur in den großen Städten errichtet werden (können) – die ländlichen Räume sollten in Form von Korridoren bereits von Anfang an in diese Strategie einbezogen werden. Im Koalitionsvertrag gibt es dazu einen spannenden Satz, der auf vieles hoffen lässt: »Wir wollen die Metropolregionen und ländlichen Regionen strategisch zum gegenseitigen Vorteil miteinander verknüpfen.« Denn benötigt wird eine Politik, die Wohnungs-, Infrastruktur- und Wirtschaftspolitik produktiv miteinander verzahnt. Es geht um eine Politik, die Stadt und Land strategisch zu Innovationskorridoren miteinander verknüpft.

Und die gleichzeitig darauf achtet, dass neue Entwicklungen nicht von außen raumschiffartig im Dorf landen und von den »Einheimischen« als Fremdbestimmung wahrgenommen werden. Die Alteingesessenen auf Augenhöhe mitzunehmen, einzubeziehen, nicht zu verdrängen, traditionelle Beziehungen, Bräuche und Erfahrungen einzubinden, ist eine Herausforderung, die man nicht unterschätzen sollte. Denn entscheidend ist, dass eine Perspektive entsteht, die am Ende allen nützt, bei der Win-Win-Situationen für Stadt und Land entstehen.

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