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© picture alliance / imageBROKER | Ralf-Udo Thiele

Sozialdemokratie auf Missionssuche

»In Zeiten der Ängstlichkeit, in der immer mehr Typen an der Bar hocken und jammern, in der alte Männer mit Hundekrawatte am Rad der Zeit drehen, und zwar in die falsche Richtung, muss die SPD radikal positiv werden, radikal zukünftig.« Das schrieb der junge Genosse und Zeit-Autor Felix Dachsel 2017 in einem Artikel über die SPD, die kurz darauf das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte bei einer Bundestagswahl einfahren sollte.

Vier Jahre später scheint die Krise vorbei zu sein. Ein Sozialdemokrat ist wieder Kanzler. Heißt das aber auch, dass die SPD erfolgreich an ihrer Zukunftsfähigkeit gearbeitet hat? Nur bedingt, denn trotz eines »Zukunftsprogramms« zeichnet die SPD nach wie vor kein entsprechendes Bild, nutzt keine starken Geschichten oder spricht Emotionen an, wie es sich wirklich anfühlen könnte, Bürger:in in einer sozial-gerechten Welt zu sein. Das ist nicht nur ein Problem der Sozialdemokratie. Politik berührt uns einfach nicht mehr.

Ein neuer Regierungsauftrag sollte also nicht die Tatsache ausblenden, dass die Sozialdemokratie weiterhin an ihrer Zukunftsfähigkeit arbeiten muss. Mit neuen Begriffen ist es dabei aber nicht getan, das Konstrukt Arbeit und Sozialdemokratie muss ganz neu gedacht werden.

Der Zukunftsanker fehlt

Fortschritt ist das, was uns als Gesellschaft vorantreibt. Gerade die letzten Jahre wurde er allerdings fast nur noch mit Wachstum gleichgesetzt. Es ging meist nur noch um neue Märkte, um Geld als wichtigsten Faktor statt um Relevanz, Werte und Verantwortung. Zu Beginn des Jahres 2022 können wir zwar bald für Millionen Euro virtuelle Grundstücke in einer künftigen neuen Welt, dem Metaversum, erwerben, gleichzeitig ist in der realen Welt nach wie vor ein Wohnungs- und Fachkräftemangel zu beklagen und wird über Mindestlöhne diskutiert.

Dies alles wird die ohnehin stattfindende Polarisierung in unserer Gesellschaft in den kommenden Jahren weiter verstärken. Zusammen mit dem Gefühl einer wachsenden Beschleunigung und zunehmenden Entfremdung der Menschen von der Natur, aber auch von uns selbst, unserem Miteinander, verlieren so immer mehr Leute ihre Hoffnung und den Glauben daran, dass es so etwas wie soziale Gerechtigkeit und ein positives Zukunftsnarrativ, das zumindest für den größten Teil der Welt funktionieren könnte, überhaupt gibt.

Nie wurde die Sozialdemokratie daher mehr gebraucht als heute. Warum? Trotz aller Euphorie für das Neue wächst zunehmend auch die Sehnsucht nach einem gemeinsamen Halt und einer Zielrichtung. Menschen fehlt zunehmend ein Anker. Denn während das Leben in der Industriegesellschaft innerhalb von klar abgesteckten Grenzen wie Beruf, Familie und Stand stattfand, ist das Leben in unserer modernen Welt geprägt von einer zunehmenden Individualisierung und gleichzeitigen Dekonstruktion. Das heißt: Wir zerlegen gerade zahlreiche Geschichten, die uns Menschen Jahrtausende lang gesellschaftlich getragen haben.

Ob es um den Wandel in der Arbeitswelt geht, das angestrebte Ende des Patriarchs, um neue Geschlechtsidentitäten, die Bekämpfung von strukturellem Rassismus und der menschgemachten Klimakrise – wir befinden uns inmitten eines gesellschaftlichen Wandels, bei dem wir in vielen Bereichen neue Geschichten, Bilder und eine neue Sprache des gesellschaftlichen Miteinanders im Einklang mit dem Planeten entwickeln müssen.

Das alles sind Kernthemen der Sozialdemokratie. Auf der einen Seite bringt dies eine nie dagewesene Individualisierung und Demokratisierung mit sich, also die Chance eine Gesellschaft zu bauen, die im Kern auf Gestaltungsfreiheit setzt. Aber: Wir lösen uns auf der anderen Seite damit auch immer mehr von jahrtausendalten Traditionsmustern und sozialen Strukturen. Mehr denn je brauchen wir in unserer sogenannten BANI-Welt (Brittle [brüchig], Anxious [ängstlich], Non-linear, Incomprehensible [unverständlich]) Politikerinnen und Politiker, die es schaffen, Menschen mit Visionen zu begeistern und einen Zukunftsanker für eine gemeinsame Richtung zu setzen.

Politische Visionen geben uns Halt, können das Licht am Ende des Tunnels sein. Damit ist keine zwanghafte Leitkultur gemeint, sondern mehr ein Gefühl des Miteinanders und für eine wertebasierte Richtung. Visionen, die gleichermaßen groß gedacht sind, aber auch das Gefühl von Umsetzbarkeit vermitteln und damit Mut machen.

Visionen schaffen neue Realitäten

Wenn wir ein Zukunftsbild entfalten, eröffnen wir damit immer auch neue Möglichkeitsräume. Wir erlauben es uns größer zu denken, als es der aktuelle Zeitgeist womöglich zulässt. Alles, was wir heute in der Welt sehen, geht auf genau solch ein Denken zurück. Es waren Ideen von Visionär:innen, die anfangs für verrückt gehalten wurden, aber die immer an sich geglaubt haben. Dieses Durchhaltevermögen und dieser Mut fehlen in der politischen Landschaft nach wie vor, auch wenn die Ampelkoalition eine neue Art der Aufbruchstimmung zu vermitteln versucht. Es fehlt an starken Visionen, die uns motivieren.

Dabei ist Bilder zu konstruieren eines der wichtigsten menschlichen Werkzeuge, denn sie eröffnen neue gedankliche Horizonte, bringen aber auch abstrakte Ideen zusammen. Bilder »ziehen« uns unterbewusst in die Zukunft. Visionen bilden die Basis für unsere Innovationen und damit unsere künftige Realität. So schreibt der Globalhistoriker Yuval Noah Harari, dass Menschen immer dann miteinander erfolgreich kooperieren, wenn sie an gemeinsame Mythen glauben. Mit Kooperation meint er damit sowohl den modernen Staat und die Kirche, als auch Unternehmen und kleine Gruppen.

Im Grunde sagt er: Wir Menschen haben vor Jahrtausenden als Spezies hauptsächlich deshalb zusammengefunden, weil wir die Fähigkeit besaßen und nach wie vor besitzen, uns gegenseitig Geschichten zu erzählen und gemeinsam daran glaubten. Bevor es die Wissenschaft und moderne Kommunikation gab war es die einzige Weise, um Information zu verbreiten.

Warum ist das wichtig? Es betont schlicht die oft vergessene Tatsache, dass alles Zwischenmenschliche – von der Kultur bis zur Bürokratie – menschengemacht ist und unsere Welt aus Erzählungen besteht. Und bei den Kernthemen der Sozialdemokratie ist das nicht anders. Wir konstruieren die Welt, in der wir leben, mit den Worten, die wir benutzen und mit den Bildern, die wir denken und schaffen.

Dass es an allgemein gültigen Narrativen und Bildern mangelt, zeigen nicht zuletzt Bewegungen wie die der Reichsbürger:innen oder Querdenker:innen. Trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnis und menschlichen Vernunft, der wir uns heute bedienen könnten, treffen Menschen gerade in Krisenzeiten ihre Entscheidungen oft eher auf emotionaler anstatt auf vernunftgeleiteter Basis, was sie folgerichtig für Geschichtenerzähler:innen attraktiv macht.

Und auch in der Wirtschaft spüren wir die Kraft der Erzählungen. Der Tesla-Gründer Elon Musk etwa hat – bei aller notwendigen und berechtigten Kritik – eine klare Mission und Vision. Alles was er tut, ordnet sich dem eigentlichen Ziel unter und er hat es geschafft, sein Narrativ im Mainstream zu etablieren. Sein Bild der Zukunft beeinflusst das Handeln vieler weiterer Unternehmer:innen und wird dadurch zur technokratischen, selbsterfüllenden Voraussage.

Mehr denn je muss die Politik dem begegnen und zwar mit emotionalen Zukunftsbildern, in denen sich Menschen selbst und ihre eigene Rolle wiedererkennen. Noch dazu benötigen wir Kampagnen, die uns im alltäglichen Leben abholen – nicht nur alle vier Jahre. Die Sozialdemokratie muss aktiv alternative Bilder schaffen und mit Utopien spielen. Statt: »Wie wird es werden?« sollten wir fragen: »Wie wollen wir denn, dass es wird?«.

Transformation in Missionen verpacken

Nur eine Vision – wie beispielsweise die Abkehr von der Atomkraft oder soziale Gerechtigkeit – reicht dabei nicht aus. Es braucht zudem Schritte sowie einen klar definierten Zeithorizont, um eine solche Mission zum Erfolg zu führen. Denn die Transformation komplexer Systeme dauert oft 30–50 Jahre.

Wenn wir also wollen, dass Menschen den Weg begeistert mitgehen, dann muss die Politik auf allen Ebenen im Stande sein zu skizzieren, wie es uns gehen wird, wenn wir die Transformation erfolgreich gestaltet haben.

Die Idee des kathedralen Denkens kann hierfür zielführend sein. Dahinter verbirgt sich ein Denken mit Blick in die ferne Zukunft, der weiter reicht, als unser eigenes Leben. Die Basis hierfür ist zwangsläufig eine gemeinsame Vision für große Werke, die in die Geschichte eingehen sollen. Auch wenn man selbst nicht direkt etwas davon haben wird, motiviert es die Menschen, Teil dieser Vision zu sein und einen Beitrag dafür zu leisten.

Dieses Denken haben wir über die Zeit verloren. Die großen Themen unserer Zeit, wie die sozial gerechte Gestaltung der Klimakrise, verlangen jedoch genau nach diesem gemeinsamen Entwerfen von Visionen und entsprechenden Missionen.

Technologischer Fortschritt und starke Medienverbreitung geben ein Gefühl von gesetzten Zukunftsszenarien. Wer das Kapital und die Marktmacht auf der eigenen Seite hat, bestimmt die Zukunft. Der Druck mitzuhalten, veranlasst viele Unternehmen dazu, das eigene Handeln auf die vorherrschenden Zukunftsbilder abzustimmen, ungeachtet der Tatsache, ob dies den eigenen Werten entspricht oder gesamtwirtschaftlich und gesellschaftlich sinnvoll und nachhaltig ist.

Um nicht rein reaktiv Innovationen und Trends anderer immer nur hinterherzujagen, ist es unabdingbar, sich eine eigene Vision zu schaffen und Missionen zu entwickeln. Die entscheidende Frage lautet diesbezüglich: Welche Missionen kann und möchte die Sozialdemokratie bespielen? Im Zukunftsprogramm und in der anstehenden großen Transformation steckt viel Potenzial. Allerdings: Transformation beginnt immer bei der Haltung. Und hier gibt es bei der SPD noch Defizite. Im Folgenden drei Bausteine:

Zum einen muss die SPD ihr Selbstbewusstsein wiederfinden. Politische Gestaltung in Form eines Spiels mit Ideen für soziale Innovation bilden doch die Grundidee der Sozialdemokratie. Hier braucht es mehr Mut. Die aktuell viel diskutierte progressive Ökonomin Mariana Mazzucato fordert, dass der Staat sich endlich wieder als Innovationsgestalter verstehen sollte.

Ferner muss die SPD weg von der Rhetorik der »Partei des kleinen Mannes«. »Sprache ist aus Realität gemacht. Aber Realität ist auch aus Sprache gemacht. Je länger man Menschen sagt, sie seien einfach und klein, was eine gängige Rhetorik ist unter deutschen Sozialdemokraten, desto mehr fühlen sie sich auch so, desto machtloser werden sie, desto ängstlicher, desto pessimistischer, desto weniger glauben sie an ihre Kraft« schreibt Dachsel 2017. Eine neue Sozialdemokratie muss sich von solchen Bildern lösen.

Damit der Wandel der Arbeitswelt und eine gerechte Wissensgesellschaft aktiv gestaltet werden können, muss die Entwicklung einer Gesellschaft vorangetrieben werden, in der sich jeder Mensch seiner Einflussmöglichkeiten und seines Gestaltungspotenzials sowohl des eigenen Lebens als auch in der Gesellschaft bewusst ist und mit den entsprechenden Fähigkeiten und Werkzeugen ausgestattet ist, dies zu tun.

Wenn die Sozialdemokratie Menschen in Schutz nehmen möchte, ist das gut gemeint, aber leider kontraproduktiv. In Schutz nehmen bedeutet klein halten. Dies stärkt niemanden in seiner Selbstwirksamkeit. Gerade diese aber ist nötiger denn je. Denn in einer sich im Wandel befindlichen Arbeitswelt, in der sich traditionelle Branchen zunehmend auflösen und ganz neue Berufe schnell entstehen, bietet die Fixierung auf starre Berufsbilder und der Verlass auf einen stabilen Arbeitsmarkt keine Sicherheit mehr. Wir können niemanden davor in Schutz nehmen oder Versprechen für die Zukunft machen.

Stattdessen sollte die Sozialdemokratie jetzt alles daran setzen, Werkzeuge bereitzustellen, die Selbstvertrauen und Mut, etwas Eigenes zu schaffen, fördern. Die SPD muss es zu ihrem Kern machen, hierfür Raum zu schaffen und Menschen einen Vertrauensvorsprung geben anstatt sich als Retter zu positionieren. Ideen wie das »Chancenkonto« oder »Entfaltung Baby« der Initiative DisruptSPD waren zwar ausbaufähige Ansätze, dafür aber fehlten positive, zukunftsorientierte Werkzeuge.

Bildungs- statt Arbeiterpartei

Die SPD muss Bildungspartei statt Arbeiterpartei sein. »Dreimal mehr Kinder aus Akademiker-Haushalten gehen studieren als aus Arbeiterfamilien«. Das ist ein Satz, den man oft von Genossen:innen hört. Warum differenzieren wir immer noch so streng zwischen Arbeiter und Akademiker? Den klassischen Arbeiter gibt es heute in Deutschland so nicht mehr. Das produzierende Gewerbe wird nach und nach durch die Digitalisierung transformiert und das ist auch gut so, denn Menschen sollen menschlichen Tätigkeiten nachgehen. Tätigkeiten, bei denen sie ihr Talent, ihren Kopf, ihre Erfahrung, ihr Wissen, ihr Handwerk, ihr Geschick nutzen und einbringen können und keinen Job verrichten, der sie nur als menschliche Maschine missbraucht.

»[Alteingesessene Sozialdemokratien] sehen den Menschen nur in seiner Lohnabhängigkeit. Die SPD hängt an einem zweidimensionalen Arbeitsbegriff, der nicht in die Gegenwart passt und schon gar nicht in die Zukunft.« (Dachsel 2017). Und auch den Akademiker gibt es so nicht mehr. Denn Akademiker sein, im strengen Sinne, würde bedeuten, dass man entweder einen universitären Abschluss hat oder selbst in der Forschung und Lehre aktiv ist. In welche Kategorie würden dann alle anderen Hochschulabschlüsse und Weiterbildungsprogramme fallen? Im Zeitalter des lebenslangen Lernens, der Onlinekurse und Wissensgesellschaft sind dies einfach keine zeitgemäßen Beschreibungen mehr.

Wir setzen Weiterbildung und Theorie mit Studium und Forschung gleich und werten gleichzeitig Erfahrungswissen gegenüber Theoriewissen massiv ab. Viele Protestwähler:innen protestierten nicht, weil es ihnen schlecht geht, sondern weil sie sich um die Zukunft ihrer Kinder Sorgen machen. Sie verstanden nicht, warum man mit einer Ausbildung heutzutage nichts mehr erreichen kann, warum das eigene Kind kein BAföG bekommt oder mit 25 das dritte unbezahlte Praktikum machen muss.

Wenn wir wollen, dass Studium und berufliche Bildung in unserer Gesellschaft die gleiche Akzeptanz finden, dann sollten wir uns von der Differenzierung endlich lösen. In Zukunft wird beides wichtig sein und das eine bedingt das andere.

Ein Beispiel: Jemand, der eine Ausbildung zum Bäcker macht, einen großartigen Geschmackssinn hat und schon bald die leckersten Brötchen der Stadt backen wird, kann parallel einen Onlinekurs belegen und sich in Marketing und E‑Commerce schulen und schon bald seine Brötchen in ganz Deutschland vertreiben. Da wir eine allgemeine Vier-Tage-Woche eingeführt haben, nutzt er den Mittwoch immer, um sich seinem Hobby, der Philosophie zu widmen und wird schon bald dazu ein erstes Buch veröffentlichen, das viele Jahre später zum Bestseller werden wird.

Wir sollten also künftig nur noch von Talenten und Macher:innen sprechen. Das Studium für mehr Menschen zu öffnen, bleibt das wichtigste Ziel der angestrebten Bildungsgerechtigkeit. Allerdings sollte das nicht zu einer Abwertung von Handwerk oder Tüftlertum führen. Denn das Machen ist für unsere künftige Welt von herausragender Wichtigkeit. Entfaltung für unsere Kinder und Chancengleichheit für eine faire Gesellschaft, dies zu fördern ist Aufgabe der Schule und unseres Ausbildungssystems.

Leider ist der Bildungsbegriff derzeit stark ökonomisiert. Wir verbinden ihn mit der Möglichkeit zu standardisieren, zu kategorisieren, zu zertifizieren. Danach richten sich auch unsere Bildungseinrichtungen aus. In Gesellschaften, »die nicht vorrangig durch Religion zusammengehalten werden, stellt Bildung aber eine der wichtigsten Zutaten für den sozialen Kitt« dar (Richard David Precht). Denn sich bilden ist nicht nur etwas, das mit sich selbst ausgemacht wird, es geht dabei auch um die Frage, welche Rolle der Einzelne in der Gesellschaft spielen möchte. Bildung muss daher schlicht zum Herz der Sozialdemokratie werden.

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