Ja, weil das zum Verfassungsauftrag gleichwertiger Lebensverhältnisse gehört.
Seit der amerikanische Halbleiterkonzern Intel sich vor zwei Jahren für Magdeburg als Standort einer neuen Chipfabrik entschied, hat man als Sachsen-Anhalter:in das Gefühl, dass sich die Welt – industriepolitisch gesehen – ein weiteres Mal um 180 Grad gedreht hat. Seit in den 90er Jahren die mitteldeutsche Industrie schockartig einer Wiedervereinigung mit westdeutschem Rechtsrahmen, einer einseitigen Privatisierung durch die Treuhand und einer Marktwirtschaft mit manchmal frühkapitalistisch auftretenden »Investoren« ausgesetzt wurde, war unsere Region industriell lange ein Schatten ihrer selbst. Denn sowohl das Chemiedreieck im Süden und Südosten Sachsen-Anhalts als auch der Maschinenbau in Magdeburg und Dessau hatten im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu den fortgeschrittensten, innovativsten und produktivsten Industrieregionen Europas gehört.
Weil viele Betriebe als Waffenschmieden für den NS-Raubkrieg oder als Produktionsstätten für die Vernichtungspolitik dienten, wurden viele Industrieanlagen im Zweiten Weltkrieg zerstört, andere später als Reparationsleistungen in die Sowjetunion abtransportiert. Und trotzdem wurden Magdeburg und Dessau, Bitterfeld und Leuna schnell wieder so etwas wie der Maschinenraum der DDR. Das Bewusstsein, als Industrieregion das ganze Land zu versorgen, blieb bis zur Wende ungebrochen.
Deindustrialisierung und Entwertung von Lebensläufen
Dann wurde alles anders. Die ostdeutschen Industrieregionen erfuhren innerhalb von wenigen Jahren eine Deindustrialisierung, wie sie beispielsweise das Ruhrgebiet innerhalb langer Jahrzehnte allmählich durchmachte. Damit verbunden war eine – subjektiv empfundene, aber auch materiell messbare – Entwertung der beruflichen Lebensläufe von Facharbeiter:innen, Ingenieur:innen, ja sogar von Naturwissenschaftler:innen. Die »verlängerte Werkbank« wurde zum Sinnbild für die verbliebenen Industriestrukturen: wenig innovativ, abhängig von anderswo ablaufenden Entscheidungsprozessen und meist außerhalb jeder Tarifbindung. Soweit sich in diesen zurückliegenden Jahrzehnten westdeutsche Akteure mit den Strukturen und Potenzialen Ostdeutschlands überhaupt auseinandersetzten, schwang bei nicht wenigen die Missbilligung von Transferleistungen, Finanzausgleich und scheinbar versenkten Soli-Zahlungen mit. Was sich hinter den Kulissen tat, in erneuerten Hochschulen mit wachsendem internationalen Renommee und in hoch innovativen Chemieparks, das bekamen viele außerhalb der Region kaum mit.
Die Entscheidung für die Intel-Megafabrik in Magdeburg fiel daher nicht vom Himmel, sondern wurde vom Konzern strategisch in diesen innovativen Prozess und an einen oft unterschätzten, aber im europäischen Maßstab idealen Standort platziert. Und Intel ist nur eines von mehreren Beispielen für die jüngsten Großansiedlungen im Osten: TSMC in Dresden, ebenfalls mit Halbleitern, Daimler Truck in Halberstadt, Birkenstock in Pasewalk und – bei aller problematischen Einschätzung des Unternehmens – Tesla in Grünheide zählen ebenfalls dazu.
Die jüngsten Großansiedlungen in Ostdeutschland sind ein Gamechanger.
Diese Ansiedlungen sind für Ostdeutschland und namentlich für Sachsen-Anhalt das, was man einen Gamechanger nennt. Intel sorgt schon vor Baubeginn für eine erhebliche Sogwirkung und eine spürbare Aufwertung des Standortes. Schlagartig wird sichtbar, dass auch hier Wohnungsbedarf und Arbeitskräftemangel zunehmen, dass Investitionen in Schulen, Nahverkehr und in die Versorgung mit Wasser und Industriestrom nötig sind.
Endlich gibt es, wie Carsten Schneider das genannt hat, »einen neuen Blick auf Ostdeutschland«. Und mit dem Blick aus Ostdeutschland mutet es – vorsichtig ausgedrückt – befremdlich an, wenn ausgerechnet bei diesen Investitionen, die eine nachholende Entwicklung im Osten möglich machen, staatliche Investitionshilfen durch die strenge ordnungspolitische Brille betrachtet und hinterfragt werden. Nein, diese Milliarden sind nicht nur gut angelegtes Geld, weil sie weitere, privat finanzierte Entwicklungen in Größenordnungen nach sich ziehen, sondern sie sind auch angemessen und gerecht, weil sie zu den gleichwertigen Lebensverhältnissen beitragen, die wir im Osten so lange schmerzlich vermisst haben.
Für gesellschaftlichen Zusammenhalt
Aber es gibt – weit über den Osten hinaus – weitere wichtige Gründe, zu zielgerichteten staatlichen Investitionshilfen Ja zu sagen. Zum einen, weil Unterstützung für den Transformationsprozess zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beiträgt: In einer Gesellschaft, die immer mehr von Spaltungstendenzen und Fragmentierung geprägt ist, müssen wir Entwicklungen stärken, die auf Zusammenhalt ausgelegt sind. Der Kompromiss zum Braunkohleausstieg war einer der bislang letzten großen, mit Erfolg ausgehandelten gesellschaftlichen Kompromisse. Zum Ausstieg gehört die Transformation, damit in den Revieren neue, nachhaltige Industriearbeitsplätze entstehen, und das funktioniert nicht nur mit privaten Investitionen allein. Deshalb sind auch die staatlichen Leistungen zur Gestaltung des Strukturwandels von größter Bedeutung.
Tempo und Richtung
Der sozialökologische Umbau der Industriegesellschaft ist ohne Zweifel eine der größten Herausforderungen, vor denen die Industrienationen je gestanden haben, er ist unabweisbar, um die Grundlagen für Produktion, Wohlstand und Lebensqualität zu erhalten – und er braucht Tempo und Richtung. Für das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte taugt diese Zeit noch weniger als andere. Gezielte Investitionen in erneuerbare und möglichst autarke Energieversorgung sind ebenso gefordert wie das Voranbringen einer CO2-neutralen Produktion. Auch wenn viele Vorhaben der Bundesregierung durch den Ukrainekrieg, den russischen Gasboykott und interne Streitigkeiten verzögert oder sogar auf Eis gelegt wurden: An der enormen Aufgabenstellung hat sich nichts geändert, sie wurde nur noch dringlicher.
Aktiver Staat
Die Frage, wie die Herausforderungen von heute und morgen von einem aktiv handelnden Staat finanziell bewältigt werden können, wird die nächsten Bundestagswahlen mitentscheiden. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Transformationsfonds wird es neue Instrumente brauchen, um dieselben Ziele zu erreichen. Das Beharren auf der Schuldenbremse ist da keine Antwort, sondern läuft in der Perspektive auf das Blockieren notwendiger Entscheidungen hinaus. Ein flexiblerer Umgang mit Investitionen und Kreditaufnahmen allein wird den großen gesellschaftlichen Aufgaben aber auch nicht gerecht. Die vielbeschworenen Schultern, die mehr tragen müssen als die schwachen, müssen ernsthaft herangezogen werden. Gerade wer staatliche Subventionen in Anspruch nimmt, muss aus seinen Gewinnen einen entscheidenden Beitrag für das Gemeinwohl leisten.
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