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© Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Jan Woitas

Gute Literatur jenseits von Politprosa und anderen Midcult-Mogelpackungen Schön und komplex

Derzeit gibt es wieder mal Streit im Literaturbetrieb. Es geht um die Kriterien anhand derer die Qualität von Literatur heutzutage sinnvoll bemessen werden kann, darf und soll. Die Vorlage lieferte ein Essay des Münsteraner Literaturwissenschaftlers Moritz Baßler in der Pop-Zeitschrift vom 28. Juni 2021, der mit dem sogenannten »Midcult« ein gar nicht so neues Phänomen der Unterhaltungsbranche beschrieb, welches darin besteht, dass viele belletristische Werke einen ästhetischen Anspruch nur simulieren, um vielmehr emotionale Bedürfnisse von Fangruppen und Stilgemeinschaften zu befriedigen. Tatsächlich war die gehobene Unterhaltungsliteratur, etwa das erbauliche Schreiben über Liebesschicksale in Kriegswirren, immer Teil der modernen Kulturindustrie, wurde von der Mehrheit der Literaturkritik wahlweise ignoriert oder verachtet, vom breiten Publikum und dem daran gut verdienenden Buchhandel hingegen geliebt. Baßler verglich das gruselige Wohlgefühl, das sich bei der Lektüre beispielsweise von Bernhard Schlinks Der Vorleser einstellen kann, mit der naiven und zugleich schmucklos-pathetischen Erzählstrategie von Takis Würgers Nazi-Schmonzette Stella, deren Verrisse einige Buchhändlerinnen und -händler dermaßen empörten, dass sie sich über die angeblich anmaßende Kritik in einem offenen Brief im Börsenblatt beschwerten.

Was Baßlers Ausführungen so interessant wie diskussionswürdig macht, ist die These, dass sich ein »neuer Midcult« entwickelt habe, der das »populärrealistische« Angebot mit identitätspolitischen Ideen grundiere. Texte würden demnach für gut befunden werden, wenn sie »Themen und Probleme, für die sich die partikulären Gruppen interessieren, (loss, trauma, abuse, Misogynie, Rassismus, Kapitalismus, Flucht)« behandelten, und zwar »in der richtigen Weise und vor allem: von den richtigen Autorinnen!«, aus deren Biografie das entscheidende Argument für oder gegen ein Buch gezogen werde. Womit im Einzelfall auch die Genetik wieder zum Ausschlusskriterium in der »woken Literaturbubble« werde.

Ist diese Entwicklung nur ein Hirngespinst oder sind Baßlers Einwände gegen die Literatur, die sich in die »Kuschelzone mythischer Wohlfühlselbstverständlichkeit« begeben habe, doch ernster zu nehmen? Die Reaktionen in den sozialen Netzwerken lassen das vermuten. Durchaus verräterisch war eine Replik des Lektors Florian Kessler in der taz vom 14.7.2021 (»Sprengt Denkmäler, schreibt welche!«), der im Carl Hanser Verlag nicht nur für das Würger-Buch verantwortlich war, die Baßler in die Midcult-Schublade steckte. Für Kessler sind verständlicherweise nicht die seicht-politisierenden Romane das Problem, sondern ist es die Literaturkritik, die »in einer Art aggressiver Arbeitsverweigerung« Karen Köhlers Roman Miroloi nicht gewürdigt habe, wie es der Verlag sich wohl erhofft hatte. Dass es gleichwohl genaue Analysen der genannten Texte zu lesen gibt, unterschlägt der Lektor, um das Festhalten an ästhetischen Kriterien schließlich als »übles Machtritual« zu denunzieren, das wiederum eine »politische Handlung« sei. Kurioserweise nennt Kessler nur zwei Kriterien, nach denen seiner Meinung nach ein Gespräch über Literatur sinnvoll sei, wenn den Werken nämlich »ohne normative Gewalt« und im Geiste eines »kulturellen Pluralismus« begegnet werde. Dass sich ein Verlag über Verrisse nicht freut, ist nachvollziehbar. Dass der Lektor eines maßgeblichen Publikumsverlags im Lande aber von der Literaturkritik einfordert, sie möge doch bitte ästhetische Wertungen unterlassen, um außerliterarische Qualitäten in den Blick zu nehmen, ist mehr als erstaunlich. Zumindest ist es aber die Bestätigung dessen, was Baßler über die sensibel-rabiaten Freunde des neuen Midcult schreibt.

Statt sich gegenseitig Ausschlussmechanismen vorzuwerfen, wäre es lohnender über die Grundlagen der eigenen Arbeit auch mal selbstkritisch nachzudenken. Was meinen Job angeht, beschäftige ich mich bei nahezu jeder Besprechung mit diesen Grundsatzfragen: Was macht für wen einen Text gut und schön? Warum sind diese und nicht andere Kriterien für die Lektüre wichtig? Haben sich die eigenen Ansprüche im Laufe der Zeit verändert und in welcher Weise hängt dieser Wandel tatsächlich mit politischen oder auch privaten Veränderungen zusammen? Wie kommt es, dass Bücher, die in einer frühen Lebensphase beeindrucken, später dann aber langweilen? Entwickelt sich aus dem professionellen Lesen zwangsläufig eine déformation professionelle? Und wenn, ist das nicht vielleicht sogar wünschenswert? Welche Rolle spielt in meiner Rezeption das Publikum? Sind Rezensionen nur Varianten der Verlagsreklame? Oder gibt es noch immer einen unabhängigen Literaturjournalismus, der sich weder vom Midcult-Marketing noch von Identitätsdiskursen leiten lässt?

Wenn ich ehrlich bin: Die Antworten fallen in zunehmend kürzeren Abständen sehr unterschiedlich aus. Außerdem stelle ich mit fortschreitendem Alter eine sinkende Toleranz gegenüber leicht durchschaubaren Schreibkonzepten fest. Womit schon ein zentrales Kriterium genannt wäre, das für mich wichtig ist (und für andere womöglich ein Warnhinweis, ein Buch zu meiden): Komplexität. Das bezieht sich sowohl auf die Figurenanlage als auch auf die Handlung bzw. bewusst zelebrierte Non-Action, überhaupt auf alle Ebenen eines Textes. Daraus folgt eine Tendenz zur Ambiguität. Widersprüchlichkeit statt klare Zuordnungen, dramaturgische Offenheit statt ideologische Festlegung. Inhaltliche und stilistische Originalität. Der eigene Ton, die unverwechselbare Stimme. Zumindest der Versuch einer sprachlichen Innovation. Varianten- und Anspielungsreichtum. Intertextualität und Rekurs auf die literarische Tradition. Das Spiel der Stilmittel im Hinblick auf den Inhalt. Die Kunst, im Kleinen größere Zusammenhänge aufscheinen zu lassen. Das ästhetische Vermögen, Genregrenzen aufzubrechen, sie zu verwischen. Die Fähigkeit, die eigenen Schreibprämissen im Text infrage zu stellen. Man könnte noch eine ganze Reihe weiterer Qualitätskriterien nennen, und doch gehen sie alle in eine ähnliche Richtung. Dabei ist entscheidend, dass die Merkmale nicht wie ein Forderungskatalog an das Werk angelegt werden. Literaturkritik, wie ich sie verstehe, nämlich als eine Art sokratischer Hebammenkunst, beschäftigt sich zunächst einmal mit den Ansprüchen, die ein Text selbst entwickelt. Meistens werden Bücher veröffentlicht, die Stärken und Schwächen aufweisen. Die gilt es, an Beispielen herauszuarbeiten. Wenn ein Roman jedoch allzu simplen Mustern folgt und diese Eindimensionalität belegt werden kann, sollte er auch der Trivialliteratur zugerechnet werden dürfen. Was nicht ausschließt, dass andere vom selben Werk begeistert sind. Diese Dissonanz in der öffentlichen Meinung hat mit kulturellem Pluralismus mehr zu tun als die Aufgabe von jedwedem Urteil.

Für Pessimismus aber besteht kein Anlass, denn zeitgenössische Literatur ist, allen Unkenrufen zum Trotz, so vielfältig und überraschend wie selten zuvor. Was weniger an gerade beliebten politischen Konzepten, sondern vielmehr an der Ästhetik einzelner Werke liegt. Es ließe sich gewiss diskutieren, ob die künstlerische Avantgarde, wie Moritz Baßler meint, in der neueren deutschen Popliteratur zu finden ist. Aber es gibt tatsächlich viele belletristische Neuerscheinungen, die mit neuem Midcult und anderen Mogelpackungen wenig zu tun haben. Erstaunlicherweise lassen sich die anspruchsvolleren Erzählkonzepte ausgerechnet einem literarischen Genre zuordnen, das im Grunde als auserzählt gilt, nämlich dem Familienroman.

Herzklappen von Johnson & Johnson der österreichischen Schriftstellerin Valerie Fritsch ist ein gutes Beispiel. Zunächst beschäftigt sich das Buch mit einem Zentralthema der deutschsprachigen Literatur. Es geht um verdrängte Schuld und eine quälende Sprachlosigkeit, die von einer Generation auf die nächste übergeht. Die 1989 in Graz geborene Autorin entwickelt aus dem nahezu genretypischen Stoff allerdings einen Roman, der sich sowohl inhaltlich als auch sprachlich deutlich abhebt von anderen literarischen Reisen in die verbrecherische Vergangenheit der Väter und Großväter. Im Mittelpunkt des familiären Dramas steht Emil, Almas Sohn. Er ist vollkommen schmerzunempfindlich. Auch wenn es für diese Unfähigkeit eine medizinische Erklärung gibt, fürchtet sich Alma weniger vor den Folgen der seltenen Genmutation als vielmehr vor einer mythisch-seelischen Verbindungslinie vom großväterlichen Gefühlskrüppel zu ihrem Kind, das ein Schmerzempfinden erst als theatralischen Akt erlernen muss. Dem Großvater wurden Herzklappen von einer Firma namens Johnson & Johnson eingesetzt, und auch Emil überlebt nur mit viel Medizintechnik im Körper. Die Verwandtschaft will sogar »in Emils Gesicht jenes des Großvaters« wiedererkennen. Alma ist geschockt, dass »Emil dem Alten auf irgendeine Weise gleich sein sollte«. Aber weil Alma ihre Herkunft vollends verneint, sind die Dämonen der eigenen Sippe wirkmächtiger denn je.

Wenn über diesen Roman gesagt wird, er sei sprach- und bildmächtig, ist das keineswegs eine Feuilletonphrase. Valerie Fritsch ist Schriftstellerin und Fotografin, und sie weiß diese Doppelbegabung zu nutzen: Mit nahezu digitalpräzisen Sätzen scheint sie die bestürzenden und oft surrealen Szenen sprachlich abzufotografieren. Was zwangsläufig dazu führt, dass manche Figurenbeschreibungen zu verbalen Hinrichtungen werden, etwa wenn es über die kontrollsüchtige Mutter heißt, dass sie »jeden Dienstag die Regale abstaubte, bevor die Putzfrau jeden Mittwoch kam«. Die distanzierte Erzählperspektive, die sich keineswegs allwissend gibt, verstärkt diesen Effekt und lässt eine Literatur mit vielen markanten Formulierungen entstehen. Die Motive sind so gut durchgearbeitet in dieser Prosa, dass man ständig geneigt ist, Sätze zu unterstreichen, um sie später zitieren oder in sozialen Medien teilen zu können – wie das in unserer visuell gesteuerten Welt zumeist mit Fotos geschieht. Fritsch beherrscht den sprachlichen Radikalzoom. Die lyrische Nahaufnahme geht schnell über in ein farbenprächtiges Panoramabild, und weil die Autorin mit immer neuen Einstellungen überrascht, entsteht eine verstörende Unruhe, die gut zu den Figuren passt, die auch keinen Frieden finden.

Ein anderes Beispiel. Mit Daheim hat die 1979 in Berlin geborene Schriftstellerin Judith Hermann die verschlungene Geschichte eines Aufbruchs geschrieben, die mit Zeitsprüngen und Motivketten virtuos umzugehen vermag. Der Roman beginnt mit einem Rückblick. Auf ein Leben vor 30 Jahren, das von einer geregelten Arbeit in einer Zigarettenfabrik, aber auch vom Gefühl der Freiheit geprägt war, jederzeit neu anzufangen. Hermann beschreibt in Daheim eine namenlose Ich-Erzählerin, die sich mit Anfang 20 dem Rausch des Rauchens hingibt und sich aus den »Zusammenhängen« herauszuhalten versucht, auch wenn sie erkennt, dass die Maloche am Band »uns alle zu erledigten Geschöpfen machte«. Daheim verbringt die junge Frau viel Zeit auf dem Balkon im fünften Stock, vor allem an heißen Sommertagen. An einem Abend trifft sie an der Kasse der gegenüberliegenden Tankstelle einen seltsamen Mann im Anzug und mit schlohweißen Haaren, der sich als Zauberer vorstellt und sie ohne Umschweife fragt, ob sie ihm nicht beim alten Trick mit der zersägten Frau assistieren wolle. Sie dürfe gerne mal bei ihm zur Probe vorbeikommen. Der Kerl trägt Schuhe aus Schlangenleder, wirkt aber ansonsten bewusst unverdächtig. Ein gut getarnter Psychopath, möchte man meinen, was die Angesprochene aber nicht davon abhält, den Zauberer und dessen Frau im karg möblierten Bungalow zu besuchen. Tatsächlich legt sich die Unerschrockene auch in die dargebotene Holzkiste, und es fehlt nur noch, dass der Trick keiner ist und viel Blut spritzt. Was als mögliches Ende einer Short Story aufscheint, ist hier nur ein erzählerischer Auftakt: Die Autorin nutzt die unheimliche Episode, die das Leben der Frau prägen wird, sehr geschickt für die Gesamtkomposition des Romans, ohne dass es zunächst erkennbar wäre.

Statt mit dem etwas biederen Zaubererpaar nach überlebter Kistennummer auf Kreuzfahrttournee zu gehen, tritt die Erzählerin eine andere Reise an, um zusammenzufügen, was in der engen Kiste eben doch zerteilt worden war, »nicht körperlich, eher Kopf. Vielleicht im Herzen«. Die Geschichte ist sowohl realistisch als auch allegorisch zu lesen: Wir alle leben in irgendwelchen Kisten, hocken vor oder in Fallen des Lebens, das durch merkwürdige Erfahrungen zersägt zu werden droht. Die Literatur selbst ist eine große Zauberkiste, die Erinnerungen erst auseinandernimmt, um dann wieder etwas Neues entstehen zu lassen. Das Buch ist ein Familienroman, der mit vielen Vorstellungen von Familie aufräumt; es handelt sich aber auch um die Suche nach einer neuen Heimat, die eine Figur an den Rand des Landes und an die Grenze ihrer unsicheren Identität führt.

Zwei aktuelle Romane, die mit Erzählperspektiven und gewagten Zeitsprüngen spielen, die im Detail immer wieder überraschen, obwohl sie auf den ersten Blick bekannte Themen angehen. Komplexität und Widersprüchlichkeit der Figuren werden in Sprache überführt. Es geht um Identitätskrisen, ohne dass die Autorinnen diese identitätspolitisch aufladen. Politisch sind die Werke allemal, ohne dass eine Agenda aus diesen Prosawerken abzulesen wäre. Das Nachdenken und Schreiben über diese Bücher macht Literaturkritik zu einer Freude, gerade weil die ausgewählten Titel in ihrer Kunstfertigkeit unterhaltsam sind. Weder gibt es eine »Kriterienkrise« der Kritik noch ein Mangel an gelungener Literatur. Nicht das gewiss subjektiv eingefärbte Urteil eines Rezensenten ist das Problem, sondern die Vermischung von ästhetischer Diskussion, Agit-Prop und Reklame für eigene Produktlinien.

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson. Roman. 4. Aufl., Suhrkamp, Berlin 2020, 174 S., 22 €. – Judith Hermann: Daheim. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, 192 S., 21 €.

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