»Black man, you are on your own.«
(Steve Biko)
»I am still imagining my father preach about the blood of queer bodies.«
(Koleka Putuma)
Überlegen Sie doch mal: Welchen Einfluss hat die Frankfurter Schule auf Dichter*innen, die nach der »Wende« geboren worden sind? Oft behaupten Kommentatoren, die Frankfurter Schule sei eine Art intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Doch wären Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse mit ihren patriarchalischen Hornbrillen wirklich noch woke genug für Dichter*innen wie Sirka Elspaß (geb. 1995), Katia Ditzler (geb. 1992), Ronya Othmann (geb. 1993) oder Luca Lienemann (geb. 1994)? In der Black-Lives-Matter-Bewegung entstanden, bedeutet der Begriff woke so viel wie wachsam bleiben gegenüber Diskriminierungen.
Was ist Tradition? Welche Ausstrahlung, Vorbildcharakter, Plausibilität, Prägekraft und Nutzen hat eine ästhetische oder ethische Orientierung für die Nachgeborenen? Ich möchte diese Frage mit Blick auf die 1994 geborene südafrikanische Dichterin Koleka Putuma stellen und betrachten, wie sie Ideen der Black Consciousness Movement (BCM) in ihre Werke aufnimmt.
In einem Essay aus dem Buch I Write What I Like (1969) des südafrikanischen Intellektuellen und Bürgerrechtlers Steve Biko (1946–1977) heißt es: »Black Consciousness ist eine Geisteshaltung und eine Lebensart. Es ist der positivste Ruf, der seit Langem aus der schwarzen Welt kommt. Es ist im Kern die Anerkenntnis, dass der ›schwarze Mann‹ (im Original ›black man‹) sich mit seinen Brüdern (›brothers‹) um den Grund seiner Unterdrückung versammeln muss – nämlich der Schwärze ihrer Haut, — und so als eine Gruppe agieren sollte, um sich von den Fesseln zu befreien, die ihn in fortwährender Knechtschaft halten.« Die BCM bildet »eine der wichtigsten Entwicklungen in Südafrika, nicht nur weil sie selbstbewussten Protest auslöste«. Die hier zitierte südafrikanische Soziologin Kogila Moodley hält weiter fest, dass die Bewegung 1968–76 besonders von Ideen wie Self-Empowerment und der Rekonstruktion von Identitätskonzepten getragen war. Ihre Gründer unterstrichen die Verantwortung von schwarzen Intellektuellen, den Machtlosen die ihnen innewohnende Macht bewusst zu machen.
Vielleicht ist der Ruf nach »black solidarity« die populärste Vorstellung der BCM. Sie ist stark verbunden mit einer Programmatik der Selbstachtung anstelle einer internalisierten, kolonialen Scham. Daneben steht das Anliegen einer intellektuellen und religiösen Selbstauslegung (beispielsweise in der »black theology«) anstatt einer europäisch-missionarischen »Bekehrung« zu folgen. Dies schließt vielfältige Modelle der positiven Identifikation und des Stolzes (etwa »black is beautiful«) ein, wie es z. B. in Toni Morrisons Roman The Bluest Eyes (1970) geschieht, also sich nicht dem Diktat einer kulturindustriell auf Weiß genormten Wirklichkeit zu unterwerfen. Der Theologe Nyameko Barney Pityana (geb. 1945) drängte auf die Überwindung der »kolonialen Erniedrigung«, die zu einer Reflexion der von Kolonialisten aufgezwungenen Traditionen führte. »Psychologische Befreiung versuchte, durch eine Rückkehr zu afrikanischen Werten wie dem der Kommunalität, der kollektiven Entscheidungsfindung und einem persönlicheren Stil der Kommunikation, sich vom Individualismus der weißen Konsumgesellschaft abzuheben« (Kogila Moodley).
Die Dichterin Koleka Putuma interveniert naturgemäß mit Gedichten in diese Debatte: Selbst aus einem Pastorenhaushalt stammend, sieht sie auch wie die Selbstdefinition der black theology etwa bei LGBTQ+-Themen oder der kritischen Betrachtung des Empowerments von schwarzen Frauen oft zu kurz greift. So ist etwa ihr Gedicht No Easter Sunday for Queers ein Inventar an gewaltsamen, oft auch tödlichen Übergriffen auf Mitglieder der Queer-Community. Ihre Religionskritik, die indessen tief spirituell ist, kulminiert etwa in dem Epigramm: »So weißt du, dass du Gott bist: / All deine Traumata knien nieder und nennen dich Erlöser.«
An den Rissen arbeiten
Koleka Putuma thematisiert auch, dass die ursprüngliche Bewegung häufig nicht über den engen Kreis der Intelligenzia hinausreichte. Sie verweist darauf, dass die fünf Gründungspersonen der Bewegung allesamt männlich waren, was dazu führt, dass die in der schwarzen Bevölkerung vorhandenen patriarchalischen Züge reproduziert werden. So heißt es etwa in Putumas Gedicht On Black Solidarity: »Warum will deine Revolution immer in meinem Höschen rumwühlen?« Weiter heißt es in einem Gedicht: »Ihr nennt uns Verräterinnen und Feminazis, wenn wir Eure Politik vom Pilzbefall befreien. (…) Warum heißen die Fluchtpunkte Eurer Revolution immer nur Biko und Fanon und Malcolm?« Sicher, Putuma kämpft nicht mit dem Florett, sondern mit dem Breitschwert, aber ihre plakative Verssprache entwickelt gerade deshalb die Kraft, die bereits längst erledigten oder errungen geglaubten Siege infrage zu stellen. Sie vitalisiert die Entscheidungsmacht des Augenblicks. Sie macht deutlich, was auf dem Spiel steht. Sie verleiht ihrer gegenwärtigen Situation eine neue Dramatik im Hinblick auf Fragen nach Gleichheit, Würde, Autonomie und Partizipation.
So stellt die Dichterin die oberflächlich egalitären Momente der Post-Apartheid-Gesellschaft neu auf den Prüfstand. Das Weitergeben der Tradition geschieht nicht mehr als ein Verbürgen oder Prägen, sondern als eine konflikthafte Auseinandersetzung. Wenn Koleka Putuma also in einem ihrer Liebesgedichte hart mit Nelson Mandela ins Gericht geht, will sie mehr als eine im Ohrensessel erdachte Dekonstruktion einer nationalen Ikone darbieten, sondern eine bequeme, dämlich wissende, selbstgerechte Position grell beleuchten, der zufolge seit 30 Jahren das Ende der Apartheid abgefeiert wird. Sie weiß, dass dies nicht das Ende der Unterdrückung bedeutete. Für sie ist Mandela eher ein Vertröster und Blender als ein Befreier. Sie fordert die Kanonizität Mandelas heraus, fügt dem südafrikanischen Idol Adjektive wie »betrayal«, »fuckery«, »msunery« (nach einem Zulu-Schimpfwort so etwas wie »beschissen«) hinzu. Mehr noch in »die Art, auf die weiße Leute Mandela in Gedenken halten« wird Mandela für Putuma selbst zur ultimativen Gestalt der Unterdrückung, der Aufrechterhaltung des Status quo.
Gleichwohl ist Putumas Mandela-Gedicht ein wahres Liebesgedicht. Es trägt den Titel 1994: A Love Poem. Erst heißt es nämlich: »Und das ist eine der vielen Überreste der Sklaverei: / geliebt zu werden wie Mandela« und dann: »Ich will jemanden, der mich ansieht / und mich liebt / so wie weiße Leute Mandela ansehen / und lieben.« Lieben, närrisch lieben aus Blendung, »um unterworfen zu bleiben«, das Objekt der Liebe als Fata Morgana? So sehr geliebt werden wie Mandela? Eine Zumutung – eine Zuflucht?
Im Gegensatz zu älteren südafrikanischen Dichter*innen wie Lebogang Mashile (geb. 1979), Gabeba Baderoon (geb. 1969), Phillippa Yaa de Villiers (geb. 1966), Antjie Krog (geb. 1952), Kgafela oa Magogodi (geb. 1968) bekommt man in den Versen von Koleka Putuma also den Eindruck, dass die Kampfzone erweitert ist. Wenn Putuma Rassismus thematisiert, ist sie nicht gefangen in den klassischen Topoi postkolonialer Erfahrung. Sie hat diese schon weitergedacht. Beispielsweise nimmt sie im Gedicht Wasser die rassistische Vorstellung auf, Schwarze könnten nicht schwimmen: Sie erweitert diese Idee zu einer Reflexion über die Rolle von Wasser bei der Versklavung und Unterdrückung von Schwarzen (etwa der Weltmeere). Während z. B. Autoren wie Derek Walcott sich am Gegensatz von Peripherie und Zentrum der Sprachmacht abarbeiteten, entwickelt Koleka Putuma eine Verssprache, die die mondänen »postkolonialen Verortungen« überspringt: »Man hat genug Blut vergossen, um die Länder zu vermessen, darin es floss. / Man hat genug Blut gelassen, um uns sterben zu lassen. / Man hat genug Blut dagelassen, damit wir leben können.«
WOMXN
Ihr Debütband Kollektive Amnesie (2017) ist durchzogen von Texten, die wie spitze poetische Marker in die Welt gerammt sind. Etwa das Gedicht wenn man schwarz & christlich aufwächst: »Den ersten Mann / den du zu verehren lernst / ist ein weißer Mann. // Dann wirst du eingeschult und lernst / dasselbe. // Rühr dich nicht / Stell keine Fragen. // Und so ist es / überall / immer. // Das Evangelium / ist, wie das Weiße über unsre Häuser hereinbricht / und uns auf die Knie zwingt.«
Koleka Putuma ist eine Slam-Poetin. Sie bewegt sich mehr in einer Szene als auf einem literarischen Feld. Ihre Gedichte erzeugen Gemeinschaft. Sie sind auf starke emotionale Reaktionen ausgerichtet. Während ältere Generationen im postkolonialen Diskurs krampfhaft die »Black Consciousness« irgendwie identifizierten und herausstellten, sorgen diese poetischen Arrangements besonders für ein unmittelbares, kollektives Erleben. Die Dichterin ist weniger an einer panafrikanischen Gesamtbewegung interessiert, als an einer individuellen Forderung nach Respekt und Humanität. Sie verschiebt die Revolution ins Private, ohne den Anspruch aufzugeben, die Gesellschaft verändern zu wollen. Ihre Gedichte sind daher Zündkerzen für konkrete reflexive Prozesse. Etwa im Gedicht wenn man schwarz & frau* aufwächst. Durch die typografische Modifikation des Wortes »womxn« erweitert die Dichterin die semantischen Grenzen des Begriffs Frau* und schafft Raum für queere Identitäten: (so aufzuwachsen) »wird dich lehren / wie du Leichen im Keller verscharrst / wie du deine Schreie mit Panzerband und Krampen unterbindest / damit jede*r ungestört die Seite weiterblättern kann.« Ungestüme, herrlich zarte, schmerzhafte Liebesgedichte, die z. B. 20 Arten aufzählen, wie sie sich von ihrer Geliebten trennen möchte, die in der Ehe mit einem Mann lebt: »Ich will sagen: / verlasse ihn / Stattdessen frage ich: Was willst Du zum Abendessen?«
Wie die in Johannesburg lebende Journalistin Indra Wussow bemerkt, entwickelte sich in dieser Generation eine neue intellektuelle autonome Szene von schwarzen und weißen Dichter*innen, die sich trotz der Wut auf die Lage ihres Landes, durchringen, eine neue Welt nicht nur zu imaginieren, sondern aktiv einzufordern. Beim Besuch einer Veranstaltung in einer stickigen Bude in Johannesburg notiert der Public Intellectual Bongani Madondo: »Die Session verwandelte sich ziemlich schnell in eine sehr schmerzhafte Katharsis.« Derart entwirft Koleka Putuma wuchtige Sprechtexte, die zwischen skripturaler Poesie und Performancekunst changieren, häufig arbeitet sie dabei mit audiovisuellen Künstler*innen zusammen. Im Gegensatz zur Generation von Steve Biko ist ihre Revolution mehr emotional und persönlich als abstrakt und kognitiv.
Bongani Madondo beschreibt seine erste Begegnung mit der Dichterin so: »Cape Town. (…) Wir gingen dann in irgendeinen linken Schuppen, wo ich dachte, da hocken nur verbrauchte Marxisten oder Brüder mit Dreadlocks mit weißen Frauen, die (…) jeden so fragen: ey, mahnn, ahlles klahr, bist aus Joooh-berg? Weißt du Joooh-berg ist totale Scheiße, denkt alle ihr seid Sternchen und keiner macht echte Kunst. Doch der Laden war ganz anders. Alle stellten ihre geilen Angela Davis-esque Afros zur Schau. Es war so eine Black-Panther-Progressivität da. Und niemand fragte mich, woher ich denn käme. Und [Koleka] war einfach irgendwie besonders, kanns gar nicht beschreiben. Ich bin so ignorant, weil ich erst gar nicht kapiert habe, dass sie eine Dichterin ist, obwohl sie diesen Cape-Town-Bohème-Look mit viel Pride hatte.«
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!