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Das Ende des tschechoslowakischen Reformsozialismus Sieg der Panzer

In der Nacht zum 21. August 1968 begann die militärische Intervention der sowjetischen Armee und der verbündeten Truppen Polens, Ungarns und Bulgariens in der Tschechoslowakei (ČSSR). Zwei Divisionen der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA), die ebenfalls bereitstanden, erhielten auf Veranlassung des Kreml wenige Stunden vor dem Einsatz den Befehl, an der Grenze zu verharren. Nur kleine Truppenteile der NVA wurden mit Hilfsaufgaben beteiligt.

Anders als damals angenommen, hatte der Parteichef der KPdSU, Leonid Breschnew, lange gezögert, der Invasion zuzustimmen, ebenso János Kádár, dessen ungarisches Pendant. Die treibenden Kräfte waren vielmehr die führenden Männer Polens, Władisław Gomułka, der DDR, Walter Ulbricht, und Bulgariens, Todor Živkov. Živkov dachte sogar daran, wie inzwischen zugängliche Dokumente belegen, in einem nächsten Schritt in Rumänien, unter seinem »Conducător« Nicolae Ceaușescu zwar spätstalinistisch geprägt, aber außenpolitisch am Rande der Blockloyalität balancierend, und im Jugoslawien Josip Titos mit seinem spezifischen Selbstverwaltungssystem »Ordnung (zu) schaffen«. Der jugoslawische Weg, wenn auch im Hinblick auf die militärische Paktfreiheit nicht realisierbar, galt vielen Tschechen und Slowaken als vorbildlich. Tito wurde bei einem Besuch in der ČSSR, vom 9. bis 11. August 1968, von der Bevölkerung begeistert empfangen.

Bewaffnete Gegenwehr gegen den Einmarsch einer halben Million Soldaten der Warschauer-Pakt-Staaten schien aussichtslos, doch kam es spontan zu einem breiten zivilen Widerstand: Verdrehung oder Zerstörung von Ortstafeln und Straßenschildern, Umleitung von Nachschubzügen der Invasoren auf Abstellgleise, Einrichtung einer mobilen Sendestation des staatlichen Rundfunks und von Piratensendern, Massenkundgebungen und ein Meer von selbst gefertigten Protestplakaten in den größeren Städten. Trotz der Gewaltfreiheit der allermeisten Protesthandlungen waren im Laufe einiger Wochen nach unterschiedlichen Angaben Dutzende bis mehrere Hundert Todesopfer zu beklagen. Alle Widerstandsaktionen konnten den Vormarsch der verbündeten Armeen nur verzögern, nicht stoppen.

Währenddessen scheiterte in Prag der vorgesehene Umsturz an der Regierungs- und Parteispitze an der fast einhelligen Ablehnung der Intervention seitens der Tschech/innen und Slowak/innen einschließlich der Mitglieder der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch). Ein geheimer Zirkel von konservativen KPTsch-Funktionären hatte der sowjetischen Schwesterpartei einen Hilferuf zukommen lassen, der dann als Rechtfertigung der Militäraktion diente. Die Führungsspitze der KPTsch wurde festgenommen und nach Moskau geflogen, wo man sie unter Druck setzte und die Rücknahme eines Großteils der Reformvorhaben bewirkte. Schrittweise, über Monate, gelang dann die »Normalisierung« der Verhältnisse im Sinne des Kreml, begleitet von einem Personalaustausch nicht nur an der obersten Spitze, Parteiausschlüssen in großer Zahl – insgesamt knapp eine halbe Million – und anderen Maßregelungen sowie der Flucht von Zehntausenden ins Ausland. Anders als in Ungarn nach dem Volksaufstand von 1956 blieb eine blutige Abrechnung jedoch aus.

Dass sich der Warschauer Pakt ungeachtet des vorhersehbaren Ansehensverlusts veranlasst sah, seine Truppen einzusetzen, hatte mit einer behaupteten Verschwörung tschechoslowakischer »konterrevolutionärer Kräfte« mit »dem Sozialismus feindlichen äußeren Kräften« (so die sowjetische Nachrichtenagentur TASS am 21. August 1968) in Wahrheit nichts zu tun, wenngleich Befürchtungen der Armeeführung und des sowjetischen Geheimdienstes KGB bezüglich einer sicherheitspolitischen Aufweichung der Westflanke eine Rolle spielten. Entscheidend waren die Sorgen, der Emanzipationsprozess in der ČSSR könnte außer Kontrolle geraten, und die reale Gefahr seiner ausstrahlenden Wirkung auf die Nachbarländer. Als point of no return auf dem Weg zum 21. August wird die Veröffentlichung des »Manifests der 2.000 Worte« vom 27. Juni 1968 angesehen, in dem 70 Intellektuelle mit 20 Jahren Diktatur der KPTsch abrechneten. Man musste das Papier, von dem sich die Partei distanzierte, als deutliche Absage an den kommunistischen Etatismus und konnte es eventuell sogar als Infragestellung eines nichtkapitalistischen Gesellschaftsentwurfs überhaupt verstehen.

Fraglos wäre die Entwicklung in der Tschechoslowakei ohne die Invasion nicht einfach in Harmonie verlaufen. Die Katholische Kirche erlebte einen Aufschwung, unabhängige politische Vereinigungen entstanden, und eine Wiedergründung der Sozialdemokratischen Partei wurde diskutiert. Es artikulierten sich unter den Bedingungen weitgehender Freiheit somit unterschiedliche Strömungen; Konflikte waren vorprogrammiert. Indessen war kaum jemals die Führung einer kommunistischen Partei so populär wie in der ČSSR seit der Ablösung Antonín Novotnýs durch Alexander Dubček am 5. Januar 1968 (übrigens mit Unterstützung Moskaus) auf dem Posten des Ersten Sekretärs der KPTsch. Dubček stand schon seit 1963 an der Spitze der slowakischen KP, wo er ein recht liberales Regiment führte, und das Bestreben der Slowak/innen nach größerer Eigenständigkeit bildete eine der Quellen des späteren Reformprozesses im Gesamtstaat. Novotný hatte seit 1957 amtiert, erste vorsichtige Wirtschaftsreformen eingeleitet (wie sie im Ostblock in den 60er Jahren mancherorts diskutiert und teilweise praktiziert wurden), die stalinistischen Hardliner ausgeschaltet und eine gewisse eingeschränkte Diskussionsfreiheit zugelassen.

Die Wirtschaftsentwicklung verlief aber ungleichmäßig und zeitweilig regelrecht krisenhaft, sodass eine Gruppierung entschiedener Reformer um Ota Šik Einfluss gewann, die für die stärkere Nutzung von Marktmechanismen zulasten der zentralen Planung, die Zulassung privater Kleinbetriebe, autonome Gewerkschaften und betriebliche Arbeiterselbstverwaltung eintrat, ohne das Staatseigentum an den Produktionsmitteln und die Kollektivierung der Landwirtschaft infrage zu stellen. Damit wurde die Perspektive für die Wirtschaftspolitik des Jahres 1968 aufgezeigt. (Šiks spätere Einlassungen, er habe damals schon nicht mehr an Möglichkeiten jenseits des Kapitalismus geglaubt, müssen, wie ähnliche Äußerungen Michail Gorbatschows, wohl eher als Ausdruck des Bedürfnisses gedeutet werden, nachträglich zu den Siegern der Geschichte zu gehören.)

Ein zweiter Strang ging auf die internationale Franz-Kafka-Konferenz am 27. und 28. Mai 1963 zurück, mit der der lange geächtete Dichter zum Ausgangspunkt intensiver literaturwissenschaftlicher, philosophischer wie auch politischer Debatten geworden war. Über die Literaturzeitung Literární noviny (mit einer Auflage von bis zu 140.000) wurde – trotz Sanktionen von oben – eine relativ offene kritische Diskussion der Intellektuellen bis ins Vorfeld des »Prager Frühlings« einem größeren Kreis zugänglich gemacht.

Herausragende Repräsentanten des demokratisch-sozialistischen Aufbruchs von 1968 waren, neben den bereits Erwähnten, die in die engere KP-Führung aufrückenden František Kriegel und Josef Smrkovský, der Direktor des tschechoslowakischen Fernsehens Jiří Pelikán, der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes Eduard Goldstücker sowie der Schriftsteller Pavel Kohout, nicht zuletzt auch der Geheimdienstchef Ivan Sviták. Die Regierung wurde seit April 1968 von Oldřich Černík geleitet. Der inzwischen als Staatspräsident amtierende General Ludvík Svoboda nahm, wie man heute weiß, nach dem 21. August eine uneindeutige, den Sowjets entgegenkommende Haltung ein.

Erneuerung des Sozialismus statt Kapitalismus

Die Herrschaft der KP genoss wie das Bündnis mit der Sowjetunion – letzteres wegen des Münchener Abkommens Großbritanniens, Frankreichs und Italiens mit dem nationalsozialistischen Deutschland auf Kosten der ČSR vom 29./30. September 1938 – in der Tschechoslowakei ursprünglich ein relativ hohes Maß an Unterstützung, die 1968 von den Reformern erneut bekräftigt wurde: Die KPTsch war 1946 in freien Wahlen die mit Abstand stärkste Partei geworden; sie hatte fast zwei Fünftel der Stimmen errungen. Der Übergang zur Alleinherrschaft im Februar/März 1948 war zwar staatsstreichartig vonstattengegangen, aber nicht ohne die Unterstützung erheblicher Teile der Bevölkeung. Dieser Ausgangspunkt hilft zu erklären, warum die Kommunistische Partei in der ČSSR – über die Zeit des stalinistischen Terrors um 1950 hinaus – als Trägerin von sozialen Hoffnungen im Volk stärker verankert blieb als in manch anderen Ostblockländern und dann 1968, weitgehend unangefochten, als Führerin des Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozesses agieren konnte. Im Juli 1968 sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage fast 90 % der Tschechen und Slowaken für die demokratische Erneuerung des Sozialismus anstelle der Rückkehr zum Kapitalismus aus, und ein noch größerer Prozentsatz erklärte sich mit der Politik Dubčeks einverstanden.

Am Anfang stand im Februar 1968 die Aufhebung der Zensur. Auch die Reisemöglichkeiten wurden erweitert. Freie Informationsvermittlung und freie Diskussion explodierten geradezu. Das neue Aktionsprogramm der KPTsch vom 5. April 1968 skizzierte für die verschiedenen staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche die Pluralisierung des kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Lebens im Rahmen eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« und stellte unmissverständlich fest: »Sozialismus ohne Demokratie und ihre Entwicklung ist kein Sozialismus«.

Der Zeitraum der ungehinderten Entfaltung des Reformprozesses war zu kurz, um zweifelsfrei überzeugende Resultate, etwa im ökonomischen Bereich, zu erzielen. Von einem Scheitern des »Prager Frühlings« kann aber keine Rede sein; er wurde von außen gestoppt. Von oben eingeleitet, fand der Prozess eine breite Resonanz in der Gesellschaft, zuerst in der Intelligenzija, dann auch in der Arbeiterschaft in den Betrieben, wo sich – verstärkt in Reaktion auf den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen – für einige Zeit vielfach räteähnliche Organe behaupteten.

Die Weltöffentlichkeit verurteilte ganz überwiegend den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei. Das galt neben den konservativen und liberalen Segmenten aus einer teilweise anderen Grundhaltung heraus auch für Sozialdemokraten und moskaukritische Linkssozialisten. Neu war – und das machte den Unterschied zum Ungarnaufstand zwölf Jahre zuvor aus – die kritische Reaktion etlicher kommunistischer Parteien, in erster Linie der italienischen und der französischen KP, Mehrheitsparteien der Arbeiterbewegung in ihren Ländern. Andere, meist kleinere Parteien, wie die sich neu gründende Deutsche Kommunistische Partei (DKP) in der Bundesrepublik, unterstützen die Moskauer Version von der Rettung vor der drohenden Konterrevolution. Von den regierenden kommunistischen Parteien hielten die jugoslawische und – trotz Zugehörigkeit zum Ostblock – die rumänische an ihrer ablehnenden Haltung fest. Das mit China liierte Albanien trat am 5. September 1968 aus dem Warschauer Pakt aus, dem es bis dahin pro forma noch angehörte. China seinerseits verschärfte seine Polemik gegen die Sowjetunion, wo man inzwischen die Herrschaft einer »neuen Bourgeoisie« identifizierte. Der Grund dafür, dass die Sowjetunion nun erkennbar zum Hauptfeind avancierte, lag hauptsächlich in der Furcht der Chinesen vor weiteren Militäraktionen Moskaus. Im Sommer 1969 kam es sogar zu einem blutigen sowjetisch-chinesischen Grenzscharmützel am Ussuri-Fluss.

Eine gegenteilige Konsequenz zog die unter sozialdemokratischer Leitung stehende westdeutsche Außenpolitik, indem sie die Notwendigkeit erkannte, gerade angesichts der tschechoslowakischen Ereignisse den nach der Kuba-Krise vom Oktober 1962 langsam eingeleiteten Entspannungsprozess zwischen West und Ost zu intensivieren. Zwischen den Supermächten waren schon kurz vor dem 21. August 1968 Signale ausgetauscht worden mit der Botschaft, dass der territoriale Status quo mit der Doppelhegemonie über Europa – wie schon in den beiden Jahrzehnten davor – beiderseits respektiert werden würde. Die USA nutzten die Krise, die im Wesentlichen eine Ostblock-interne war, um die NATO zu festigen und zu stärken. (Die für 1969 anstehende, umstandslose Verlängerung des NATO-Vertrags schien bis dahin nicht sicher, zumal das Frankreich unter Präsident Charles de Gaulle 1966 aus der militärischen Integration ausgeschieden war.) Für die nicht von der DKP bzw. der SED Westberlins beeinflussten, mehrheitlichen Teile der außerparlamentarischen Linken der Bundesrepublik Deutschland, die sich in etlichen Protestkundgebungen artikulierten, bedeutete der Sieg der Panzer in Prag und Bratislava das Ende der Hoffnung auf einen kongenialen staatlichen Partner auf der anderen Seite des »Eisernen Vorhangs« und auf die Auflösung der wechselseitigen Feindbildblockade.

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