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Bücher über den Umgang mit der Natur »Schöpfung ohne Krone«

Die Corona-Krise legt vieles offen. Neben einem tief verankerten Bedürfnis nach Toilettenpapier und Nudeln auch den Irrglauben wohlhabender Städter, ihre ländlichen Zweitwohnsitze seien eine Art »zweiter Heimat«. »Jetzt sogar Polizeikontrollen! Schleswig-Holstein schmeißt Hamburger Touristen raus«, titelte die Hamburger Morgenpost in ihrer Internet-Ausgabe vom 18. März 2020 und bekräftigte im nachfolgenden Bericht, dass davon nicht nur Touristen, sondern auch Inhaber von Zweitwohnsitzen betroffen seien. Hier lebten alte Ressentiments zwischen Stadt- und Landbevölkerung auf. Dahinter steht auch der Gegensatz zwischen dem Menschen als Kulturwesen und der Natur, aber dazwischen liegt ein weites Feld, auf dem Missverständnisse gedeihen.

Sicher ist, dass die aktuelle Pandemie und deren Vorläufer wie SARS und Ebola ausbrechen konnten, weil der Mensch wilden Tieren und deren Lebensräumen zu nahegekommen ist. Nicht nur die Jagd, auch die Zerstörung oder Verkleinerung ganzer Ökosysteme hat dazu geführt, dass sich nunmehr unbehauste Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen neue Lebensräume suchen mussten; und zu denen zählt auch der menschliche Organismus, der zum schuldigen Opfer zu werden droht. Gerade erst hat der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht in seinem Buch Das Ende der Evolution für einen konsequenten Artenschutz plädiert. Nun hat der Münchner Oekom-Verlag das Werk der amerikanischen Soziologin Eileen Crist Abundant Earth: Toward an Ecological Civilization unter dem Titel Schöpfung ohne Krone herausgebracht, der im Hinblick auf das Corona-Virus einen seltsamen Doppelsinn bekommen hat.

Crists Plädoyer für einen weitgehenden Rückzug der »Krone der Schöpfung«, also des Menschen, aus der Natur erscheint radikaler formuliert als Glaubrechts Ansatz, kollidiert aber mit demselben Problem. Für einen nachhaltigen Umgang mit der Natur und für die Einrichtung weitläufiger Natur-Schutzräume auf unserer Erde sind wir einfach zu viele. Derzeit beträgt die Weltbevölkerung rund 7,8 Milliarden Menschen. Allenfalls zwei Milliarden Menschen hält Crist für »eine vertretbare Zahl«. Wie Glaubrecht setzt sie zur Beschränkung der Geburtenzahlen gerade in der Dritten Welt auf Bildungs- und Förderprogramme, die es Frauen erlauben, über ihr Leben und ihren Nachwuchs selbst zu bestimmen. Was aber soll man inzwischen mit jenen Anfang April 2020 rund 5,8 Milliarden Menschen machen, die über das »Vertretbare« hinaus auf unserer Erde leben? Und die sich derzeit trotz Pandemie auch munter weiter vermehren.

Während die Länder der Welt derzeit bis zum wirtschaftlichen Kollaps um den Schutz und die Gesundheitsversorgung ihrer Bewohner kämpfen, schreitet die Zerstörung letzter Naturräume durch die Ausbeutung von Bodenschätzen und der Umwandlung von Naturwäldern in Plantagen ungebremst voran und schafft damit die Voraussetzung für weitere Pandemien. Das läuft mittelfristig zwar auf eine drastische Selbstbeschränkung der Weltbevölkerung hinaus, aber auf eine katastrophale, verantwortungslose und menschenverachtende Art und Weise.

Ökologische Sündenfälle

Will man auf humane und naturnahe Weise gegensteuern, so können dabei Rückblicke auf die Entwicklung Europas helfen, denn hier nahm zwar vieles seinen Ausgang, was uns heute Probleme macht, doch zugleich hat es hier auch viel gegeben, was diese zumindest mildern könnte. Zwar kamen aus Europa die maßgeblichen Anstöße zur industriellen Revolution und zu einer artenarmen Agrarindustrie, doch zugleich zeugen Europas Landschaften von einem jahrhundertlangen Mit- und Nebeneinander von Kulturlandschaft und Natur. Wenn die Soziologin Crist dezidiert polemisch von »Kolonisierung und Zerstörung« der Biosphäre durch den Menschen schreibt, dann klingt das so, als sei man der Natur schon von Anfang an mit Gewehren und Planierraupen zu Leibe gerückt, um sich ihrer Schätze zu bemächtigen. Bemüht man sich freilich so beherzt wie die Autorin, »die Welt aus der Perspektive nicht menschlicher Lebensformen« zu betrachten, scheut aber gleichzeitig nicht vor körperlicher Landarbeit zurück, so erscheint der Mensch dabei weniger als Usurpator denn als gefundenes Fressen für Bremsen und Stechmücken, während ein gerade frisch »kultiviertes«, sprich umgegrabenes Stückchen Erde alle möglichen Arten von Bäumen, Gräsern und Kräutern zur Neubesiedelung einlädt. Tiere und Pflanzen verhalten sich so opportunistisch wie der Mensch und der sprichwörtliche Fuchs im Hühnerstall, nur hat ihre Natur ihnen den Weg zu einer kulturellen Evolution verwehrt.

Gäbe es eine Biohermeneutik, die es uns erlaubte, die Entwicklung unserer Art wie Crist »aus der Perspektive nicht menschlicher Lebensformen« zu sehen, so erschiene die Menschheitsgeschichte auf mehrere ökologische Sündenfälle zugelaufen zu sein. Einer wäre das, was man als »Kultivierung« von Naturräumen bezeichnet, nämlich deren Umwandlung in intensiv – also nahezu ausschließlich für den menschlichen Gebrauch – genutzte land- und forstwirtschaftliche Flächen. Ein weiterer und noch weiter reichender Sündenfall wäre die industrielle Revolution, deren Auswirkungen auf das Landleben der Kulturgeograf Werner Bätzing das »Ende der Fläche« nennt: »War die gesamte Wirtschaft vor der Industriellen Revolution im Rahmen des solaren Zeitalters mehr oder weniger an die Fläche gebunden (dies gilt nicht nur für die Landwirtschaft, sondern auch für das Handwerk mit seinem Rohstoff- und Energiebedarf), weshalb die Zahl und die Größe der Städte hochgradig limitiert waren, so entkoppelte sich das industrielle Wirtschaften erstmals in der Geschichte der Menschheit von der Fläche und konzentrierte sich räumlich auf vergleichsweise wenige und flächenkleine Standorte. Oder anders ausgedrückt: Das fossile Zeitalter bedeutet das ›Ende der Fläche‹.«

War das »solare«, also vorindustrielle Wirtschaften auf nachwachsende Energieträger wie Holz, sowie auf Wind- und Wasserkraft, auf Last- und Zugtiere und – last but not least – auf physische menschliche Arbeitskraft angewiesen, so ermöglichte die Erschließung fossiler Brennstoffe wie Braun- und Steinkohle und später auch Erdöl und Gas es, über Jahrmillionen hin gewachsene Energievorräte auszubeuten. Um die Dimensionen dieses Verbrauchs anschaulich zu machen, schreibt Bätzing, wäre bereits im Jahre 1800, um den Energiegehalt der damals verbrauchten Steinkohle zu erhalten, »eine Waldfläche von der Größe ganz Englands und wenige Jahrzehnte später sogar eine Waldfläche von der dreifachen Größe Englands« nötig gewesen.

Wandlungen des Landlebens

Das gibt auch einen Eindruck davon, welch ein enormer Anstieg des Ausstoßes von Kohlendioxid mit der Verbrennung jener Steinkohle verbunden war – und das, als Industrialisierung und Mobilisierung der Menschheit mittels fossiler Brenn- und Treibstoffe noch in den Kinderschuhen steckten. Während Bätzing für das mittelalterliche Deutschland eine »Gleichwertigkeit von Stadt und Land« konstatiert, habe sich das Verhältnis seit dem 18. Jahrhundert zugunsten städtischer Zentren verschoben. Neben dem Ende der Fläche lässt sich zudem auch eine Entwicklung beobachten, die man ein Ende der Strecke nennen könnte. Die Motorisierung des Verkehrs durch Dampf- und Verbrennungsmotoren, erst recht der Flugverkehr ließen Transportzeiten und Kosten auch für landwirtschaftliche Erzeugnisse schrumpfen und erlaubten den Import von stickstoffreichem Natur- und Mineraldünger. Mit der Industrialisierung wuchs die Produktivität der Landwirtschaft, aber auch die internationale Konkurrenz.

Je weiter sich das Landleben vom Bilderbuchbild eines Bauernhofs entfernte, desto mehr auch geriet es ins Visier diverser Schützer, die – je nach Saison – die Natur, die Tiere, die Umwelt oder die Artenvielfalt vor den rohen Bauern bewahren wollten. Doch habe, wie Bätzing anmerkt, das Landleben »noch bis vor kurzer Zeit als beschränkt, borniert und rückständig« gegolten, so habe sich das seit dem Jahre 2005, als die Zeitschrift Landlust auf den Markt gekommen sei, radikal geändert: »Das Landleben wird auf einmal schick und modern und steht für eine neue und naturnahe Zukunft.« Nähe allein schafft aber noch keine echte Beziehung und dem britischen Farmer, Historiker und Buchautor John Lewis-Stempel erscheint die Bezeichnung »Nature Writer« für sich selbst deshalb als irreführend. Neben literarischer Verarbeitung nimmt er zugleich konkrete Bearbeitung für sich in Anspruch: »Ich liefere einen Blick aufs Land aus der Perspektive von jemandem, der darauf arbeitet.« Sein jüngstes Werk Im Wald ist dem winzigen Ein-Hektar-Wäldchen Cockshutt Wood gewidmet, als dessen Pächter er den Lauf eines Jahres verfolgt hat. Der Miniaturnatur und ihren Bewohnern rückt er mit allerlei Werkzeug, Axt und Säge, Flinte und Büchse zu Leibe, doch auch indem er seine Schweine, Kühe und Schafe hineintreibt, damit diese Laub und Früchte fressen, das Unterholz lichten und den Boden düngen. Wie in seinen früheren Büchern mischt Lewis-Stempel Arbeitsprotokolle mit Naturbeobachtungen, streut Blüten englischer Naturlyrik ebenso ein wie historisches, botanisches und zoologisches Hintergrundwissen und stellt dabei nüchtern fest: »Landwirtschaft: Immer geht es um Rechnungen und Rendite.«

Seine Tiere kann das Wäldchen allein nicht ernähren; er muss zufüttern. Und Tiere zeigen zwar Ansätze von Selbstmedikation durch Verzehr von Heilkräutern, wissen aber nicht immer, was gut und was schlecht für sie ist. Und je größer sie sind, desto größer werden auch die Spuren, die sie auf dem Waldboden hinterlassen – sowohl in Form von Kuhfladen als auch von Hufabdrücken. Zum Verbiss von Jungbäumen und Unterholz allgemein kommen also zahlreiche Einflüsse des Nutzviehs, die der Landwirt wie bei der Weidewirtschaft durch das Ziehen von Zäunen steuern kann. Als ein Überbleibsel einer einst landesweiten Bewaldung Großbritanniens zeigt der botanisch und zoologisch artenreiche Cockshutt Wood seit Jahrhunderten, dass sich Natur- und Kulturlandschaft durchaus wechselseitig durchdringen können. In der »Agroforstwirtschaft« von heute lebt eine Praxis auf, die im Spätmittelalter zugunsten feudaler Jagdreviere verloren gegangen war.

Gegenüber mit viel zu viel Energie und Chemie betriebenen Monokulturen steht Cockshutt Wood modellhaft für eine Diversifizierung und Lokalisierung ländlichen Wirtschaftens. Auch Bätzings Resümee läuft vor allem darauf hinaus, »Energie einzusparen, was einen tiefgreifenden Umbau aller Wirtschafts-, Siedlungs- und Infrastrukturen und aller persönlicher Verhaltensweisen bedeutet und was gleichzeitig mit einer Aufwertung der menschlichen Arbeit verbunden ist«.

Vor allem solche Aufwertung erleben wir in der Corona-Krise auf teils groteske Weise. Kaum waren die Bannflüche gegen Touristen verhallt, erhob sich auf dem Land großes Heulen und Zähneklappern, weil außer den eitlen Städtern zunächst auch den wohlfeilen Erntehelfern aus Osteuropa der Zugang verwehrt wurde. Nun dürfen sie kommen, aber nur per Flugzeug. Das Klima retten wir später, wenn der Spargel geerntet ist.

Werner Bätzing: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. C.H.Beck, München 2020, 302 S., 26 €. – Eileen Crist: Schöpfung ohne Krone. Warum wir uns zurückziehen müssen, um die Artenvielfalt zu bewahren. Oekom, München 2020, 336 S., 28 €. – Matthias Glaubrecht. Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten. C. Bertelsmann, München 2019, 1.072 S., 38 €. – John Lewis-Stempel: Im Wald. Mein Jahr im Cockshutt Wood. DuMont, Köln 2020, 284 S., 22 €.

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