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Psychologische Perspektiven auf einen scheinbaren Widerspruch Sicherheit oder innovative Verunsicherung

Repräsentative Umfragen zeigen, dass die gegenwärtige Diskussion über Einwanderung und die Aufnahme von Geflüchteten Unsicherheit erzeugt. Nach Angela Merkels »Wir schaffen das« im September 2015 stellen viele Menschen in Deutschland die Frage: »Wie schaffen wir das?« Ihnen fehlen konkrete Antworten. Und die Antworten, die sie bekommen, sind häufig unbefriedigend und erzeugen Verängstigungen, indem Probleme in Zusammenhang mit Einwanderung besonders betont und mit Emotionen verknüpft werden. Dies geschieht beispielsweise, wenn Geflüchtete Straftaten begehen und/oder darüber berichtet wird. Zuwanderung von Geflüchteten erscheint noch bedrohlicher, wenn diese von populistischer Politik bewusst als besonders gefährlich dargestellt werden, um dann eigene Politikversprechen als Lösung dieser überspitzten Problemlage zu präsentieren.

Unsicherheit löst die Suche nach Antworten aus. Das öffnet die Tür dafür, alle möglichen Antworten zu akzeptieren, wenn sie nur helfen, diese Unsicherheit zu reduzieren. Unsicherheit macht unkritisch in Bezug auf den Wahrheitsgehalt von Antworten. Insbesondere dann, wenn Empfindungen von Unsicherheit mit Bedrohungsgefühlen einhergehen, führt das darüber hinaus zur Ablehnung des Bedrohlichen, im Fall von Zuwanderern zu deren Zurückweisung. Unsicherheit und Bedrohungsgefühle sind bedeutsame Ursachen von Fremdenfeindlichkeit. Fremdenfeindlichkeit wiederum erhöht die Bereitschaft, allen möglichen Quellen zu glauben, die behaupten, dass Einwanderung und Geflüchtete »unseren« Wohlstand und »unsere« Werte bedrohen. Je höher meine Ablehnung von Fremden, umso eher bin ich empfänglich für Fake News, die meiner Haltung entsprechen, was wiederum meine Fremdenfeindlichkeit steigert. Die populistische Ausschlachtung und Überhöhung von Unsicherheiten im Zusammenhang mit Einwanderung löst in unverantwortlicher Weise massive Probleme aus, sowohl auf der Seite der Aufnahmegesellschaft, wenn die Menschen sich fürchten und deshalb Orte und die Begegnung mit vermeintlich Fremden meiden, als auch bei Geflüchteten, wenn diese deshalb Opfer von Ausgrenzung und Gewalt werden.

Stellen wir uns auf der anderen Seite eine Situation vollständiger Sicherheit vor: Soweit dies physische Sicherheit, sicheres Auskommen, angemessenen Wohnraum und den Zugang zu Ausbildung und Arbeit betrifft, wäre eine solche Vorstellung für die meisten von uns durchaus angenehm. Weiter gedacht allerdings, wenn wir sicher wären, wohin wir im nächsten und im übernächsten und im darauffolgenden Jahr in den Urlaub fahren, wann genau wir wen zu welcher Feier einladen werden, welches Auto wir uns wann kaufen und angeliefert bekommen und dass der FC Bayern München deutscher Fußballmeister wird, wäre das eine erstrebenswerte und interessante Zukunft? Sicherheit kann auch langweilig sein und Unsicherheit interessant.

Was sind die Unterschiede zwischen den beiden Situationen? Wann ist Unsicherheit unangenehm, verängstigend und bedrohlich und wann ist Unsicherheit interessant und ein zu hohes Maß an Sicherheit langweilig? Zwei Unterscheidungsmerkmale sind aus psychologischer Sicht von besonderer Bedeutung: Welche Bedürfnisse sind von der Unsicherheit betroffen und wie weit werden im Zusammenhang mit Unsicherheit Gruppenunterschiede betont?

Erstens: Nach einer klassischen und sehr einflussreichen psychologischen Theorie von Abraham Maslow – dem Hierarchie-Modell der Bedürfnisse – versuchen Menschen zunächst, Sicherheit in Bezug auf Grundbedürfnisse zu erlangen. Das heißt, wir wollen sicherstellen, dass wir Zugang zu ausreichend Nahrung haben, dass wir vor physischen Angriffen geschützt sind und dass wir die uns wichtigen Beziehungen mit anderen Menschen pflegen können. Wenn es bei diesen Bedürfnissen zu Verunsicherungen kommt, sind wir fundamental berührt, leiden und versuchen mit hoher Anstrengung, die Situation zu verändern. Unsicherheit über die Erfüllung der Grundbedürfnisse zieht massive negative Konsequenzen nach sich, angefangen von körperlichen und psychischen Schäden bis hin zur Abwertung und zur Attacke gegen die, die man für diesen Zustand der Unsicherheit verantwortlich macht.

Was bedeutet das für Politikgestaltung? Politik muss dafür sorgen, dass die menschlichen Grundbedürfnisse sichergestellt und nicht »verunsichert« sind. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, sich vor Augen zu halten, dass es bereits hinreichend ist, dass man Gefährdungen der Grundbedürfnisse »nur« wahrnehmen muss, um solche negativen Reaktionen zu zeigen. Politisch »erfundene Erzählungen« über angebliche Bedrohungen von Grundbedürfnissen durch Zuwanderung können massive Folgen bei den einzelnen Menschen und für unser Zusammenleben hinterlassen, wenn wir anfangen uns anzufeinden, die »Fremden« auszugrenzen oder gar gewalttätig zu attackieren. Daraus ergibt sich ein hohes Maß an Verantwortung für Meinungsführer, Politik und Medien: Notwendig ist eine sachangemessene Kommunikation über potenzielle und tatsächliche Gefährdungen von Grundbedürfnissen, die weder zur Verharmlosung noch zur Panikmache hin ausreißt.

Zweitens: Unsicherheit führt dann zur Konflikteskalation, wenn die Unsicherheit durch die Aus- und Abgrenzung von anderen produziert wird. Psychologische Forschung zeigt, dass Vielfalt und damit Unsicherheit destruktiv wirken, wenn Unterschiedlichkeiten in Herkunft und Überzeugungen und mögliche Bruchlinien zwischen Herkunfts- und Überzeugungsgruppen, z. B. Einwanderer und Einheimischen, in besonderem Maße betont und womöglich noch mit Bedrohungsszenarien verknüpft werden. Die damit entstehende Unsicherheit belastet alle. Im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik wird eine solche Form der Unsicherheit dadurch geschaffen und verstärkt, dass ein besonderes Augenmerk auf Migration gelegt wird, dass die »Fremden« ausgegrenzt, abgewertet und attackiert werden, weil sie angeblich Sicherheit und Kultur im Einwanderungsland gefährden.

Für Politikgestaltung folgt daraus: Wenn Unterschiede zwischen Gruppen, z. B. zwischen Einheimischen und Einwanderern, wesentlich durch gesellschaftliche Diskurse, d. h. in Nachbarschaften, im Netz, in den Medien und in der Politik, bestimmt werden, muss eine verantwortliche Politik solche Ausgrenzungsdiskurse vermeiden und ihnen entgegenwirken. Wenn das nicht geschieht, führt die ständige Betonung von Unterschiedlichkeit, möglichen unterschiedlichen Kulturen und Konflikt- und Gewaltszenarien zu einer Form von Unsicherheit, die Unzufriedenheit, Belastung und gegenseitige Ausgrenzung nach sich zieht – übrigens auch auf Seiten der Einwanderer, die sich unter solchen Umständen in besonderem Maße der Herkunftskultur zuwenden können – bis hin zur religiös motivierten gewalttätigen Radikalisierung.

Auf der anderen Seite: Wenn die Grundbedürfnisse einigermaßen erfüllt sind und nicht infrage gestellt werden, und wenn Unsicherheiten nicht auf die Überbetonung von abwertender Unterschiedlichkeit zurückgehen, dann kommen auch andere Bedürfnisse ins Spiel, wie das Bedürfnis nach neuen Erfahrungen. Dann sind wir neugierig, lassen uns auf Unsicherheit ein und suchen nach dem Spannenden im »Fremden«. Unsicherheit ist auch eine wichtige Quelle von Veränderung. Psychologische Forschung zeigt, dass Vielfalt oder Heterogenität z. B. in Arbeitsgruppen, aber auch in Schulen oder Gesellschaften, zu individuell qualitativ verbesserter Informationsverarbeitung, zu intensiverer Kommunikation untereinander und zu Innovation beitragen. Einwanderung ist damit auch eine wichtige Quelle des Fortschritts, wie manche traditionellen Einwanderungsgesellschaften zeigen.

Verantwortungsvolle Politik muss spaltende Verunsicherung von Grundbedürfnissen vermeiden. Politik darf – und soll – aber auch Unsicherheiten produzieren, zur Diskussion und zur Entscheidung stellen. Wie stellen wir uns, Einheimische und Einwanderer, eine gemeinsame Zukunft vor? Es entspricht durchaus menschlichen Bedürfnissen mit solchen Unsicherheiten umzugehen, sie kontrovers zu diskutieren und beste Lösungen zu suchen. Eine offene und sachorientierte Diskussion über Politikziele und -wege erfüllt menschliche Bedürfnisse nach Wissen und Verstehen, nach Wertschätzung und Anerkennung und das Bedürfnis, das eigene Potenzial auszuschöpfen.

Der Psychologe Karl Popper hat in seinem auch aktuell noch viel diskutierten Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde aus dem Jahr 1945 darauf verwiesen, dass die Politik in Demokratien Politikalternativen anzubieten habe, mit denen sie sich zur Wahl stellt. Wählerinnen und Wähler entscheiden dann zwischen diesen Alternativen – und tun das erneut nach Ablauf einer Legislatur, wobei sie dann in Rechnung stellen, inwieweit die Versprechen eingelöst wurden. Politik und politische Parteien müssen also durchaus Vorgaben machen und »verunsichernde« Alternativen offerieren, wie das im Artikel 21, Satz 1 des Grundgesetzes formuliert ist: »Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.«

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