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Selektives Wachstum

Zum Jahresende 1980 fanden sich auf dem Trampelpfad eines selektiven Wachstums Wanderer ein, die man dort bisher nicht vermuten durfte. Im Wirtschaftsteil einer der bedeutenderen Zeitungen unserer Republik, die traditionellem Machen besonders zugetan scheint, war unter der Überschrift »Wirtschaftswachstum – nein danke?« folgender Kommentar zu lesen:

»Endlich sind wir wieder einmal alle einer Meinung. Linke und Rechte, Ökologen und Ökonomen, Unternehmer und Gewerkschafter haben in seltener Einmütigkeit eine fundamentale Erkenntnis zutage gefördert: Die schönen Zeiten hoher Wachstumsraten sind – zumindest fürs erste – vorbei. Den Gürtel enger schnallen, heißt die Devise, Bescheidenheit ist wieder gefragt. die Umkehr kommt rapide. Wachstum, das war doch noch vor wenigen Jahren der scheinbar nie versiegende Quell neuen Wohlstands und das Motiv für die Unternehmer zu unternehmen und für die Arbeiter zu arbeiten. Immer mehr, immer größer, immer schneller – technischer Fortschritt und Marktwirtschaft, eine als Team unschlagbare Kombination. Das alles soll nun auf einmal nicht mehr wahr sein … Gegenüber den Vorteilen der wirtschaftlichen Expansion finden offenbar ihre Risiken immer mehr Beachtung … Dies hat dazu geführt, daß sich niemand mehr so recht damit zufriedengeben will, daß irgend etwas wächst, sondern daß auch danach gefragt wird, was denn da eigentlich wächst. Gefragt ist weniger die Quantität als vielmehr die Qualität des Wachstums. Damit soll zum Beispiel sichergestellt werden, daß energiesparende Investitionen gefördert, energiefressender Konsum aber eingeschränkt wird, oder dass Altbauten saniert werden, eine Zersiedlung der Landschaft dagegen vermieden wird. So einleuchtend und begrüßenswert das neue Wachstumskonzept ist, es droht bereits wieder zum unverbindlichen Schlagwort zu werden, das es erlaubt, gleichzeitig dafür und dagegen zu sein. Qualitatives Wachstum stellt sich nämlich nicht von selbst ein, sondern fordert der Wirtschaftspolitik zukunftsweisende Entscheidungen ab, in der Energiepolitik ebenso wie in der Forschungspolitik. Einfacher ist es sicher Wachstum aus dem Zielkatalog der Wirtschaftspolitik zu streichen, schwierig wird es erst bei der Bestimmung, was an seine Stelle treten soll.« (Uwe Vorkötter in der Stuttgarter Zeitung, 31.12.1980)

Genauso ist es. Darum soll hier auch nicht von qualitativem, sondern von selektivem Wachstum die Rede sein, von den »zukunftsweisenden Entscheidungen«, mit denen Wachstum an einer Stelle gefördert, beschleunigt, ermutigt, auf der anderen gedämpft, gebremst, entmutigt oder gar gestoppt werden soll, von Entscheidungen, bei denen politisch nicht nur »gedacht, gezählt, verwaltet«, sondern gewählt, eine Wahl getroffen werden muß zwischen Alternativen.

Dabei gilt es zuerst, im Sinne von (Gerhard) Scherhorn (einem jüngst verstorbenen Nachhaltigkeitsökonomen, die Red.), unbewußte Wachstumsentscheidungen bewußtzumachen. Seit langem wird in vielen Bereichen politisch entschieden, was wachsen soll. Eine ärztliche Gebührenordnung, die technische Leistungen des Arztes, ja sogar seine Rezepte, besser honoriert als das Gespräch mit dem Patienten, hat sicherlich zur Expansion der pharmazeutischen und der medizintechnischen Industrie beigetragen – ob auch zur Volksgesundheit, mag man bezweifeln. Eine Forschungspolitik, die sich zuerst fast ausschließlich, dann immer noch mit Schwerpunkt auf Nutzung der Atomenergie konzentriert hat, entscheidet natürlich nicht nur darüber, was wachsen soll, sondern indirekt auch, was nicht wachsen soll: all jene Alternativen zur Kernenergie, die erst in den letzten Jahren bis ans Tageslicht öffentlicher Diskussion durchstießen und dann übrigens auch gefördert wurden. Wer, wie dies bis in die letzten siebziger Jahre hinein bei uns geschah, die Leistungen der Verkehrspolitik in den Kilometern neuer Autobahnen mißt, entscheidet natürlich nicht nur, daß der Autoverkehr wachsen, sondern auch, daß die Bundesbahn schrumpfen soll. Wer staatliche Normen für die Wärmedämmung von Gebäuden festlegt, entscheidet, wie immer er es tut, mit darüber, ob der Energieverbrauch wachsen soll oder aber das, was diesen Energieverbrauch drosseln könnte.

Daß unsere Gesellschaft so lange braucht, um bewusste Wachstumsentscheidungen zu treffen, hat mit einer – ziemlich unglücklichen – Diskussion in der Sozialdemokratie zu tun. Just in dem Moment, in dem es möglich und nötig gewesen wäre, über Selektion von Wachstum zu sprechen, begann Mitte der siebziger Jahre in und mit der großen linken Volkspartei durch den »Orientierungsrahmen '85« (Ökonomisch-politischer Orientierungsrahmen für die Jahre 1975-85, Beschluß des Mannheimer SPD-Parteitags 1975) angeregt, ein Streit über Investitionslenkung, also über die – sicher auch wichtige – Frage, mit welchen Instrumenten Investitionen zu lenken seien. Da aber nicht gesagt wurde, welche Investitionen aus welchen Gründen nach welchen Kriterien und zu welchem Zweck wohin gelenkt werden sollten, hatte die Gegenseite leichtes Spiel: Hier seien wieder einmal sozialistische Theoretiker am Werk, die nichts von den wirklichen Sorgen der Bürger wüßten und überdies die Wirtschaft ruinieren wollten.

Die niederländischen Sozialdemokraten waren da erfolgreicher. Ihr erklärtes Ziel war selektives Wachstum, politische Entscheidungen über das, was wachsen und was nicht wachsen soll. Und als Instrument dafür kam die Lenkung von Investitionen ins Gespräch. Dabei stellte sich heraus, daß es bereits eine große Zahl von Instrumenten gab, die es nur zu nutzen galt.

Wenn die Lenkung von Investitionen einen Sinn haben soll, dann den, Wachstum zu selektieren. Nirgendwo (…) werden Investitionen von solch gigantischem Ausmaß so eindeutig politisch gelenkt wie in der Energiepolitik, und zwar durchweg mit längst vorhandenen Instrumenten (Genehmigungen, Verbote, Steuern, Gebühren, Forschungsetat, etc.). Wer hier, wo er nicht nur lenken kann, sondern muß, wo wirklich durch Steuerung von Konsum und Investitionen über unsere Zukunft entschieden wird, gar nicht merkt, welche Instrumente er in der Hand hat, wer statt dessen eher zu technokratischer Fortschreibung neigt, wird wenig Glück haben, wenn er neue Instrumente der Investitionslenkung sucht oder empfiehlt. Wenn im letzten Jahrzehnt bewußte Selektion von Wachstum nur in bescheidenen Ansätzen stattgefunden hat (etwa Bauverbot für Ölkraftwerke 1974), dann nicht, weil die Instrumente fehlten, sondern weil die Politiker entweder nicht wußten, was sie wollten, oder sich nicht durchzusetzen getrauten, was sie wußten.

Selektion von Wachstum bedarf keiner neuen Eingriffe einer staatlichen Bürokratie in die Investitionsentscheidungen des Unternehmers. Sie bedarf neuer Rahmenbedingungen für diese Investitionsentscheidungen. Wenn die Verkehrspolitik des Bundes den Akzent verlagert vom Straßenbau zur Modernisierung der Bundesbahn und zum öffentlichen Personennahverkehr, so sind das neue Ausgangsdaten, die Tausende von Investitionsentscheidungen bei Großkonzernen und kleinen Zulieferern direkt oder indirekt bestimmen. Wenn der US-Kongress 1977 Richtwerte für den – zu senkenden – Benzinverbrauch von Autos bis 1985 festlegte, dann mußte die mächtige Automobilindustrie in den Vereinigten Staaten anders investieren, als sie dies vorgesehen hatte. Wenn eine Landesregierung in der Bundesrepublik sich für den Bau von Kohlekraftwerken und gegen den Bau neuer Kernkraftwerke entscheidet, so trifft dies ein Investitionsvolumen von vielen Milliarden Mark.

Es genügt, in einigen Schlüsselbereichen klare Entscheidungen zu treffen, die rasch ausstrahlen. Solche Bereiche sind: Energie, Rohstoffnutzung, Verpackung, Umweltschutz, Verkehr, Stadtplanung, Landwirtschaft, Gesundheit. Dabei kann Politik durchaus an den Punkt kommen, wo über neue Instrumente gesprochen werden muß, aber auch dann werden es keine Instrumente sein können, die Investitionsentscheidungen in die Hand der Bürokratie legen.

Wer entscheiden will – oder muss –, was wachsen soll, braucht dazu:

  1. Kriterien,
  2. einen Mehrheitskonsens über diese Kriterien,
  3. Instrumente, mit denen sich die Kriterien umsetzen lassen,
  4. Macht, die Instrumente einzusetzen,
  5. Konfliktbereitschaft, diese Macht anzuwenden.

(…)

(Auszug aus: Wege aus der Gefahr, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 147–151)

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