Menü

Herausforderungen und Chancen Solidarität in der Währungsunion

Wir leben in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Unsicherheiten und Ängste. Kann die Europäische Union als Leuchtturm der Offenheit in der Welt die Unsicherheit verringern und für mehr Wohlstand ihrer Bürger sorgen? Wie kann diese Gemeinschaft, so offen und integriert sie ist, zu einer wahren Gemeinschaft florierender Wohlfahrtsstaaten werden? Damit meine ich keinen europäischen Wohlfahrtsstaat als Bestandteil eines föderalen europäischen Suprastaates. Vielmehr denke ich an eine Union, die einen sicheren Rückhalt für erfolgreiche nationale Wohlfahrtsstaaten bietet. Wir sollten uns dabei nicht in einer verfehlten Debatte über Souveränität verlieren. Vielmehr möchte ich mich im Folgenden auf einen Aspekt der Herausforderung konzentrieren, nämlich die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion.

Alle Währungsunionen, außer der Eurozone, sind »Versicherungsunionen«: Sie zentralisieren nicht nur das Risikomanagement bezüglich ihrer Banken, sondern auch ihre Arbeitslosenversicherung. Diese Währungsunionen entscheiden sich entweder für eine generelle und zentralgelagerte Arbeitslosenversicherung (wie in Kanada) oder sie straffen diese und unterstützen nur dann, wenn die Not am größten ist (so beispielsweise in den USA, wo es eine Kombination aus zentraler und dezentraler Arbeitslosensicherung gibt). Dies hat zwei rationale Gründe: Zunächst erhöht die Verteilung der Risiken auf mehrere Schultern die Widerstandskraft, falls einzelne US-Staaten (oder kanadische Provinzen) in ökonomische Schwierigkeiten geraten. Außerdem haben solche Versicherungssysteme eine Außenwirkung: Ein Staat oder eine Provinz, die sich gut selbst versichert, hilft gleichzeitig auch ihren Nachbarstaaten. Es ist ähnlich wie bei einer Impfung: Dadurch wird nicht nur das geimpfte Individuum selbst vor einer infektiösen Krankheit geschützt, sondern gleichzeitig auch die Menschen, mit denen es in Kontakt tritt. Folglich ist es für eine Regierung sinnvoll, Impfungen obligatorisch zu machen und diese zu subventionieren.

Eine Währungsunion birgt ein höheres Ansteckungsrisiko als ein gewöhnlicher gemeinsamer Markt. Daher macht es Sinn, wenn sich die Mitglieder einer Währungsunion auf eine Reihe von Mindestanforderungen für das Stabilisierungspotenzial in ihren (nationalen) sozialen und ökonomischen Systemen einigen. Aber welche Mindestanforderungen – vergleichbar der Impfpflicht – sollten hier zur Anwendung kommen? Präventiv gesehen ist finanzpolitische Besonnenheit eine erste Anforderung: Mitgliedsstaaten sollten nicht zu hohe Schulden anhäufen, da dies ihre Fähigkeit zur Aufnahme weiterer Schulden während eines Konjunkturabschwungs reduziert. Aber finanzpolitische Disziplin kann nur eine Vorbedingung sein. Wohlfahrtsstaaten benötigen außerdem automatische Stabilisierungsmechanismen, um makroökonomische Schocks abfedern zu können. Eine Arbeitslosenversicherung ist hier ein sehr effektives Mittel: Sie greift nur dann, wenn Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Dadurch unterscheidet sie sich grundlegend von anderen Sozialleistungen (oder auch von einem bedingungslosen Grundeinkommen).

Der Stabilisierungseffekt einer Arbeitslosenversicherung hängt von der Höhe der Zahlungen und dem Deckungsumfang ab. Ein »verbindliches Impfprogramm« zur Stabilitätssicherung müsste also Mindeststandards für den Deckungsumfang und die Höhe der Versicherungsleistungen in den Mitgliedsstaaten der Eurozone festlegen. Deckt die Arbeitslosenversicherung alle Arbeitnehmer ab oder bleibt ein großer Teil von ihnen ohne Versicherung, wie es in Italien lange der Fall war (was erklärt, warum der Stabilisierungseffekt der Arbeitslosenversicherung in diesem Land eine so geringe Rolle spielt)? Sind die Zahlungen hoch genug ohne gleichzeitig zu starke Anreize für eine Untätigkeit zu bieten? Für die nationale Sozialpolitik ist die Arbeitslosenversicherung eine heikle Sache: Ob sie als probates Mittel zur Stabilisierung ohne ungewollte Nebeneffekte funktioniert, hängt auch von den Mechanismen des Arbeitsmarktes und der Qualität der Aktivierungspolitik ab. Die Fähigkeit zur Stabilisierung durch den Wohlfahrtsstaat nimmt ab, wenn durch die Segmentierung des Arbeitsmarktes viele Arbeitnehmer unzureichend gegen Arbeitslosigkeit versichert bleiben oder wenn die Zahl nicht sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze zunimmt. Schlechte Arbeitsanreize hingegen führen zu negativen Effekten durch Langzeitarbeitslosigkeit. Anders ausgedrückt: Ein »Impfprogramm« zur Stabilisierung von Wohlfahrtsstaaten muss gleich mehrere Prinzipien einer guten Arbeitsmarktpolitik vereinen.

Es ist nicht verwunderlich, dass Impfungen in vielen Ländern nicht nur verpflichtend sind, sondern auch staatlich subventioniert werden. Die Wirtschaftstheorie lehrt, dass Güter mit positiven externen Effekten gefördert werden sollten. In der Eurozone wäre es vernünftig, die obligatorischen Mindestanforderungen in Bezug auf die Qualität der nationalen Systeme bei Bedarf finanziell zu unterstützen. Der Zugang zu temporären Fördergeldern, durch den die »Impfung« auf Landesebene finanziell tragbar bleiben soll, und ein verpflichtendes Impfprogramm würden Hand in Hand gehen. Der beste Weg dies zu erreichen, wäre eine gegenseitige Versicherung: Diese würde eine Fiskalunion der besonderen Art entstehen lassen, die politisch leichter zu realisieren wäre als eine vollwertige Zusammenführung mit gemeinsamer Staatskasse. Die EU hätte hier eben keinen gemeinsamen Haushalt wie beispielsweise die USA oder Kanada, aber durch einen relativ kleinen Versicherungsbeitrag könnte ein ähnlich stabilisierender Effekt eintreten.

Dazu, wie das organisiert werden könnte, wurden bereits diverse Vorschläge vorgelegt. Die meisten beinhalten den Ansatz, dass alle Mitgliedsstaaten in einen gemeinsamen Fonds einzahlen sollten, der dann Geld an diejenigen Staaten ausschütten würde, die mit einem signifikanten Anstieg der Arbeitslosenzahlen zu kämpfen hätten. Ein Forschungskonsortium, angeführt vom Centre for European Policy Studies (CEPS), hat verschiedene Varianten eines europäischen Arbeitslosenprogramms untersucht. Die Komplexität eines solchen Programms, auch wenn es nur die bestehenden nationalen Arbeitslosenversicherungen komplettiert, sollte aber nicht unterschätzt werden. Außerdem müsste ausgeschlossen werden, dass dauerhaft Mittel in bestimmte Mitgliedsstaaten transferiert werden und es so zu einem strukturellen Ressourcenfluss zwischen Ländern käme. Man bräuchte also eine reine Versicherungslösung, welche die Risiken aller teilnehmenden Länder gleichermaßen abdeckt. Meine Schlussfolgerung aus den genannten Forschungsergebnissen ist, dass es im Hinblick auf diese Ziele einfacher wäre, eine Art Rückversicherung für die nationalen Versicherungen aufzubauen anstatt eine neue europäische Arbeitslosenversicherung einzuführen, die ihre Leistungen direkt an den einzelnen europäischen Bürger ausschüttet. Das Modell der Rückversicherung würde also Geldflüsse zwischen einem europäischen Fonds und dessen Mitgliedsstaaten regeln (aber keine Ausschüttung von europäischer Ebene direkt zum einzelnen EU-Bürger). Sollte ein Mitgliedsstaat mit einem signifikanten Anstieg der Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben, könnte der europäische Fonds das Sozialversicherungssystem des jeweiligen Landes mit Zahlungen unterstützen. Demzufolge sprechen wir hier im wörtlichen Sinne von einer Rückversicherung der nationalen Versicherungssysteme. Auf nationaler Ebene ist das Modell der Rückversicherung gängige Praxis in der Versicherungswirtschaft: Die Rückversicherung versichert eine andere Versicherung; so bleiben die »normalen« Versicherungen zahlungsfähig, auch wenn eine größere Katastrophe eintritt, welche die Versicherung sonst zur Zahlung einer existenzbedrohenden Summe Geldes verpflichten würde. Verglichen mit einer »richtigen« europäischen Arbeitslosenversicherung erlaubt das Modell der Rückversicherung nicht nur mehr Flexibilität und größeren Spielraum zur Eindämmung des Risikos von moral hazard (Individuen verhalten sich aufgrund ökonomischer Fehlanreize verantwortungslos oder leichtsinnig und verstärken damit ein Risiko). Rückversicherung ist auch weniger kompliziert.

Genau genommen wäre die Grundregel für eine Rückversicherung in der Eurozone sehr simpel: Vorbeugen ist besser als heilen. Auch wenn sich seit der Wirtschaftskrise ein gewisser Grad an Solidarität innerhalb der Währungsunion entwickelt hat, musste diese mit schwierigen Verhandlungen zwischen den Mitgliedsstaaten erst hart erkämpft werden. Solidarität war nicht von vornherein in die EU eingewoben, sie trat erst im Nachhinein auf. Dies bringt zwei große Nachteile mit sich. Solidarität erst im Nachhinein zu organisieren fordert spontane und kurzfristige Verhandlungen über Lastenverteilungen, was wiederum leicht zu Konflikten zwischen den Regierungen und ihren Wählerschaften führen kann. Nachträglich entwickelte Solidarität verursacht außerdem höhere Kosten als eine von vornherein vorgesehene Solidarität, wenn letztere einen präventiven Charakter hat. Dies trifft sicherlich auf wirtschaftliche Stabilität zu: Da wirtschaftliche Schwankungen stark von Erwartungen beeinflusst werden, kann allein das Wissen über einen Mechanismus zur Krisenabfederung bereits dazu führen, dass Krisen erst gar nicht entstehen. Was die Belastbarkeit eines Systems angeht, kann man sagen, dass sich Risikoreduktion und Risikoverteilung gegenseitig stützen.

Analytisch betrachtet sind die Argumente für eine Risikoverteilung bestechend; für die Umsetzung muss hier aber sorgfältig nachgedacht werden; politisch gesehen bleibt das eine ziemlich schwere Aufgabe. Solidarität impliziert immer auch Einmischung. Wenn es das Ziel europäischer Solidarität sein soll, zur Stabilität beizutragen, ist die logische Konsequenz, dass die nationalen Systeme über entsprechende Stabilisierungsmechanismen verfügen müssen: der Erhalt (und in einigen Ländern der Ausbau) der Stabilitätsmechanismen auf nationaler Ebene werden hier zur offenkundigen politischen Gegenleistung (»Quidproquo«) für die Schaffung eines europäischen Stützungsmechanismus. Außerdem erzeugt die Möglichkeit, dass Staaten, die von einer europäischen Unterstützung für ihre Arbeitslosenversicherung profitieren würden, ihrerseits eine »laxe« Aktivierungs- und Beschäftigungspolitik betreiben könnten, offensichtlich ein moral-hazard-Risiko. Wir sollten uns aber nicht zu sehr auf moral hazard einschießen. Es spielt immer eine Rolle, wenn es um Versicherungen geht. Wenn man sich nur noch darauf konzentriert und versucht, jede noch so geringe Möglichkeit eines moral hazard auszuschließen, wird es unmöglich sein, eine Versicherung aufzubauen und die Vorteile kollektiven Handelns zu nutzen. Auf der anderen Seite dürfen wir moral hazard aber auch nicht gänzlich vernachlässigen: Es ist wichtig, dieses Problem anzusprechen und Lösungen zu finden, durch die es möglichst klein gehalten werden kann. Eine Möglichkeit wäre hier die Einführung finanzieller Mechanismen. Eine europäische Rückversicherung könnte beispielsweise nur bei einer kurzfristigen Abweichung der Arbeitslosenzahlen eines Mitgliedsstaates von dessen Langzeitarbeitsmarktdaten greifen. Auf diese Weise hätten langlebige strukturelle Unterschiede zwischen den Ländern keinen Einfluss auf das Greifen oder Nicht-Greifen einer europäischen Rückversicherung. Hohe Schwellen im Interventionsmechanismus könnten außerdem garantieren, dass der Fonds nur in gravierenden Fällen einspringt. Neben finanziellen Mechanismen kann moral hazard auch durch die Schaffung von Mindestqualitätsstandards für die Aktivierungs- und Beschäftigungspolitik der Mitgliedsstaaten reduziert werden. Wenn diese Mindestanforderungen effektiv sind, schafft dies mehr Raum für einen starken Versicherungsmechanismus. Damit Solidarität effektiv sein kann, braucht es ein gewisses Maß an Einmischung.

Das Streben nach Annäherung in grundlegenden Belangen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist ein bekannter Prozess innerhalb der EU: Die European Youth Guarantee (europäische Jugendgarantie) ist ein gutes Beispiel zur »Qualitätssicherung« im Hinblick auf nationale Arbeitsmarktpolitik für junge Leute. Leider ist dieser Ansatz aber relativ schwach und funktioniert nur teilweise. Die European Pillar of Social Rights (europäische Säule sozialer Rechte, lanciert von der Europäischen Kommission), ist eine gute Möglichkeit diesen Ansatz aufzubessern, zu verbreitern und ihm mehr Biss zu verleihen. Der Entwurf enthält grundlegende Prinzipien der Arbeitslosenversicherung und berücksichtigt beides, das Schaffen von Arbeitsanreizen sowie die Qualität der Leistungen. Außerdem wird betont, dass allen Arbeitnehmern Zugang zur Sozialversicherung gewährt werden muss. Folglich sind die Debatte um den European Pillar of Social Rights und die Debatte zur Stabilisierung der Eurozone eng miteinander verbunden. Sozialdemokraten müssen sich in dieser Frage engagieren.

(Für die weitere Diskussion über die Unterschiede zwischen einem Rückversicherungssystem und einer echten europäischen Arbeitslosenversicherung siehe Frank Vandenbroucke: Automatic stabilizers for the Euro area and the European social model. Tribune, Notre Europe – Institut Jacques Delors, 22. September 2016. Für eine breitere Diskussion über die soziale Dimension der Eurozone: siehe Frank Vandenbroucke: Structural convergence versus systems competition: limits to the diversity of labour market policies in the European Economic and Monetary Union. ECFIN Discussion Paper).

(Übersetzung aus dem Englischen: Julian Heidenreich und Hans Erdlenbruch.)

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben