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»Sollten die Alten loslassen zugunsten der Jüngeren?« 

Nein, denn die großen Herausforderungen für die Gesellschaft werden ohne den Erfahrungsschatz und die politische Orientierung der älteren Generation nicht gut zu bewältigen sein.

Die Rede ist hier nicht von Handwerkern oder vom Pflegepersonal fortgeschrittener Jahrgänge, diese Zeilen sind kein Plädoyer zur Erhöhung des Renten­ein­tritts­alters. Sie drehen sich um den medialen und gesellschaftlichen Diskurs, um intellektuelle Multiplikatoren aus Kultur, Wissenschaft und Politik. Es geht um jene engagierte und sprachmächtige Minderheit, die in bewegten Zeiten stets den Ton vorgegeben hat.

Wenn es um die Förderung und die Partizipation der jüngeren Generation geht, dann kommt es auf Handlungsspielräume an, auf Freiräume, auf Self-Empowerment, auf Möglichkeiten des Learning by Doing, auf emanzipatorische und politische Bildung. Und, nicht zu vergessen: auf Chancengleichheit, Förderung und Teilhabe – statt Konkurrenzdruck, Selektion und drohender Prekarität.

»Demokratieerfahrung nicht zu nutzen, kann im gesellschaftlichen Diskurs ein schwerer Fehler sein.«

Soweit, so richtig. Allerdings gibt es da auch eine Kehrseite. Jung sein allein, das reicht nicht. Zu viele (zu) früh in Verantwortung zu bringen, kann manchmal niveausenkend wirken. Vor allem aber: Demokratieerfahrung nicht zu nutzen, kann im gesellschaftlichen Diskurs ein schwerer Fehler sein. Diesen Erfahrungsvorsprung den Jüngeren anzubieten, ist nicht Ausdruck von Geringschätzung oder Überheblichkeit, sondern zeugt von Verantwortung für das Ganze.

Um eines klarzustellen: Dies ist mitnichten ein Plädoyer für das (undemokratische) Senioritätsprinzip oder für einen vermeintlich »weisen« Ältestenrat. Es kommt auf die jeweilige historische Konstellation an. Da hatte in der alten Bundesrepublik die Nazi- und Weltkriegsgeneration viel zu lange das Sagen. ­Es war dringend notwendig und wichtig, dass seinerzeit eine neue Generation für einen tiefreichenden kulturellen und politischen Wandel sorgte.

Heute ist die Situation eine grundlegend andere

In einer Zeit sich akkumulierender Krisen, katastrophaler Zuspitzungen, neuer Weltunordnung und drohender gesellschaftlicher Spaltungen ist es von fundamentaler Bedeutung, den (Lebens-, Berufs-, Politik-)Erfahrenen weiter zuzuhören. Die ja sozialisiert wurden (wie indirekt auch immer) durch den Politisierungszyklus, der aus »1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur« (Wolfgang Kraushaar) erwuchs.

Dieser Zyklus durchlief verschiedene Phasen und ideengeschichtliche Metamorphosen: so zum Beispiel von der sozialliberalen Bundesregierung über die Neuen Sozialen Bewegungen und die DDR-Bürgerbewegung bis zum rot-grünen Wahlsieg 1998. Er prägte (trotz mancher Sackgassen, wie dem dogmatischen Marxismus in den frühen 70er Jahren) einen generationellen Lernprozess der reformpolitischen Verortung »links der Mitte«.

Entstanden ist eine politische Grundhaltung, zu deren Ikone Willy Brandt wurde. Eine Grundhaltung, die zur Bewältigung von globalen Krisen und Verwerfungen vor Ort mehr denn je gebraucht wird und deren Hegemoniefähigkeit heute von Konservativen und Rechten wieder massiv infrage gestellt wird. Und diese Post-68er-Generation soll sich ausgerechnet jetzt zurückziehen?

Was sie einbringt ist: die klare Verteidigung des demokratischen Prinzips und des sozialen Staates; die Kritik und reformistische Korrektur problematischer kapitalistischer Strukturen; das Leitbild von gleicher Freiheit; die notwendigen Verbindungen: von Ökologie und Ökonomie, von Emanzipation und Solidarität, von kultureller Vielfalt und gesellschaftlichem Zusammenhalt; ein globales und eher verantwortungsethisches Verständnis von Politik; ein Politikbegriff »handlungsorientierter Kommunikation«, der auf Vernunft, Wissen und historische Erfahrung zurückgreift. Insgesamt entstand so ein orientierender Kompass für eine Politik, die sicher überfordert wäre, alle Probleme sofort zu lösen, die sich aber als demokratische Bewegung über den Status quo hinaus versteht. 

Man könnte sogar die Ampelregierung mit ihrer sozialökologischen Transformation als einen späten Sieg dieser politisch bewegten Generation interpretieren, denn 2021 überholte die SPD die CDU bei den über 60-jährigen Wählern.

»Offenbar sind mit dem umfassenden Verlust von Zukunftssicherheit neue kulturelle Bruchlinien entstanden.«

Jetzt verstärken sich Hinweise eines erneuten politischen Paradigmenwechsels, der mehr ist als nur eine graduelle Differenz. Es geht nicht nur darum, dass die junge Generation, wie beim Klimaschutz, radikaler und rebellischer in Erscheinung tritt. Offenbar sind mit dem umfassenden Verlust von Zukunftssicherheit neue kulturelle Bruchlinien entstanden, vor denen manch Älterer ratlos steht: wenn jüngere politisch Engagierte weniger fragend, lernend und selbstkritisch daherkommen, sondern strotzend vor Selbstbewusstsein sich nicht wirklich auf Kommunikation einlassen (wie bei der apokalyptischen Gewissheit der »Letzten Generation«).

Wenn eine übersteigerte Ich-Bezogenheit und gruppenidentitäre Weltbilder vorherrschen. Wenn eine (eigentlich naive) moralische Überhöhung alles in gut und böse einteilt und selbst das Politische damit banalisiert und enthistorisiert. Wenn Prozesse des Diskurses, der Vermittlung und der Kompromissfindung nicht mehr verstanden werden. Wobei doch genau das die, wenn auch mühsamen, Mechanismen sind, die das Wesen des Demokratischen ausmachen.

Wenn es vermeintlich auf die von vornherein feststehende »Haltung« ankommt, Fakten von Meinungen nicht mehr unterschieden werden. Wenn mit dem »links sein« nicht mehr zuerst der Kampf um Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Verteilung und soziale Sicherheit gemeint ist, sondern Lebensstilfragen der neuen akademischen Mittelklasse dominieren. Wenn ein entgrenztes Freiheitsverständnis Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung aus seinen sozialen Bezügen löst und es da vor allem um die Ablehnung von Regeln und Begrenzungen, um das eigene Befinden und individuelle Wollen zu gehen scheint.

Wenn durchaus emanzipatorische Themen im Gewand von Aktivistenideologien zu allgegenwärtigen Gesinnungsfragen werden. Auch über Queerness, Rassismus und Kolonialismus ist natürlich offen, im Angesicht aller anderen gesellschaftlichen Übel, Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen zu reden. Traditionelle Gleichheitspolitik und soziale Bürgerrechte, Grundeinkommen und Mindestlohn, Umverteilung und Reichtumsabschöpfung sind nicht von gestern.

»Nicht Öl ins Feuer des antiemanzipatorischen Kulturkampfes von rechts gießen.«

Wenn das Interesse an programmatischen Theoriedebatten, einzelne politische Maßnahmen in einen größeren Sinnzusammenhang zu stellen, erlahmt. Am Ende lieber Symbolpolitik? Bei aller guten Absicht kann durch Gendervorschriften bis zum Umschreiben von historischen Texten gesellschaftliche Spaltung auch gefördert werden. Man muss aufpassen, nicht Öl ins Feuer des antiemanzipatorischen Kulturkampfes von rechts zu gießen. 

Was sich hier abzeichnet, ist möglicherweise ein erneuter intergenerationeller Bruch: vorangetrieben durch verunsichernde Zeitenwenden, durch Enttraditionalisierung, »Singularisierung« (Andreas Reckwitz), Beschleunigung und Digitalisierung: Über all dies gibt es mittlerweile einen Berg an Büchern, wiewohl eine überzeugende Generationentheorie noch fehlt.

Demgegenüber an den vergangenen Politisierungszyklus zu erinnern und seine demokratische Offenheit zu verteidigen, bleibt die wichtige Aufgabe der älteren Generation, die deshalb nicht vorzeitig loslassen sollte.

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