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Graphic Novel – die Intellektuelle unter den Comicbüchern Schöne Bilderwelt

Popkulturelle Phänomene haben mitunter kurze Halbwertszeiten. Einige verschwinden nach kurzer Zeit und es ist, als hätte es sie nie gegeben. So geschehen beispielsweise mit dem als besonders exklusiv beworbenen sozialen Netzwerk Clubhouse, das 2021 für ein paar Monate in aller Munde war. Und auch mit dem Fidget Spinner, dem Lieblingsspielzeug aller Schulkinder und Nervösen im Frühjahr 2017  – heute wie vom Erdboden verschluckt.

Graphic Novels machen Romanen und Sachbüchern Konkurrenz.

Nur wenige Trends werden zu Dauerbrennern. Dazu gehört ohne Zweifel die Graphic Novel, ein US-Import, der inzwischen Romanen und Sachbüchern in vielen Bücherregalen Konkurrenz macht. 2021 verdoppelte sich in Nordamerika der Umsatz von Graphic Novels im Vergleich zum Vorjahr. Die Pandemie hat sicher ihren Teil zum Erfolg des Genres beigetragen, doch vor allem passt die noch immer junge Gattung nur zu gut zum Zeitgeist der 2020er Jahre.

Die Graphic Novel hat das vielbesungene Coffeetablebook im bürgerlichen Haushalt längst abgelöst. Sie ist die Intellektuelle unter den Comicbüchern, gleichzeitig aber leicht zu konsumieren. Sie eignet sich gut als Gesprächsgegenstand und Geschenk, ist aufwändig produziert und erzielt dennoch hohe Erträge für die Verlage. Gerade bei Millennials und Angehörigen der Generation Z ist sie beliebter denn je. Selbst Menschen, die sonst eher selten zu Belletristik greifen, gehören zur Zielgruppe des Genres.

Für Graphic-Novel-Neulinge sind die äußert erfolgreichen Werke der schwedischen Zeichnerin Liv Strömquist ein perfekter Einstieg. Üblicherweise setzt diese sich auf humorvolle Weise mit den Ungerechtigkeiten des Patriarchats auseinander. 2023 ist ihr bemerkenswerter Band Liv Strömquists Astrologie erschienen. Sternzeichen und Horoskope sind nicht nur für die Generation Z von größter Bedeutung, auch viele Börsenspekulant*innen schwören, dass ihr Schicksal in den Sternen liegt. Immer dann, wenn Zukunft unkontrollierbar erscheint, steht Sterndeutung hoch im Kurs. Als Meisterin ihres Fachs thematisiert Strömquist kunstvoll parodistisch die esoterischen Bedürfnisse einer von Angst zerfressenen Gesellschaft.

Vom Comic zur Graphic Novel

Über Graphic Novels wurde viel Falsches und Irreführendes geschrieben, zum Beispiel, dass die Erfindung des Genres ein reiner Marketingtrick gewesen sei, um Comics an erwachsene Bildungsbürger*innen zu verkaufen. Tatsächlich stammt der Begriff des (frei übersetzt) »illustrierten Romans« aber nicht von einem geldgierigen Marketinggenie aus der Verlagsbranche, sondern wurde durch einen Comiczeichner populär gemacht. Der Amerikaner Will Eisner veröffentlichte 1978 Ein Vertrag mit Gott unter dem Label »Graphic Novel«, das sowohl auf dem Cover als auch im Vorwort zu finden ist. Der Zeichner suchte für die Geschichte, die er in seinem Werk erzählen wollte, eine Ausdrucksform, die sich ausdrücklich von der des Comics, seinem üblichen Metier, abgrenzen sollte. Darin verarbeitete er in mehreren Kurzgeschichten seine jüdische Kindheit in der New Yorker Bronx. Der Band richtet sich mit einer feinsinnigen, ernsten und doch humorvollen Bildsprache ausdrücklich an erwachsene Leser*innen. Der Begriff »Graphic Novel« war zwar vereinzelt schon in den 60er Jahren von einigen Kollegen Eisners verwendet worden, ein eigenes Subgenre entwickelte sich daraus aber erst infolge des Erscheinens von Ein Vertrag mit Gott.

Ohne »Asterix und Obelix« hätten viele nie etwas vom Konflikt zwischen Rom und Gallien gehört.

Die Abgrenzung von Comic und Graphic Novel ist dennoch nicht ganz einfach. Genau wie eine Graphic Novel kann ein Comic – zumal eine mehrbändige Reihe – komplexe, ernste und bedeutsame Geschichten transportieren. Jede Person, die schon einmal ein japanisches Manga gelesen hat, weiß, wovon die Rede ist. Aber auch Superheld*innencomics verhandeln mitunter tiefgreifende und sogar politische Fragen. Und man denke an die französische Reihe Asterix und Obelix, ohne die viele Menschen noch nie etwas vom Konflikt zwischen Rom und Gallien gehört hätten. Die vor allem in Deutschland so klar gezogene Grenze zwischen E- und U-Kultur war schon immer nicht ganz nah an der Realität.

Auch der Stil ist kein eindeutiges Kriterium. Viele Graphic-Novel-Zeichner*innen legen großen Wert auf künstlerischen Ausdruck, es gibt aber auch solche mit klassischem Comic-Pinselstrich. Hier ist alles vertreten von verträumten Aquarellbildern bis hin zu Strichmännchen.

Keine klare Definition

Eindrücklich in dieser Hinsicht ist das feministisch-philosophische Märchen Mein Freund Pierrot von Jim Bishop. Es steht in der Tradition japanischer Klassiker aus dem Manga-Kosmos in Anlehnung an den Studio-Ghibli-Stil. Hier ist der Begriff der »Novel« ausnahmsweise wörtlich verstanden. Was zunächst wie eine bildgewaltige und doch banale Fantasy-Liebesgeschichte für Teenager und gelangweilte Hausmänner und -frauen wirkt, entpuppt sich bald als schmerzhafte Auseinandersetzung mit dem unerreichten Ideal von Romantik und Seelenverwandtschaft. Dabei verfolgt Bishop durchaus ein politisches Anliegen. Es geht um Selbstbestimmung und Gleichberechtigung. Seine Protagonist*innen sind nicht nur Comic-Held*innen, sondern auch, fast im brechtschen Sinne, Figuren in einem Lehrstück.

An dieser Graphic Novel wird deutlich: Die Schwierigkeit einer klaren Definition ergibt sich nicht nur aus der Vielfalt der Stile, sondern auch der Inhalte. Das Spektrum reicht von Fiktion über nicht-fiktive Geschichten, persönliche Erinnerungen, Dokumentationen von Weltgeschehen bis hin zu theoretischen Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Fragen. Natürlich gibt es auch den namensgemäßen »illustrierten Roman«, so beispielsweise eine grandiose Interpretation des Jahrhundertwerks Der Mann ohne Eigenschaften (Robert Musil) durch den Comickünstler Nicolas Mahler von 2013.

»Bilder stellen schneller als Worte Verknüpfungen mit Emotionen und Erinnerungen her.«

Wir leben im Zeitalter der massenverfügbaren Bilder, die sich, dank World Wide Web, schneller vervielfältigen, verbreiten und teilen lassen als jemals zuvor. (Grüße gehen raus an Walter Benjamin.) Gerade an der Entwicklung der sozialen Netzwerke lässt sich dieser Trend ablesen: Das meistgenutzte Social Network in Deutschland war im Jahr 2023 YouTube, gefolgt von Facebook, Instagram und TikTok. Bildbasierte Plattformen haben textzentrierte abgelöst. Diejenigen, die sich den visuellen Vorlieben ihrer Nutzer*innen angepasst haben, sind kontinuierlich erfolgreich – und werden immer erfolgreicher.

Das hat nicht zuletzt neurologische Gründe: Das menschliche Gehirn verarbeitet Bilder um ein Vielfaches schneller als Text. Während beim Lesen jedes einzelne Wort erfasst und zugeordnet wird, wird das Bild als Ganzes wahrgenommen und assoziiert. Bilder stellen schneller als Worte Verknüpfungen mit Emotionen und Erinnerungen her; das bedeutet, sie berühren uns eher, machen uns aber andererseits leicht beeinflussbar – selbst dann, wenn wir wissen, dass es sich um Fakes oder KI-generiertes Material handelt. Mit Bildern können Wahl­ergebnisse, Kaufentscheidungen und Meinungen beeinflusst werden. Bilder können uns ergreifen und lassen uns mitunter nie mehr los. Und sie scheinen süchtig zu machen.

Politisches Storytelling

Bilder, die sich auf der Netzhaut einbrennen, zeichnet zum Beispiel der deutsch-iranische Comiczeichner Adrian Pourviseh. Er hat die Rettungseinsätze der Sea-Watch 3 im Mittelmeer zwischen Italien, Malta und Tunesien begleitet und dokumentiert. Sein Band Das Schimmern der See erzählt von der Unmenschlichkeit, mit der Geflüchtete an den Außengrenzen Europas nicht nur im Stich gelassen und im Auftrag der EU verschleppt werden, von der Hilflosigkeit der Retter*innen, von Übermüdung, Ernüchterung und Überarbeitung. Gleichzeitig ist ein Werk wie dieses ein Schimmer der Hoffnung. Es lenkt den Blick an Orte, die von vielen nicht gesehen werden wollen, um nichts verändern zu müssen.

Wer sich in das Genre »hineinschmökert«, stellt schnell fest, wie viel graphisches Geschick, Raffinesse und künstlerisches Konzept darin stecken. Autor*innen und Zeichner*innen treten fast ausnahmslos mit utopistischem Anspruch auf, sei es, indem sie Geschehnisse erzählen und dokumentieren, die sonst zum Wegschauen verführen, sei es durch politisch motiviertes Storytelling.

Damit folgt die Graphic Novel des 21. Jahrhunderts auf ihre Art dem Vorbild Will Eisners, in dessen Werken Identität und Selbstbehauptung eine wichtige Rolle spielen. Wir sollen hin- und nicht wegschauen, kein Eskapismus, sondern mehr Kontakt mit der Realität. Subjektivismus wird zur Stärke: Die Geschichten sind klar den Perspektiven ihrer Erzähler*innen zugeordnet, die nicht selten selbst auftreten und ihre eigenen Konflikte einbringen. Sie erheben keinen Anspruch auf Objektivität, sie drängen sich nicht auf, sie werden zu echten Gegenübern ihrer Leser*innen.

Memoir in Bildern

Als Barbara Yelin beschloss, die flüchtigen und immer wieder quälenden Erinnerungen der Shoah-Überlebenden Emmie Arbel zu dokumentieren, war schnell klar, dass sie in ihrer Graphic Novel Die Farbe der Erinnerung als Zeichnerin nicht unsichtbar bleiben durfte. Sie taucht selbst in ihren Bildern auf, thematisiert ihre Unsicherheit und Überforderung, die unzähligen Gespräche mit ihrer Protagonistin. Dabei ist sie sich der Verantwortung bewusst, die sie übernimmt. Die Erinnerungen Emmie Arbels sind kostbar für uns alle, deren Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass die Geschichte sich nicht wiederholt. Yelin erzählt eine Lebensgeschichte, die verschattet ist und zugleich vom ungeheuren Mut einer Frau zeugt, die allen Umständen zum Trotz überlebt hat und sich erinnert.

Viele Graphic Novels sind so wie diese berührend und politisch, erzählerisch brillant und zugleich ernst und existenziell. Sie fügen sich in bester Weise, fast schon verantwortungsvoll, in die Bilderflut unserer Zeit ein. Es steht zu erwarten, dass das Genre angesichts der Dominanz visueller Medien in Zukunft mehr und mehr Raum im Buchhandel einnehmen wird.

Liv Strömquist: Astrologie, Übersetzung aus dem Schwedischen von Katharina Erben. avant-verlag, 2023, 176 S., 22 €.

Jim Bishop: Mein Freund Pierrot, Cross Cult, 2023, 265 S., 35 €.

Adrian Pourviseh: Das Schimmern der See, avant-verlag, 2023, 224 S., 26 €.

Barbara Yelin/Emmie Arbel: Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung, Reprodukt, 2023, 192 S., 29 €.

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