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Vor 50 Jahren starb Nelly Sachs Schwester Hiobs

Die aus einem großbürgerlichen jüdischen Elternhaus stammende Dichterin (1891–1970) war eine der ersten Schriftstellerinnen, die ihre Poesie dem Schicksal der verfolgten Juden widmete. Und sie war neben der mit ihr korrespondierenden Marie Luise Kaschnitz die einzige Lyrikerin, die in erschütternden Visionen das Geschehene beschwor. Sie schrieb, um zu überleben, bezog ihre Kraft vor allem aus der lebenslangen Liebe zu dem 1943 ermordeten »Bräutigam«, den sie noch in ihren letzten Gedichten mit »Du« anspricht, ohne seine Identität preiszugeben. Adornos berühmtes Diktum, nach Auschwitz sei es nicht mehr möglich, ein Gedicht zu schreiben, wurde von Nelly Sachs durch ihre Lyrik widerlegt. Hans Magnus Enzensberger schrieb: »Ihrer Sprache wohnt etwas Rettendes inne. Indem sie spricht, gibt sie uns selber zurück, Satz um Satz, was wir zu verlieren drohten: Sprache.«

Er hieß Eli, der Hirtenjunge, der von einem Soldaten mit dem Gewehrkolben erschlagen wurde. Er lebte in einer zerstörten polnischen Kleinstadt, in der sich in der »Zeit nach dem Martyrium« die Überlebenden der jüdischen Gemeinde trafen. Eli war damals, nur mit einem Hemd bekleidet, seinen Eltern nachgelaufen, die von den Soldaten zur Hinrichtung abgeholt wurden. Sein Mörder war auf den Jungen aufmerksam geworden, der laut auf seiner Hirtenflöte blies. Vor den Mauern der alten Stadt will die jüdische Gemeinde später an einem »guten Ort« eine neue Stadt errichten. Von ihrer alten Stadt war nur das Haus des Schusters Michael unversehrt geblieben. Der fühlt sich jetzt berufen, den Mörder des Hirtenjungen ausfindig zu machen. Als er ihn im Nachbarland aufspürt, zerfällt der Mann vor dem »Gottesglanz« auf Michaels Stirn zu Staub. Zur gleichen Zeit stirbt aber auch das Kind des Mannes. Auch dieses Kind ist ein Opfer seiner Unschuld.

Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels steht im Zentrum der szenischen Dichtung von Nelly Sachs, der im Mai 1940 mit ihrer Mutter mit dem letzten Flugzeug aus Berlin die Flucht nach Stockholm gelungen war. Für die junge jüdische Dichterin war in Hitlers Deutschland aufgrund von Schikanen und Erpressung, der ständigen Bedrohung und Überwachung durch die Gestapo, der Furcht vor dem Konzentrationslager, in dem so viele aus ihrer Familie ermordet wurden, kein Platz mehr. Als junges Mädchen hatte Nelly Sachs für Selma Lagerlöf geschwärmt. Die ersten Gedichte, Legenden und Puppenspiele, die sie schrieb, lehnten sich an das Vorbild der großen schwedischen Erzählerin an. 1921 erschienen ihre Legenden und Erzählungen, an denen sie bereits in der Schulzeit gearbeitet hatte. Künstler, Narren und Heilige sind ihre Protagonisten, Gutes und Böses sind darin voneinander abhängig. Die 17‑jährige war 1908 in eine lebensbedrohliche Krise geraten. Im dichterischen Wort fand sie eine »Atemhilfe« und entdeckte sich als Schriftstellerin.

Die kommenden Jahre in Hitler-Deutschland und später im schwedischen Exil waren durch wirtschaftliche Not und den Überlebenskampf geprägt. Nelly Sachs und ihre Mutter hätten ihn nach dem Tod des Vaters 1930 ohne die Unterstützung aus einem Freundeskreis vermutlich verloren. Der Freundeskreis bestand vor allem aus jungen Frauen, die im Geist der deutschen Romantik lebten, aber auch von Stefan George und seiner Dichtung beeinflusst waren.

Nelly Sachs' geistesgeschichtliche Wurzeln liegen im Chassidismus, in alttestamentarischen Schriften und in der Mystik Jakob Böhmes. Als ihre Mutter Anfang 1950 stirbt, findet sie Trost in Gershom Scholems Übersetzung des Schöpfungskapitels aus der mittelalterlichen Mystik. Ihre prophetische Lyrik ist erfüllt vom Leid des jüdischen Volkes – von der Frage nach dem Sinn dieses Martyriums. Verfolgung und Schmerz der europäischen Juden verbinden sich bei Nelly Sachs aber auch immer wieder mit ihrem persönlichen Schicksal. Ihre religiös orientierte Weltsicht führte wahrscheinlich auch dazu, dass sie den Judenmord in einem größeren Zusammenhang sah und nie von Rache und Vergeltung sprach.

Die lange Zeit vergessene Dichterin wurde nach dem Krieg durch Autoren wie Alfred Andersch und Paul Celan in die Erinnerung zurückgerufen. 1965 wurde sie in Frankfurt am Main mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Ihr Werk erschien bald in fast allen europäischen Sprachen und schließlich auch auf Hebräisch. Als der 75-Jährigen 1966 in Stockholm zusammen mit Josef Agnon der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, war sie bereits von einer Krebserkrankung gezeichnet, der sie am 12. Mai 1970 erlag. Das erste von Nelly Sachs veröffentlichte Gedicht beginnt mit den Worten:

O die Schornsteine

Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,

Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch

Durch die Luft –

(…)

O die Schornsteine!

Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –

Nelly Sachs, so hat Walter Jens es formuliert: »… das ist die Stimme Elis, Gegenstimme in der Welt des Schreckens, die Stimme einer Schwester Hiobs«.

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