Es sieht auf den ersten Blick nicht gut aus für die Parteien: Auf 84 Millionen Einwohner:innen, davon gut 60 Millionen Wahlberechtigte bei der Bundestagswahl 2025, kommen bei CDU, CSU, SPD, Grünen, FDP und AfD zusammen gerade mal gut 1,3 Millionen Parteimitglieder. Über viele Jahrzehnte war das anders. Die Mitgliederzahlen der großen Volksparteien sinken jedoch seit den 90er Jahren kontinuierlich. Kurzfristige Zugewinne und Politisierungsschübe konnten und können diesen Trend bislang nicht stoppen, der sich durch austretende und wegsterbende Mitglieder fortsetzt.
Parteien werden vielfach für mangelnde Diversität in den Reihen ihrer Mitglieder, vor allem aber unter ihren Funktionsträger:innen kritisiert. Auch nicht neu: Parteien genießen in der Bevölkerung konstant wenig Vertrauen. Meist sind es um die 30 Prozent der Menschen, die Parteien vertrauen und noch viel weniger schreiben ihnen Lösungskompetenz für die dringlichen Probleme des Landes zu. Die Rede vom »Ende der Parteiendemokratie« liegt nahe und ist – wie viele Publikationen zeigen – zugleich keineswegs neu. Dabei hat gerade die Entwicklung der AfD gezeigt, dass Parteien offenbar sehr wohl noch Attraktivität ausstrahlen können und sogar – wie in Ostdeutschland zu beobachten – dort Mitglieder gewinnen, wo andere das Jahrzehnte lang vergeblich versucht haben.
Aber was tun, wenn es nur populistische und extremistische Parteien sind, die diese Erfolge verzeichnen? Oder sind nicht die jüngsten Mitgliederzuwächse bei Grünen und der Linkspartei doch ein Zeichen, dass es auch anderen gelingen kann? Und die schnellen Erfolge des BSW, bis hin zu zwei Regierungsbeteiligungen, haben im Parteienwettbewerb ebenfalls Seltenheitswert. Und in der Partei Die Linke gibt es nun Landesverbände deren Mitglieder zur Hälfte Neueingetretene sind. Eine herausfordernde und völlig neue Erfahrung für alle Parteien. Ist die Debatte also noch aktuell, denn das System funktioniert ja letztlich weiter?
Verfassungsrechtliche Institution
In Artikel 21 des Grundgesetzes ist die Rolle der Parteien in unserer Demokratie geregelt. In Absatz 1 heißt es da: »Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.« Sie gelten also als »verfassungsrechtlich notwendige Instrumente« und werden vom Grundgesetz in den Rang einer »verfassungsrechtlichen Institution« gehoben, wie auf der Website des Bundesministerium des Inneren zu lesen ist. Artikel 21 widmet sich außerdem der inneren Ordnung von Parteien, ihren Pflichten zur Rechenschaft und dem scharfen Schwert des Parteiverbotsverfahrens. Absatz 5 gibt den Hinweis, dass Näheres durch Bundesgesetz geregelt wird.
Also schauen wir ins Parteiengesetz. Nach Paragraf 1 nehmen Parteien Einfluss auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung; sie fördern die Teilnahme von Bürgern am politischen Leben; sie sollen zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranziehen; sie beteiligen sich an Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden, indem sie Bewerberinnen und Bewerber aufstellen; sie nehmen auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss und sorgen für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen.
Ihre besondere Rolle bei gleichzeitig fehlender Verankerung der Parteien in der Gesellschaft erzeugt ein Störgefühl.
Also weder das Grundgesetz noch das Parteiengesetz sehen formal an irgendeiner Stelle vor, dass Parteien eine bestimmte Zahl von Mitgliedern brauchen, noch dass sie von spezifischen Anteilen der Wahlberechtigten gewählt werden müssten, um ihre verfassungsgemäßen Aufgaben zu erfüllen. Also, alles gut? Nein, denn es entsteht doch eine Art Störgefühl, wenn man einerseits in Zahlen die Verankerung der Parteien in der Gesellschaft betrachtet und andererseits ihre besondere Rolle als Scharnier zwischen Bürger:innen und dem Staat.
Ein schwacher Trost bei alledem: Parteien sind mit ihren schwindenden Bindekräften in der Gesellschaft nicht allein. Auch Gewerkschaften und Kirchen – andere sogenannte intermediäre Akteure – fragen sich, wie man Menschen bindet in einer Gesellschaft, deren soziale Milieus erodieren und die sich in den letzten Jahrzehnten erheblich individualisiert hat, wie es der Soziologe Andreas Reckwitz schon 2019 in seinem Buch Die Gesellschaft der Singularitäten beschrieben hat. Dazu kommt, dass Engagement situativer wird, Menschen mobiler und flexibler geworden sind – politisches Engagement als »Situationship« statt Urkunden zu 40 Jahren Parteimitgliedschaft, Betriebszugehörigkeit oder Dienstjubiläum. Die Gretchenfrage der Parteiendemokratie lautet also: Was sind die Bindekräfte der Zukunft?
Politisierung und Polarisierung
Der Parteienwettbewerb – so viel ist sicher – hat sich erheblich ausdifferenziert und ist damit letztlich ein Abbild dieser gesellschaftlichen Prozesse. Politisierung und Polarisierung – gerade durch das Erstarken der AfD, aber auch angesichts weltweit zunehmender autoritärer Einstellungen sowie Krisenerfahrungen der letzten Jahrzehnte – haben vor allem an den Rändern Parteien gestärkt und Parteien der sogenannten Mitte weiter geschwächt, die ihrerseits oftmals durch eigenes Verhalten einen Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet haben. Angefangen von einer sprachlichen oder programmatischen Anbiederung an Rechtspopulisten, bis hin zu Verhinderungsverhalten in Regierungskoalitionen oder der fehlenden Verlässlichkeit politischer Entscheidungen und einer häufig unzureichenden Fehlerkultur.
»Je ausdifferenzierter die Gesellschaft, desto komplexer die Kompromissfindung und desto verlockender das populistische Verächtlichmachen von Diskurs und Kompromiss.«
Ist es mit den Parteien wie mit langgedienten und verlässlichen Produkten, die nach und nach doch immer weniger gekauft werden und schlussendlich still und leise aus dem Sortiment verschwinden? Braucht es etwas Neues? Anders als im Einzelhandel haben wir in der Parteiendemokratie – allein schon verfassungsrechtlich – nicht ein Fach weiter eine attraktive Alternative zum Modell »Partei« zur Hand. Schon jetzt ergänzen Bürgerräte, Bürgerforen und direktdemokratische Elemente die Parteiendemokratie. Hinzu kommen gerade auf kommunaler Ebene, aber zunehmend auch in den Ländern parteilose Kandidierende. Sie alle können Parteien als Seismografen für die Gedanken und Stimmungen in der Bevölkerung ergänzen, aber nicht ersetzen.
Nie geht es – das macht Art. 21 GG deutlich – nur um Parteien. Denn sie wirken an der Willensbildung »mit« und betreiben sie nicht allein oder ausschließlich. Parteien sind also kein Lieferservice, sondern sie sind die Arenen, in denen eben jene Bedürfnisse, Ideen und Gedanken gesammelt, diskutiert und verhandelt werden. Sie sind die Orte, an denen aus den Anliegen Einzelner die Forderungen und Ideen Vieler werden, mit dem Ziel durch Interessenausgleich und Kompromiss politische Lösungen zu finden, die in der Breite der Gesellschaft tragfähig sind.
Das ist selten agil, klingt eher zäh und mühsam, und das ist es auch. Je ausdifferenzierter die Gesellschaft, desto komplexer die Kompromissfindung und desto verlockender das populistische Verächtlichmachen von Diskurs und Kompromiss – im Zweifel zu Lasten einzelner gesellschaftlicher Gruppen.
Parteien müssen wieder mehr Orte von Teilhabe, Ermöglichung und Gestaltungsbegeisterung werden. Viele der zugehörigen Forderungen sind altbekannt: von vielfältigeren Karrierewegen über familienfreundlichere Sitzungszeiten bis hin zu mehr Agilität und mehr digitaler Kompetenz. Neu ist hingegen der Rahmen, in dem Parteien diesen Forderungen nachkommen müssen. Die Wirklichkeit hält von Empörungsplattformen, gesteuert von Tech-Milliardären, über erstarkende autoritäre und extremistische Ideologien bis hin zu einer schwierigen demografischen Entwicklung und immer wieder Neuen ad-hoc-Krisenerfordernissen einiges bereit. Wie in dieser Lage also nach innen schauen, reflektieren, durchdacht die eigene Institution zukunftsfit machen?
Vier Gedanken zum Kopfnicken oder -schütteln, vor allem aber zum Debattieren:
Parteien müssen, auch fernab von Social-Media-Postings oder Zehn-Punkte-Plänen, eine Sprache sprechen, die in der Breite der Gesellschaft ankommt. Anschaulich und lebensweltlich. Warum sollten Wähler:innen in Parteien mit von der Partie sein wollen, wenn Wahlprogramme unter der Last von Fachbegriffen und der Komplexität in die Knie gehen? Ja, im Zweifel setzt sich Politik dabei dem Vorwurf einer Vereinfachung aus. Aber wäre es das Risiko nicht wert? Wie gerne würde man durch ein Wahlprogramm blättern, das im Kopf anschauliche Bilder entstehen lässt?
Grundsatzprogramme durch Strategieprozesse ergänzen.
Parteien brauchen eine neue und überzeitliche Strategiefähigkeit. Weg vom Denken bis zur nächsten Landtagswahl, hin zu den »langen Linien«: Was ist Sozialdemokratie in 20 oder Christdemokratie in 30 Jahren? Grundsatzprogramme als Standortbestimmung brauchen Ergänzung durch Strategieprozesse und -pläne und in den Parteien braucht es Ressourcen, um diese Aufgabe erfüllen zu können.
Parteien müssen auch im Kleinen wieder Orte der Debatte werden: Durch Probemitgliedschaften, Zehnerkarten zum Testen, digitale Formate und hybride Sitzungen. Stimmen von außen sollten willkommen sein und regelrecht eingefordert werden. Diese Stimmen dienen als Anregung, als Intervention, womöglich auch mal als Provokation, aber sie sind nötig, damit Parteien über die »eigenen Leute« hinaus, die »lebendige Verbindung« in die Gesellschaft erhalten können. Statt als Chance werden solche Stimmen von außen aber viel zu oft als Angriff oder »ideologische U-Boote« gewertet, gegen die man in eine Wagenburg-Mentalität verfällt. Dabei böte gerade diese Reibung die Gelegenheit zur Schärfung des eigenen Profils.
Es darf gesellschaftlich nicht länger als Qualitätsmerkmal gelten in keiner Partei engagiert zu sein. Parteien müssen dem entgegenwirken, indem sie eine bessere Fehlerkultur und Reflexion vorleben, aber auch Bürger:innen, Arbeitgeber:innen und andere sind aufgefordert. Warum nicht mutig sein und innovative Ideen denken, um Parteiengagement wieder interessanter zu machen? Ja, Ehrenamt und das Anbieten von Anreizen vertragen sich de facto nicht wirklich gut. Und doch – die Currywurst fürs Impfen lässt grüßen – sind wir doch alle empfänglich dafür. Wie wäre es also, wenn tolle Angebote, wie die in vielen Bundesländern erhältlichen Ehrenamtskarten, weniger voraussetzungsreich würden?
Statt also den großen Wurf, die Abschaffung oder vollständige Veränderung zu fordern, wäre ein erster Schritt für die Zukunft womöglich, erst einmal die kleinen, vielfach lange bekannten Reformerfordernisse endlich anzugehen – getreu der Devise »kleine Gesten, große Wirkung«.

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