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Zum heutigen Wert der Regionalsprachen Schrippe oder Semmel

»Wir können alles. Außer Hochdeutsch.«(von 1999 bis 2021 Werbeslogan des Landes Baden-Württemberg), »In Hamburg sagt man Tschüss.«(Zitat der Hamburger Volksschauspielerin Heidi Kabel) Beim Bäcker kauft man Schrippen, Rundstücken, Weckle oder Semmeln. Es gibt nur wenige Länder in Europa, in denen sprachlicher Regionalismus eine solch bedeutende Rolle spielt wie in Deutschland. Mit diesem Regionalismus ist der Gebrauch sprachlicher Sonderformen als Symbole eines spezifischen Zugehörigkeitsempfindens gemeint, als Ausdruck einer regionalen Kultur, die sich auch in anderer Weise ausdrückt (im Karneval etwa, in Rudimenten regionaler Küche oder in Zuschreibungen regionaler Mentalitäten).

»Heimatgefühl ist Ausdruck einer Grenzziehung, verbunden mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zu dem so Abgegrenzten.«

Ein Heimatgefühl speist sich aus einem Zugehörigkeitsempfinden, in der Regel zu einer abgegrenzten lokalen, regionalen, nationalen oder noch größeren räumlichen Einheit. Abgesehen von der metaphorischen Verwendung des Begriffs (»Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss.« Herder 1802), die etwa auch eine Sprache meinen kann. Es ist Ausdruck einer Grenzziehung, verbunden mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zu dem so Abgegrenzten.

Deutschland ist andererseits aber auch ein Land hoher Mobilität: geografisch, weil Menschen nicht mehr zwangsläufig dort leben, wo sie aufgewachsen sind; sozial, weil zum Beispiel die Kinder nicht mehr unbedingt dem gleichen sozialen Milieu angehören wie ihre Eltern; sozialpsychologisch, wenn Traditionen einem modernen Lebensstil gegenübergestellt werden. Warum sollte sich also die Sprache lokal konservieren lassen?

In der Tat ist in Deutschland seit Langem ein Dialektrückgang zu verzeichnen. Dieser ist zwar nicht so dramatisch, wie er immer wieder einmal diagnostiziert wird. Aber tatsächlich ist seit den 60er Jahren – übrigens in der BRD wie der DDR – ein Rückgang regionaler Sprachformen festzustellen, der sich besonders in den mittel- und niederdeutschen Dialekten abzeichnete. In einer Studie des Instituts für deutsche Sprache von 2024 bewegt sich der Anteil derer, die angeben, gut oder sehr gut »Plattdeutsch« zu sprechen, zwischen 24,5 (Schleswig-Holstein) und 2,8 Prozent in Brandenburg.

Im kürzlich erschienenen Norddeutschen Sprachatlas heißt es zusammenfassend: »In den einzelnen Dialektregionen unterschiedlich, jedoch mit einheitlicher Entwicklungsrichtung zeigt sich eine Standardadvergenz [-annäherung, d. A.], die im Abbau lokaler und regionaler Strukturmerkmale des Niederdeutschen besteht.«

Beispiele für den Lautwandel des Niederdeutschen ist etwa die Abkehr vom s-pitzen S-tein, die seit Langem zu beobachten ist: Man spricht fast überall sch statt s vor Konsonanten (in spitz, Stein, Schlange, Schrank, Schwein, Schneider). Eine raschere Entwicklung ist der Übergang vom Zungenspitzen-r zum Rachen-r, der erst mit der heute jüngeren Generation eingetreten ist. In oberdeutschen Dialekten ist der Rückgang langsamer, aber die Entwicklungsrichtung ist die gleiche.

Sonderfall Regiolekt

Nun sprechen aber diejenigen, die den lokalen Dialekt aufgeben, keineswegs fortan uniform standarddeutsch. Im Norddeutschen Sprachatlas heißt es weiter: »Die Regiolekte werden hingegen überall zum Träger sprachlich vermittelter Regionalidentität.« Unter »Regiolekt« werden Sprechweisen zusammengefasst, die regionale Merkmale tragen, aber dem Hochdeutschen näherstehen als die Dialekte.

»Heimatgefühl kann sich auch an Orte knüpfen, die nicht in hohem Ansehen stehen, aber in denen man sich auskennt.«

Als ein Beispiel kann der Berlin-Brandenburgische Regiolekt gelten, der aus der Ausbreitung der Berliner Stadtsprache ins brandenburgische Umland resultierte und das Niederdeutsche – bis auf das nördlichste Brandenburg – verdrängt hat. Beispiele sind ooch statt ook oder loofen statt lopen, also niederdeutsches oo, aber hochdeutsches »ch« bzw. f. Es sind die Regiolekte, die heute in den meisten Gegenden Deutschlands Regionalidentität ausdrücken. Manche ihrer Merkmale finden sich auch in jugendsprachlichen Sprechweisen oder auch im »Kiezdeutsch« wieder. Sprache markiert in vielerlei Hinsicht »Heimat« und Zugehörigkeit; regionale, soziale, altersgemäße, migrationsbedingte... Dass dabei manche dieser Hinweise prestigereicher sind als andere, tut dem keinen Abbruch. Denn Zugehörigkeit arbeitet nicht nach dem bloßen Parameter des Ansehens, sondern erfüllt das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Heimatgefühl kann sich auch an Orte knüpfen, die nicht in hohem Ansehen stehen, aber in denen man sich auskennt.

Dass es bei der Regionalsprache nicht primär um Verständigung, sondern um Zugehörigkeit geht, kann man an den Reaktionen auf Lernende sehen: Wenn jemand, sagen wir aus Frankreich, Deutsch mit französischem Akzent und ein paar Fehlern spricht, finden alle, er oder sie spricht »schon ganz gut« Deutsch, und empfinden es als sprachliche Integrationsbemühung. Wenn jemand, sagen wir aus Schwaben, mit schwäbischem Akzent und ein paar Fehlern berlinert, finden alle, er oder sie solle das besser sein lassen, und empfinden es als sprachliche Anbiederung. Regionalsprache dient der Gemeinschaftsbildung, nicht primär der Informationsübermittlung. Eine moderne soziologische Konzeption fasst dieses Phänomen – statt genereller Identitätsaussagen – unter dem differenzierteren, variableren Modell der »Zugehörigkeit«.

Man kann viele Zugehörigkeiten haben: zur Familie, zum Ort, zur Uni, zur Sportart usw. Regionalsprache erfüllt das Bedürfnis der Zugehörigkeit zu einer Heimatregion, die meist mit tradierten Charakteristika, manchmal auch Stereotypen, verbunden wird. Man berlinert, weil man in Berlin sozialisiert ist, sich dort »auskennt«, weil man die große Stadt mag, weil man etwa den – etwas ruppigen, aber sprachspielerischen – Berliner Humor schätzt. Daneben ist man natürlich vieles andere. Regionalsprache ist – in einer Zeit schwindender Traditionen – ein flexibles Kennzeichen sprachlicher Herkunft (und sei es eine durch Zuzug erworbene). Das unterscheidet sie vom Dialekt, der – im Norden mehr als im Süden – zur Großelternsprache wird, für die einen liebenswertes Fossil, für die anderen Zeichen von Provinzialität.

Moderne soziologische Milieustudien gliedern die bundesdeutsche Gesellschaft nicht allein vertikal nach Ober-/Mittel-/Unterschicht, sondern auch horizontal zwischen Tradition und Neuorientierung, die sich unter anderem durch »Multioptionalität« zeige. Moderne, städtische Milieus werden sprachlich nicht durch Dialekt repräsentiert, wohl aber durch einen flexiblen Sprachgebrauch, in dem Regionalsprache eine Option in der Sprachvariation ist. Soziale Gruppen grenzen sich in der postmodernen Gesellschaft weniger durch – etwa mit der Geburt vorgegebene – sozioökonomische Merkmale ab, sondern auch durch soziokulturelle, alltagsästhetische Markierungen.

Dazu gehört Sprache. Seit Langem kennt die Anthropologie den Mechanismus des »boundary marking«, der Konstitution von sozialen Gruppen durch Abgrenzung, die mitunter wichtiger ist als das, was die Gruppe positiv vereint – auch sprachlich: Die Liste der »unsympathischsten« Dialekte wird mit großem Abstand vom Sächsischen angeführt. Während Niederdeutschkenntnis zurückgeht, wird hingegen in einer Umfrage des Instituts für deutsche Sprache immer noch »Norddeutsch« als besonders beliebt angegeben.

Anerkannt ist Regionalsprache als Element variablen Sprechens, nicht als Kennzeichen limitierter Möglichkeiten.

Kultureller Regionalismus, sprachlicher inbegriffen, besitzt auch in Deutschland im 21. Jahrhundert noch einen hohen Wert. Allerdings stimmt dies nur unter einer Voraussetzung: Wenn jemand Regionalsprache spricht, ist das durchaus kein »Karrierekiller«. Wenn man sie aber fast ausschließlich spricht (und anscheinend nicht anders kann), ist sie durchaus ein soziales Stigma. Anerkannt ist regionalsprachliche Kommunikation als Option, nicht als Obligation, als »Können«, nicht als »Müssen«, als Element variablen Sprechens, nicht als Kennzeichen limitierter Möglichkeiten, als ein Zugehörigkeitsattribut, nicht als Ausdruck eines beschränkten Horizonts. Regionalsprache kann – so verwendet – den Spielraum erweitern, indem sie Flexibilität und regionale Zugehörigkeit verbindet.

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