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Europa nach der Corona-Krise Solidarität und Identität

Die Corona-Krise verursacht Stress: für den Einzelnen in seinem privaten Lebensumfeld sowie im öffentlichen Raum, für die Gesellschaft als Ganzes und für die Institutionen, die wir zu ihrer Rationalisierung, Ordnung und Absicherung geschaffen haben. Dazu gehört auch die Europäische Union. Wie schon in der Fluchtkrise der Jahre ab 2014 dominiert aber die Wahrnehmung, dass Brüssel nicht geliefert habe, dass gar die Europäische Integration auf dem Spiel stehe.

Dabei lagen die relevanten Kompetenzen gar nicht auf der Ebene der EU. Wiederum analog zur Fluchtkrise ging es zunächst und vor allem um Fragen der nationalen Ordnung: Während sich seinerzeit angesichts des massiv anschwellenden Zustroms von Geflüchteten das europäische Grenzregime (Schengen-Abkommen) und die Regelung der Zuständigkeiten im Asylfall (Dubliner Übereinkommen) als praktisch nicht mehr anwendbar erwiesen und daraufhin einzelne EU-Staaten eigene Wege als Ausdruck nationaler Souveränität suchten, geht es bei der Pandemieabwehr durch Notstandsrecht grundsätzlich um nationale Zuständigkeiten.

Hierbei ist der EU noch nicht einmal eine koordinierende Rolle zugewiesen worden, was sich besonders schmerzhaft wiederum im Grenzregime zeigte, als die Staaten eigenmächtig Kontrollen an den Binnengrenzen verfügten. Zugleich wurden Chancen gemeinsamer Beschaffung von Schutzkleidung und der Koordinierung medizinischer Versorgung nicht genutzt. Es waren aber die Mitgliedstaaten, die das versäumten und lieber gegeneinander arbeiteten, nicht die Institutionen der EU.

Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik ist so in die Grundrechte eingegriffen worden; Versammlungsfreiheit, freie Berufsausübung, Gewerbefreiheit, Schulpflicht, Religionsfreiheit und Reisefreiheit sind eingeschränkt oder ausgesetzt worden. Mitunter noch deutlich einschränkender und restriktiver waren diese Eingriffe in anderen europäischen Staaten, vor allem in den von der Pandemie besonders betroffenen Ländern wie Italien, Spanien und Frankreich. Der Gesundheitsschutz der ganzen Bevölkerung war zu gewährleisten, eine Überlastung des Gesundheitssystems abzuwehren. Auf nationaler Ebene wurden der extreme Eingriff in die Grundrechte und der damit ausgelöste Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität durch ein extremes Rettungsversprechen zu kompensieren versucht.

Dabei wurde schnell erkennbar, dass die Handlungsspielräume in diesem exogenen Schock wegen der Verquickung von Angebotsproblemen und Nachfrageproblemen arg verengt sind. Große Programme volkswirtschaftlicher Ankurbelung waren deshalb zunächst nicht zielführend. Stattdessen ging es in der ersten Phase der Krise darum, Liquidität zu sichern, Beschäftigung zu stabilisieren, Zuschüsse und Kapitalbeteiligungen zu organisieren. Gleichzeitig war alles zu tun, um die angebotsseitigen Störungen zu beheben; das betraf international und europäisch die Lieferketten und Wertschöpfungsverbünde. Die nationalen Notstandsmaßnahmen hatten einerseits vielfach die Produktion unmöglich gemacht und geschlossen, andererseits führten die unkoordinierten Grenzschließungen dazu, dass globale Märkte, vor allem aber der europäische Binnenmarkt, faktisch implodierten.

Für jeden wurde erkennbar, dass in einer Krise, deren Antwort im nationalen Notstand und Katastrophenschutz liegt, europäische Kooperation und Handlungsfähigkeit mehr denn je gefordert sind. Wenn man schon die Grenzen autonom und unabgestimmt schließt, kann nur eine gemeinsame Anstrengung aus diesem Chaos herausführen. Nirgends spüren wir das Fehlen europäischer Politik schmerzhafter als hier, wo mit dem Demontieren der Schlagbäume vor über 70 Jahren alles begann. Die Innenminister haben entsprechend mittlerweile gemeinsam Kriterien für die Grenzöffnungen formuliert und wollen damit einen verlässlichen Rahmen schaffen. Ebenso ist es klug, bei der Beschaffung von Schutzausrüstung gemeinsam zu agieren und – wie auf Initiative der EU-Kommissionpräsidentin – finanzielle Mittel für die pharmazeutische Forschung zu einem COVID-19-Impfstoff zu bündeln.

Doch Europa ist in dieser Krise noch ganz anders gefordert. Denn es geht jenseits praktischer Hilfe durch die Bereitstellung medizinischer Kapazitäten um solidarischen Beistand, damit die Krise ökonomisch überhaupt zu bewältigen ist. So verlangen die intensive europaweite Vernetzung der Produktion und die grenzüberschreitenden Lieferbeziehungen, dass das Wiederhochfahren der Wertschöpfung einigermaßen parallel möglich wird – keiner kann lange ohne den anderen vorwärtsgehen. Es wäre wenig gewonnen, wenn zwar die Öffnung des Lockdowns abgestimmter erfolgte, aber derweil Unternehmensinsolvenzen in großer Zahl die etablierten Strukturen der Arbeitsteilung und Lieferbeziehungen infrage stellen würden.

Die EU-Staaten haben zum Teil sehr umfangreiche Unterstützungsprogramme aufgelegt Auf die damit verbundenen fiskalischen Folgen haben die Kapitalmärkte im März bereits mit steigenden Risikoprämien für jene Staaten reagiert, deren Schuldenquoten an der Grenze der Tragfähigkeit lagen. Deshalb war es angemessen, dass zunächst die EZB mit ihrem »Pandemic Emergency Purchase Programme« das Ihre getan hat, um die Risikoprämien für südeuropäische Staaten nicht im Vorgriff auf notwendige fiskalische Expansion ansteigen zu lassen. Gefragt ist indes in erster Linie die Finanzpolitik. Die Volkswirtschaft als Ganzes ist angesichts des symmetrischen Schocks in den Blick zu nehmen, und zwar in allen Ländern der EU.

Doch die Möglichkeiten der Krisenpolitik sind für die EU-Staaten unterschiedlich, ohne dass dies mit Verweis auf Unterlassungen in der Vergangenheit verantwortlich beantwortet werden kann. In dieser Not ist europäische Solidarität gefordert. Dafür haben am 18. Mai der französische Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin einen weitreichenden Vorschlag gemacht. Dieser reicht von »strategischer Souveränität im Gesundheitssektor« über die »Beschleunigung des Green Deal und der Digitalisierung« bis zur »Stärkung der wirtschaftlichen und industriellen Widerstandsfähigkeit sowie neuen Impulsen für den Binnenmarkt«.

Im Zentrum aber steht die Bereitschaft beider Regierungen, einen »European Recovery Fund« mit einem Volumen von 500 Milliarden Euro einzurichten, und zwar zeitlich begrenzt im Rahmen des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) und finanziert über Kreditaufnahme durch die EU-Kommission. Die Integration in den Finanzrahmen eröffnet die Möglichkeit, die bewährten institutionellen Strukturen der Kommission zu nutzen und verschafft damit den Vorteil, schnell handlungsfähig zu sein. Die Kreditaufnahmekompetenz soll dabei auf Grundlage von Artikel 311 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) geschaffen werden, indem ein entsprechender Freiraum genutzt wird, dass mit einem Eigenmittelbeschluss »neue Kategorien von Eigenmitteln eingeführt« werden können.

So sehr der Vorschlag aus Paris und Berlin der Debatte einen Schub vermittelt hat, so sehr wird über den richtigen Weg gestritten werden:

  • Ob Artikel 311 AEUV überhaupt die Option zur Kreditaufnahme der EU eröffnet, ist Gegenstand juristischer Auseinandersetzung. In jedem Fall tritt ein entsprechender Beschluss »erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft«. Dafür liegen die Hürden hoch, nicht nur im Bundestag.
  • Alternativ könnte auf Grundlage von Artikel 122 (2) AEUV Hilfe organisiert werden, der bei Naturkatastrophen sowie außergewöhnlichen, jenseits der eigenen Kontrolle sich vollziehenden Ereignissen der EU die Möglichkeit eröffnet, dem betroffenen Land »einen finanziellen Beistand zu gewähren«. Ein umfassender Fonds ist mit Artikel 122 (2) AEUV aber nur schwer zu begründen, da er einzelne Staaten adressiert.
  • Im Gegensatz zu Merkel und Macron schlagen die »sparsamen Vier« – Österreich, die Niederlande, Schweden und Dänemark – vor, aus dem Wiederaufbaufonds nur Darlehen und keine Zuschüsse zu offerieren, allerdings ohne eine Finanzierung über EU-Anleihen abzulehnen. Damit würden Zins und Tilgung der Anleihen von den Empfängerstaaten geleistet, bei der deutsch-französischen Lösung durch alle am EU-Haushalt beteiligten Staaten nach Maßgabe ihres Finanzierungsanteils.

Alternativ zur Einbindung des Recovery Fund in den normalen Mehrjährigen Finanzrahmen der EU – und damit dessen Bindung an das Prinzip der Einstimmigkeit – erscheint eine eigenständige Etablierung durch einen zwischenstaatlichen Vertrag passender. Die reine Umsetzung des Fonds könnte den bestehenden Institutionen – Kommission oder Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM) – überantwortet werden. Der zwischenstaatliche Vertrag wäre möglicherweise schneller zu erreichen als die ohnehin ausstehende, durch einen Recovery Fund noch komplizierter werdenden Verhandlungen zum MFR erfolgreich abzuschließen. Warum also nicht eine Lösung wie bei der Einrichtung des EFSF und dem Fiskalvertrag?

Wie dem auch sei: Entscheidend ist das kräftige Signal von Frankreich und Deutschland, in dieser Pandemiekrise fiskalische Solidarität wirksam zu organisieren. Das Signal richtet sich an die Kapitalmärkte, an die internationale Staatengemeinschaft, aber ebenso an die Mitglieder der EU. Dafür werden neue Wege der Finanzierung gewählt, langfristige EU-Anleihen, die als sichere Anlage aus den künftigen Haushalten der Union bedient werden und so alle Mitgliedstaaten einbeziehen. Das hat nichts mit Schuldenvergemeinschaftung zu tun, sondern spiegelt den angesichts der Lage und der Herausforderung gebotenen Finanzierungsweg.

Der hoch integrierte Wirtschaftsraum Europas lässt keinen Staat von den Bedingungen des anderen auf Dauer unabhängig sein. Nach den anfänglichen Irritationen konnten auf der europäischen Ebene mittlerweile erhebliche Anstrengungen geleistet werden, um der COVID-19-Pandemie gemeinsam begegnen zu können. So hat der Europäische Rat am 19. Mai 2020 das SURE-Programm mit einem Volumen von 100 Milliarden Euro gebilligt, mit dem die EU in den Mitgliedstaaten Kurzarbeit finanzieren will. Auch dafür wird die EU-Kommission zur Kreditaufnahme ermächtigt, diesmal bezogen auf die Differenz zwischen den abgerufenen Etatmitteln und dem gebilligten Etatvolumen.

Bereits am 23. April wurde beschlossen, dass die Europäische Investitionsbank einen Garantiefonds zur Absicherung von Unternehmenskrediten von 200 Milliarden Euro bereitstellen kann. Zusätzlich sind vorsorgliche Kreditlinien bis zu 240 Milliarden Euro des ESM für »Pandemie-Krisen-Hilfe« ohne Konditionalität vorgesehen; allerdings darf das Geld nur für direkte oder indirekte Gesundheitskosten verwendet werden. Dazu tritt nun der European Recovery Fund. Das ist – wie skizziert – im Grundsatz angemessen, gar geboten. Die Umsetzung wirft noch Fragen auf. Aber die EU muss sich in einer solchen Krise als verantwortlich und solidarisch erweisen. Das wird auch zum Antrieb und Thema für die geplante »Konferenz zur Zukunft Europas« werden, die nun viel grundsätzlicher zu Debatten über die Identität der EU einladen soll.

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