Ja, denn der gesellschaftliche Nutzen ist enorm
Debatten um das verpflichtende Gesellschaftsjahr kochen vermehrt dann hoch, wenn der Personalmangel in der Bundeswehr oder in den Altenheimen besonders eklatant zu sein scheint. Doch die Idee, dringend benötigte Fachkräfte durch ungelernte Freiwillige zu ersetzen, wird in der Praxis nicht aufgehen. Stattdessen kann solch ein Jahr viel mehr sein als die einfache Antwort auf ein komplexes Problem und gesellschaftlichen Mehrwert schaffen – jenseits einer politisch-moralischen Überhöhung.
Das Gesellschaftsjahr mag vielleicht eine kollektive, ätzende Pflicht sein, gilt aber wenigstens für alle. Der Spruch »Wer Rechte hat, besitzt Pflichten« ist Nonsens. Am Beispiel der Schulpflicht sieht man, dass einige Pflichten nur deshalb bestehen müssen, weil sonst nicht gewährleistet werden könnte, dass jede:r Zugang zu seinen/ihren Rechten erhält oder wahrnimmt. Pflichten müssen sich nicht aus Rechten, sondern können sich aufgrund von Rechten ergeben. Doch ebenso wie Bildung die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben ist, vermittelt ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr Fähigkeiten für ein eigenverantwortliches Dasein.
Das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ), das Freiwillige Ökologische Jahr (FÖF) oder der Bundesfreiwilligendienst (BFD) sind nur unzureichend inklusiv. Bei einem Taschengeld von 423 Euro entscheiden sich vor allem solche Personen für einen Dienst an der Allgemeinheit, die es sich leisten können. Zum Vergleich: Im Wehrdienst verdienen Freiwillige 1.500 Euro. Bewerber:innen sollten sich nicht für letzteren entscheiden müssen, weil sie nicht auf finanzielle Rücklagen bauen können. Eine verbesserte Bezahlung macht den Freiwilligendienst vielleicht attraktiver – ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr hingegen setzt ein Einkommen voraus, von dem man tatsächlich leben kann. Statt diejenigen auszuschließen, die ohnehin über weniger Teilhabe verfügen, sollten alle eingeschlossen werden.
Kollektive Pflichten kollidieren mit dem Recht auf Selbstbestimmung. Zweifelsohne wäre ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr ein massiver Eingriff in die Persönlichkeitsrechte – kann aber auch gewinnbringend sein, wenn es Gruppen zusammenführt, die sich sonst nicht begegnen würden, sozioökonomische Blasen und Vorstellungen geschlechterspezifischer Berufsbilder aufbricht. Tendenziell engagieren sich Personen mit hohem Bildungsabschluss eher in einem Freiwilligendienst als solche, die über einen mittleren oder niedrigen Abschluss verfügen.
Noch immer üben mehr Frauen Freiwilligendienste aus als Männer. Zwar haben sich die Anteile in den vergangenen Jahren stetig angeglichen, sind jedoch noch immer nicht gleich auf. Personen, die sich nicht mit der Bundeswehr identifizieren können oder wollen, entscheiden sich nicht zwangsläufig für ein freiwilliges Jahr; es sind vor allem diejenigen, die sich ohnehin für den sozialen Bereich interessieren. Mit einem verpflichtenden Jahr besteht zumindest die Hoffnung, mehr Menschen nachhaltig für die Care-Arbeit zu gewinnen.
Die Wehrpflicht (und damit auch der Zivildienst) wurde 2011 ausgesetzt, weil sie sicherheitspolitisch nicht mehr zu rechtfertigen war – im Verteidigungsfall kann sie aber reaktiviert werden. Es ist nicht verwunderlich, dass ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr gerade jetzt diskutiert wird, da ein Krieg nahe der NATO-Ostflanke tobt. Über die Wiedereinführung der Wehrpflicht wird gar regelmäßig seit 2015 – schon vier Jahre nach ihrer Aussetzung – immer wieder debattiert, vielleicht, weil die Entscheidung zu überhastet getroffen wurde; vielleicht, weil das Resultat nicht zufriedenstellend ist.
Pflichten werden erst dann hingenommen, wenn gesellschaftliche Mehrheiten von ihrem Sinn überzeugt sind. Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr muss dazu für das 21. Jahrhundert angepasst werden und darf keine Wehrpflicht 2.0 werden. In den letzten Jahren ihres Bestehens war eine Wehrgerechtigkeit, bedingt durch geburtenstarke Jahrgänge, ohnehin nicht mehr gegeben – ganz davon abgesehen, dass Frauen von vornherein nicht einbezogen wurden.
Die Entscheidung für oder gegen ein Gesellschaftsjahr kann nicht über die Köpfe derjenigen hinweg getroffen werden, für die es bestimmt ist. Soziales Engagement ist genauso wenig auf die Jugend beschränkt, wie der Wehrdienst ausschließlich von Schulabgänger:innen geleistet werden muss. Auch diejenigen, die weder Wehrdienst noch FSJ geleistet haben, müssten einbezogen werden. Wer ohnehin ein Sabbatical einlegen möchte, sollte die Möglichkeit bekommen, dies in einem sozialen Bereich oder in der Bundeswehr zu tun – und sich das anrechnen zu lassen.
Ausnahmeregelungen sind ebenso wichtig. Wer zu Hause Angehörige pflegt, die auf ihn angewiesen sind, kann sich nicht zusätzlich in einem freiwilligen Einsatz verausgaben. Kurzum: Sollte ein Gesellschaftsjahr eingeführt werden, muss die gesamte Gesellschaft dies konsequent tragen – und zwar von der Entscheidung an und über Generationengrenzen hinweg.
Es stimmt – die Einführung eines Pflichtjahres wird teuer, aufwändig und verfassungsrechtlich heikel. Es bleibt zu prüfen, inwiefern soziale Betriebe, aber auch die Bundeswehr in der Lage sind, die Freiwilligen sinnvoll zu integrieren und sie zum beiderseitigen Vorteil einzusetzen. Ob Personen ihren gesellschaftlichen Beitrag gerne oder widerwillig leisten – an ihrem Beitrag per se ändert sich nichts – er bleibt sinnvoll.
Nein, denn es gibt genügend Gründe, die dagegen sprechen.
Alle Jahre wieder. So könnte man die in regelmäßigen Abständen wieder aufflammende Debatte um ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr, einen sozialen Pflichtdienst oder wie man es auch immer nennen möchte, umreißen. Meistens während des politischen Sommerlochs von Konservativen platziert, führte die Debatte bisher immer ins Leere. Beide Seiten legten ihre Argumente dar – zu einer Problemlösung kam es nie. Nun wurde die Debatte vom Bundespräsidenten höchstpersönlich im Juni erneut angestoßen und von der CDU forciert, sodass der Einsatz für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr sogar in einen Beschluss des letzten Bundesparteitages der CDU mündete. Genug Gründe also, um die Debatte jetzt ein für alle Mal aufzulösen.
Zwei Jahre Pandemie, dazu die sich zuspitzende Klimakrise, seit Februar Krieg in Europa – unsere Gesellschaft ist seit Jahren von multiplen Krisen gezeichnet, die die Jugend in unsichere Zeiten blicken lassen. Umso beeindruckender ist es, dass sich die Hälfte der jungen Menschen zwischen 14 und 25 Jahren bereits jetzt an vielen Stellen in das gesellschaftliche Leben ehrenamtlich einbringt, wie Sonderauswertungen des Vierten Deutschen Freiwilligensurveys über das freiwillige Engagement junger Menschen ergeben hat. Sei es bei den Tafeln, der Unterstützung von Geflüchteten, bei neuen digitalen Initiativen oder auch bei »Fridays For Future«.
Natürlich sind das nicht per se die Organisationen, die durch den Bundesfreiwilligendienst, ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein Freiwilliges Ökologisches Jahr tangiert sind, aber es zeigt deutlich: Das Märchen von der faulen und orientierungslosen Jugend, das uns insbesondere Neoliberale und Konservative immer wieder auf's Neue erzählen wollen, ist falsch und ignorant!
Des Weiteren wird immer wieder auf den Personalmangel in sozialen Berufen und der Bundeswehr verwiesen. Beide Bereiche sind nicht direkt vergleichbar, weil unterschiedliche Argumente jeweils gegen eine Verpflichtung sprechen. Die sozialen Berufe sind gerade für junge Menschen aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen und Bezahlung nicht attraktiv. Deshalb müssen wir dort ansetzen: Höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen können dazu beitragen, die sozialen Berufe zu entlasten und zugleich attraktiver zu machen. Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr, welches junge Menschen ohne Ausbildung in diese Berufe zwingt, hilft hier nicht.
Die Debatte um die Bundeswehr ist davon zu trennen. Zwar befinden wir uns durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine in einer neuen sicherheitspolitischen Situation, aber die Defizite der Bundeswehr sind die gleichen geblieben: Probleme im Beschaffungswesen und unnötige Ausgaben für überteuerte Berater*innen werden nicht durch die Wiedereinführung einer Wehrpflicht oder einem ähnlichen Modell gelöst. In ihrer strategischen Ausrichtung braucht die Bundeswehr nicht mehr Personal für ein paar Monate, sondern Strukturreformen. Hinzu kommt, dass die Wehrbeauftragte des Bundestags und der Generalinspekteur der Bundeswehr sich gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht aussprechen.
Eine wiederum völlig gerechtfertigte Debatte und legitime Kritik an BFD, FSJ und FÖJ ist die über unzureichende Zugangsmöglichkeiten für alle. Momentan verdienen Freiwilligendienstleistende ungefähr 423 Euro im Monat, eher ein »Taschengeld«. Damit ist das System sozial ungerecht ausgestaltet. Junge Menschen aus Familien mit niedrigen Einkommen oder Sozialleistungsempfänger*innen können es sich schlicht und ergreifend nicht leisten, einen Freiwilligendienst mit diesem Verdienst zu versehen. Damit werden wir auch im Allgemeinen den Bedürfnissen nach Selbstständigkeit von jungen Menschen nicht gerecht. Gerade nach der Schule haben viele den Wunsch auszuziehen und eigenständig zu leben. Das ist mit einem viel zu kleinen Entgeld nicht möglich. Ebenfalls trifft das auf Studierende und Azubis zu, die sich mit Nebenjobs über Wasser halten.
Zugangsmöglichkeiten verbessern
Daher müssen wir dafür sorgen, dass die Freiwilligendienste finanziell besser ausgestattet sind und sie damit allen jungen Menschen, die diesen ausüben wollen, auch offenstehen. Das Einkommen und die Vermögenswerte der Eltern dürfen nicht darüber entscheiden, welcher Weg eingeschlagen werden kann!
Freiwilligendienste leisten einen wichtigen Beitrag in unserer Gesellschaft. Sie ermöglichen jungen Menschen neue Erfahrungen zu machen und sich zu orientieren. Deshalb sollte es bei der Debatte um ein soziales Pflichtjahr nicht darum gehen, ob man für oder gegen die Freiwilligendienste ist, sondern vielmehr darum, wie man die Rahmenbedingungen verbessert, um Freiwilligendienste zu stärken und für alle zugänglich zu machen.
Zwang hilft bei dieser Frage – davon bin ich überzeugt – überhaupt nicht. Junge Menschen sind nicht dazu verpflichtet, der Gesellschaft oder dem Staat etwas zurückzugeben. Sie sollten im Gegenteil dazu ermächtigt werden, sich eigenständig sozial zu engagieren. Das erreichen wir nicht mit einer verfassungsrechtlich bedenklichen Pflicht, sondern mit breiteren Angeboten, einer besseren Bezahlung und mehr Möglichkeiten für alle.
Mit einem bevormundenden Verständnis einer vermeintlich unselbstständigen und faulen Jugend lösen wir keine Probleme, sondern schaffen Misstrauen. Und genau deswegen gehört die Debatte um ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr ein für alle Mal in die Mottenkiste, aus der sie rausgekramt wurde!
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!