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Der Wahlsieg der dänischen Sozialdemokraten befeuert die Diskussion in der SPD Sonderfall mit Vorbildfunktion?

Selten wurde über ein Wahlergebnis so intensiv, so widersprüchlich und so verbittert diskutiert, wie über den Ausgang der Parlamentswahl in Dänemark. Und selten hat sich eine Debatte dabei so schnell von dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand entfernt. Selten wurde auch das Ergebnis so schnell instrumentalisiert und missverstanden.

Dabei war man schon erstaunt, über wie viele bislang unerkannte heimliche Dänemark-Experten das deutsche Feuilleton offenbar verfügt. Sie alle wussten nur Tage nach der Wahl schon ganz genau, welche Lehren nun zu ziehen seien – und vor allem, welche ganz sicher nicht. Nur konnten sich diese Experten nicht einmal auf die grundlegendsten Dinge verständigen.

Doch eins nach dem anderen. Worum ging es bei der dänischen Parlamentswahl überhaupt? Im Vorfeld der Wahl hatte eine migrationspolitische Verschiebung der dänischen Genossen für einige Aufregung gesorgt. Anders als viele ihrer europäischen Schwesterparteien setzen die Sozialdemokraten in Dänemark auf eine strikte Begrenzung von Migration und auf staatlich verordnete umfassend sanktionierte Integrationsmaßnahmen.

Dieser Positionswandel erfolgte dabei zwar relativ zügig, nicht aber ohne eine inhaltliche Vorgeschichte, und ist eng mit der Parteivorsitzenden Mette Frederiksen verknüpft. Schon seit Ende der 80er Jahre hatten sich profilierte sozialdemokratische Bürgermeister/innen etwa aus Aarhus und dem Kopenhagener Umland zu Wort gemeldet und lautstarke Kritik an einer Migrationspolitik artikuliert, die sie aus kommunaler Perspektive als gescheitert ansahen. Das traf in der sozialdemokratischen Partei zunächst auf ein eher durchwachsenes Echo. Zwar rückte auch Frederiksens Vorgängerin Helle Thorning-Schmidt die Sozialdemokraten in eine eher migrationskritische Richtung, doch in der Partei selbst blieb dieser Kurs umstritten. Das änderte sich nach der Wahlniederlage 2015. Frederiksen bilanzierte das Ergebnis mit den Worten: »Die Bürgermeister hatten recht«.

Die in den folgenden Monaten vorgenommene inhaltliche Neuausrichtung der Sozialdemokraten wurde auf 28 Seiten in einem Manifest mit dem Titel: »Realistisch und Fair« ausbuchstabiert. Im Vorwort wirbt Frederiksen dabei offensiv um einen Konsens der Mitte: »Es macht einen nicht zu einer schlechten Person, fundamentalen Wandel abzulehnen. Und anderen Menschen helfen zu wollen, macht einen nicht naiv«. Benötigt werde »eine Migrationspolitik, die Dänemark vereint«. Für harsche Kritik sorgte dabei insbesondere das programmatische Ziel einer »klaren Begrenzung von Einwanderern aus nicht-westlichen Staaten«. Inhaltlich begründet wird diese Differenzierung zwischen »westlichen« und »nicht-westlichen« Personen im Papier mit der Feststellung, »die Integration von Menschen aus nicht-westlichen Ländern [sei] generell mit größeren Herausforderungen verbunden«. Gerade diese Position wurde im deutschen Diskurs zum Teil als rassistisch kritisiert.

Der im Positionspapier dargestellte Dreiklang einer neu aufgestellten dänischen Migrationspolitik beruht dabei auf Begrenzung, auf Hilfen für Entsendestaaten und richtet den politischen Fokus auf Integration. Hierzu schlagen die Sozialdemokraten nicht nur vor, die Familienzusammenführung von Sprachkenntnissen und Berufstätigkeit abhängig zu machen. Aus ihrer Sicht sollen auch Asylanträge auf dänischem Boden in Zukunft nahezu faktisch unmöglich werden. Stattdessen, so fordert die Partei, seien Asylanträge künftig ausschließlich in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen in »Auffangzentren außerhalb Europas« zu stellen. Erfolgreiche Bewerber kämen nur noch über jährliche UN-Quoten ins Land, abgelehnte Asylbewerber hingegen würden zügig abgewiesen. Bestehende Grenzkontrollen etwa an der deutsch-dänischen Grenze sollen beibehalten werden. Um das rechtlich dauerhaft abzusichern, wird eine Reform des Schengen-Abkommens angestrebt.

Selbstverständlichkeit oder Skandal?

Der eigentliche politische Schwerpunkt des Programms jedoch liegt auf verschiedenen Aspekten der Integrationspolitik. Hier gleicht das Papier einer umfassenden Absage an »Parallelgesellschaften«. Als Integrationsziel beschreiben die Sozialdemokraten ein Land, in dem »sich niemand als Ausländer fühlt«.

Als heikel gilt dabei insbesondere der Ansatz, finanzielle Sozialleistungen von vorherigen Beiträgen abhängig zu machen. Dafür sollen spezielle Programme aufgestellt werden, also beispielsweise sollen Neu-Bürger/innen Dänisch lernen, eine Ausbildung machen oder sich auf Arbeitssuche begeben. Wer das verweigert, muss mit empfindlichen Sanktionen rechnen.

Gefördert werden soll Integration zudem durch die stärkere Verteilung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund auf eine Vielzahl von Schulen und etwa durch ein Unterbinden der gängigen Praxis, dass Dänisch sprechende Kinder bei offiziellen Terminen für ihre Eltern übersetzen. Eltern sind aufgefordert, auch die Sprache zu erlernen – oder nach drei Jahren im Land die Kosten für einen Übersetzer zu tragen. Zugleich fordert das Positionspapier eine umfassende Reform der Entwicklungszusammenarbeit und einen »Marshallplan für Afrika«. Vorgeschlagen werden eine Verdoppelung des finanziellen Engagements in »fragilen Staaten« sowie ein Fokus auf Ausbildungsförderung, wirtschaftliche Entwicklung und einen besseren Schutz von Frauen und Kindern.

Ist das nun alles eher eine Selbstverständlichkeit oder ein Skandal? Für einige deutsche Beobachter offenbar eher letzteres. In kürzester Zeit drängte eine Vielzahl von Stimmen auf eine weitgehend Status-quo-kompatible Interpretation des Wahlergebnisses, die mit der Ausgangslage nur noch wenig zu tun hatte. Sehr schnell erschien der dänische Wahlsieg nur noch als triumphale Niederlage eines vorbildlichen Sonderfalls.

Ein Beitrag von Fedor Ruhose sei hier stellvertretend genannt. Unter der Überschrift »Kann die SPD vom Rechtsruck der dänischen Sozialdemokraten wirklich lernen?« beleuchtet der Autor die Wahlergebnisse. Dabei beklagt er zunächst ausdrücklich und nicht ohne Berechtigung, dass es in der Debatte um die Lehren aus Dänemark stets »lediglich um die Bestätigung der eigenen Position« gehe. Dann aber verfängt er sich selbst in den Fallstricken der selektiven Wahrnehmung.

Der Autor wirft der dänischen Sozialdemokratie etwa vor, ihr Wahlergebnis nur dadurch erreicht zu haben, dass sie »das Gesellschaftsbild der Rechten« übernommen habe. Die tatsächliche politische Entwicklung zeigt aber etwas anderes. Vor den Wahlen stellten sich lediglich zwei Parteien offen gegen die von den Sozialdemokraten in Aussicht gestellte Neujustierung der Migrationspolitik: die (linken) Sozialliberalen und die Sozialistische Volkspartei. Beide erzielten zwar zusammen einen Stimmenzuwachs von rund 7 %, kamen aber dennoch gemeinsam auf nicht einmal 16 %. Kann ein Politikvorschlag in einem demokratisch liberalen Rechtsstaat, der offenbar von rund 84 % der Wahlbeteiligten mehr oder weniger offen getragen wird, tatsächlich als »rechtes Gesellschaftsbild« bezeichnet werden? Umfragen weisen zudem immer wieder darauf hin, dass Grundwerte wie Weltoffenheit und Toleranz in Dänemark nach wie vor auf breitesten gesellschaftlichen Rückhalt zählen können. Die dänischen Sozialdemokraten haben sich also wohl eher nicht an gesellschaftliche Extrempositionen angepasst, sondern an die gesellschaftliche Mitte – und zwar erfolgreich.

Eine Vielzahl progressiver Beobachter in Deutschland teilte zudem die Auffassung, dass die Wahlgewinne auf der rechten Seite durch Abwanderung zu linkeren Parteien neutralisiert wurden und das Ergebnis der Sozialdemokratie im Vergleich zur vorherigen Wahl insgesamt stabil blieb. Auf den ersten Blick entspricht das den Tatsachen. Nachwahlbefragungen des dänischen Rundfunks ergaben, dass rund 10 % der ehemals rechtspopulistischen Wählerinnen und Wähler dieses Mal zur Sozialdemokratie gewechselt sind. Zugleich wanderten rund 7 % vormaliger sozialdemokratischer Anhänger/innen zu den erwähnten kleineren Linksparteien.

Diese Interpretation blendet aber die für den dänischen Parlamentarismus entscheidende Zweiteilung des Folketings in einen konservativen und einen linken Block aus. In einem solchen System sind Veränderungen innerhalb der Blöcke unerheblich, lediglich Wählerwanderungen über Blockgrenzen hinweg können Wahlen entscheiden, da sie die strategischen Mehrheiten verändern. Eben das aber ist den Sozialdemokraten gelungen.

Die tatsächlich wahlentscheidenden Themen

Völlig zu Recht wird zudem darauf verwiesen, dass man die Kampagne der Spitzenkandidatin Frederiksen nicht nur auf die klare Positionierung in der Migrationsfrage reduzieren könne. Das laut Nachwahluntersuchungen mit Abstand wahlentscheidende Thema sei der Klimawandel gewesen, dann folgte die Pflegepolitik. Erst an dritter Stelle folgt das Thema Migration.

Ja, die Themen Klima und Pflege spielten eine noch größere Rolle als die Migration. Nicht von ungefähr bezeichnete die Spitzenkandidatin die Wahlen selbst ganz bewusst als »Klimawahl«. Das aber beweist m. E. gerade den Erfolg der dänischen Migrationsstrategie. Es ging den Sozialdemokraten nie darum, die Rechtspopulisten in xenophober Rhetorik zu übertrumpfen, sondern darum, dass Thema Migration politisch so weit abzuräumen, dass sich die politische Debatte auf andere Fragen verlagern konnte. »The point was not to win the debate on immigration, but to neutralise it«, stellt auch der Economist fest. Und das ist der dänischen Sozialdemokratie gelungen. Wenn sie ihre seit 2015 geltende restriktivere Position in der Migrationspolitik nun vor der Wahl 2019 wieder revidiert hätte, wäre das Thema Migration sehr wahrscheinlich wahlentscheidend geworden. Dann nämlich wäre das Ergebnis wohl nicht der Zusammenbruch der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei gewesen, sondern das der dänischen Sozialdemokratie.

Manche Beobachter machen es sich daher wohl zu leicht, wenn erklärt wird, die deutsche Sozialdemokratie könne von dem dänischen Beispiel lernen, wie es »mit einem klaren sozialökonomischen Kurs gelingen kann, Mehrheiten zu gewinnen«. Das kann durchaus gelingen, aber erst dann, wenn Themen wie Migration und Integration durch politische Bearbeitung ihre toxische Wirkung verloren haben. Leider sind wir davon in Deutschland – und in vielen anderen Ländern Europas – noch ein ganzes Stück entfernt. Trotz konstruktiver aktueller Versuche nicht zuletzt in der SPD-Bundestagsfraktion.

Der Streit um das »Geordnete-Rückkehr-Gesetz« droht zu eskalieren und in den drei anstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg dürfte es der AfD gelingen, das Thema Migration auf der Agenda zu halten. Vor diesem Hintergrund sollten sich gerade progressive Stimmen um überzeugende Analysen bemühen, die der Demagogie ruhige und durchdachte Antworten entgegenhalten. Ein offener und umfassender Dialog mit der dänischen Sozialdemokratie wäre ein Anfang. Um herauszufinden, was vom dänischen Beispiel gelernt werden kann und was nicht.

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