Es sei »eine der wichtigsten Prioritäten ihrer Kommission« sagte Ursula von der Leyen in ihrer Antrittsrede über ihre Pläne zur Gleichstellung der Geschlechter. Nicht zuletzt durch den Druck der progressiven Fraktionen im Europäischen Parlament, auf deren Stimmen sie bei der Wahl zur Präsidentin der Europäischen Kommission angewiesen war, stellte sie in der Folge eine ambitionierte Agenda zur Stärkung der Rechte von Frauen während ihrer Amtszeit vor.
Die Gleichstellung der Geschlechter ist seit Anbeginn in den Verträgen der EU und deren Vorläufer verankert. Bereits bei den Römischen Verträgen von 1957 wurde im Artikel 157 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) das Recht auf gleiche Bezahlung für die gleiche Arbeit festgeschrieben. Der Vertrag von Amsterdam definierte 1999 die Gleichstellung der Geschlechter schließlich als einen Grundwert der EU und führte das Gendermainstreaming als neuen Ansatz in der EU-Gesetzgebung ein. Im Zuge der letzten großen Vertragsreform wurde Gleichstellung in der zusätzlich zum Vertrag von Lissabon rechtskräftig gewordenen EU-Grundrechtecharta erneut rechtsbindend festgeschrieben.
Nennenswerte Fortschritte in Form von konkreter Gesetzgebung wurden in diesen ersten Jahrzehnten trotz der steten Weiterentwicklung dieses Politikfeldes dennoch nur während der Amtszeit des kürzlich verstorbenen Kommissionspräsidenten Jacques Delors erreicht. Mit Ursula von der Leyen als erste Frau an der Spitze der europäischen Exekutive waren deshalb große Hoffnungen und Erwartungen verbunden: Endlich schienen das notwendige politische Momentum und der benötigte politische Willen an oberster Stelle zusammengekommen zu sein.
Auf dem Weg zur Parität
Mit einigen wichtigen Weichenstellungen stellte sie sich dieser Verantwortung. Ihr Anspruch, eine paritätisch besetzte Kommission zu bilden, scheiterte zwar knapp am Widerstand zweier Mitgliedstaaten, einen Mann und eine Frau als mögliche Kommissar*innen zu nominieren. Mit 12 weiblichen und 15 männlichen Kommissar*innen hob sich das neue Kabinett dennoch deutlich von seinen Vorgängern ab: Bis 2019 hatte es unter den 183 Kommissar*innen lediglich 35 Frauen gegeben. Ein weiteres wichtiges Signal war die Ernennung der maltesischen Sozialdemokratin Helena Dalli zur Kommissarin für Gleichstellung – ein solches Amt hatte es auf EU-Ebene zuvor nicht gegeben.
Mit der Europäischen Strategie zur Gleichstellung der Geschlechter (2020–2025) stellte Helena Dalli in den ersten 100 Tagen den geschlechterpolitischen Fahrplan für die laufende Legislatur vor. Flankiert wurde diese durch weitere Strategien zur Bekämpfung verschiedener Formen von Diskriminierung, unter anderem die erste LGBTIQ-Strategie der EU. Tatsächlich wurden in den folgenden fünf Jahren einige Erfolge erzielt, darunter in Dossiers, die seit mehreren Jahren durch die nationalen Regierungen im Rat blockiert worden waren.
Ein Schwerpunkt war dabei auf der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt und der EU-Ratifizierung der im Europarat verhandelten Istanbul-Konvention, dem ersten internationalen, rechtsverbindlichen Instrument zur Prävention, Bekämpfung und Bestrafung von geschlechtsspezifischer Gewalt. Bis heute haben mehrere EU-Mitgliedstaaten sie nicht ratifiziert und blockierten mit ihrem Veto auch die Ratifizierung auf EU-Ebene. Um diese Blockade zu lösen, ließ das Europäische Parlament durch den Europäischen Gerichtshof bestätigen, dass für die Ratifizierung lediglich eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten notwendig sei. Im Juni 2023, neun Jahre nach Inkrafttreten der Konvention, konnte diese daraufhin endlich von der EU ratifiziert werden.
Die parallel dazu verhandelte EU-Richtlinie, mit der zur Umsetzung der Konvention EU-weite Mindeststandards zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen festgeschrieben werden sollen, ist das letzte relevante gleichstellungspolitische Dossier, das vor den anstehenden Europawahlen verabschiedet wird. Erst im Februar konnten sich Rat und Parlament nach schwierigen Verhandlungen auf einen gemeinsamen Gesetzestext einigen. Negative Schlagzeilen machten dabei vor allem Deutschland, insbesondere die FDP, und Frankreich. Bis zuletzt hatten sie darauf bestanden, Vergewaltigung als EU-weiten Strafbestand aus dem Gesetzestext zu streichen. Die Richtlinie muss dennoch als wichtiger Schritt gewürdigt werden, der unter anderem Zwangsheirat und Genitalverstümmelung nun EU-weit unter Strafe stellt. Eine wichtige Vorreiterrolle nimmt die Richtlinie mit ihrem Fokus auf verschiedene Formen von Gewalt im digitalen Raum ein.
Weitere Fortschritte wurden im Rahmen der sozialen Agenda der EU erzielt. Nach Jahren der Austeritätspolitik und einer zunehmenden Debatte um die Zukunft der EU angesichts des Brexit-Referendums und weiterer Austrittsbestrebungen entwickelte sich 2017 auf EU-Ebene eine Debatte um die soziale Dimension als notwendige Ergänzung zu einer neoliberalen Binnenmarktpolitik. Ergebnis war die Europäische Säule Sozialer Rechte, die in 20 Prinzipien einen Fahrplan für notwendige sozialpolitische Maßnahmen aufzeigt. Neben der Gleichstellung der Geschlechter finden sich dort auch weitere Prinzipien mit konkreter Genderdimension – etwa zur Langzeitpflege und Kinderbetreuung, fairen Löhnen und Gehältern und der Rente.
Mehrere Maßnahmen der Sozialen Säule leisteten einen konkreten Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter.
Eines der ersten Ergebnisse der Sozialen Säule war noch unter der Juncker-Kommission die Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Sie gibt den EU-Bürger*innen ein Recht auf mindestens zehn Tage bezahlte Vaterschaftszeit und fünf Tage zur Pflege enger Angehöriger bei vollem Lohnausgleich. Die Soziale Säule wurde auch in der auslaufenden Legislatur konsequent umgesetzt. Mehrere Maßnahmen, darunter die EU-Richtlinie zur Lohntransparenz und die EU-Richtlinie zu angemessenen Mindestlöhnen, leisteten dabei einen konkreten Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter. Sie gehen über die bereits in Deutschland bestehende Gesetzgebung hinaus und setzen deshalb auch hier wichtige neue Mindeststandards.
Als angemessene Mindestlöhne werden in der EU-Richtlinie ein Lohnniveau von 60 Prozent des Mediangehaltes oder 50 Prozent des Durchschnittslohns eines Landes definiert. Einer Berechnung der Hans-Böckler-Stiftung zufolge entspricht das 2024 in Deutschland einem Mindestlohn von 14 Euro. Frauen sind in Niedriglohnberufen überrepräsentiert: 59 Prozent der Geringverdienenden sind Frauen. Die Richtlinie trägt dazu maßgeblich zur Schließung der Gender Pay und Gender Earning Gaps bei: Laut Berechnung der Europäischen Kommission wird der Gender Pay Gap – er liegt aktuell in der EU bei 12,7 Prozent, in Deutschland sogar bei 17,6 Prozent – um bis zu fünf Prozentpunkte reduziert werden können.
Dasselbe Ziel verfolgt die Richtlinie zur Lohntransparenz. Nach einer stufenweisen Einführung wird sie für Unternehmen ab 100 Arbeitnehmer*innen greifen und legt unter anderem die Beweispflicht für Arbeitergeber*innen und eine Handlungspflicht ab einem Lohnunterschied von fünf Prozent oder mehr fest. Erstmals wurde zudem intersektionale Diskriminierung sowie die Rechte non-binärer Menschen in den Geltungsbereich der Richtlinie aufgenommen. Ein weiterer Erfolg, maßgeblich vorangetrieben durch die Gewerkschaftsverbände, ist der Grundsatz »gleiche Bezahlung für Arbeit von gleichem Wert« – dies öffnet den Weg zu sektorübergreifenden Lohnvergleichen und ermöglicht es Gewerkschaften nun, gerichtlich etwa gegen die niedrige Entlohnung in von Frauen dominierten Sektoren wie der Pflege vorzugehen.
Ebenfalls wichtig war die Erarbeitung der Europäischen Care Strategie, auf deren Basis die EU-Mitgliedstaaten gemeinsame Standards zur Langzeitpflege und der frühkindlichen Erziehung und Betreuung beschlossen haben. Sie war ursprünglich kein Teil der Kommissionsagenda gewesen, wurde durch die Auswirkungen der Coronapandemie insbesondere für Frauen und die von ihnen getätigte bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit jedoch unverzichtbar. Die Strategie bildet eine wichtige Basis für neue Gesetzgebung in der neuen Legislatur, wie von verschiedenen Betroffenengruppen gefordert.
Gefährdete Erfolge
Progressive Akteure konnten dadurch in der auslaufenden Legislatur einige Erfolge erzielen, auch wenn Gendermainstreaming weiterhin nicht konsequent in allen Gesetzesmaßnahmen mitgedacht wird – ein Beispiel sind hier der genderblinde Europäische Green Deal, oder der mit 750 Milliarden Euro unterfütterte Corona-Rettungsfonds, für den erst nach Drängen des Europäischen Parlaments eine Berichtspflicht zu genderrelevanten Reformen für die EU-Mitgliedstaaten eingeführt wurde.
Auch über die neue Gesetzgebung hinaus positionierte sich insbesondere das Europäische Parlament als wichtiger Vorkämpfer für die Gleichstellung aller Geschlechter. Es griff aktuelle Entwicklungen in den EU-Mitgliedstaaten auf und sprach sich in Resolutionen für die Rechte von Regenbogenfamilien und die Aufnahme des Abtreibungsrechts in die Grundrechtecharta aus. Die Sozialdemokrat*innen setzen sich außerdem für die Aufnahme einer eigenen, rechtsbindenden Charta für die Rechte der Frauen ein.
Das Europäische Parlament nimmt damit eine Vorreiterrolle auf EU-Ebene ein. Der aktuelle Rechtsruck in den EU-Mitgliedstaaten wird aktuellen Prognosen zufolge auch die Zusammensetzung des neuen Parlaments prägen. Doch gerade angesichts der zunehmenden Anti-Gender-Kampagnen in Europa und weltweit werden die progressiven Kräfte im Europäischen Parlament eine wichtige Schlüsselrolle spielen. Es bleibt zu hoffen, dass sie sich auch in der neuen Legislatur durchzusetzen wissen.
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