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Sozialdemokratie in Europa 4.0

Als 1983 die neue Regierungskoalition aus Konservativen und Liberalen die Sozialdemokraten aus dem Amt drängte, beschrieb der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf in dem Buch Die Chancen der Krise: Über die Zukunft des Liberalismus die Situation folgendermaßen: »Wir erleben das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts in der OECD-Welt.« Seiner Meinung nach – und nach Meinung vieler anderer auch – hatte das Projekt der Sozialdemokratie die großen sozialen Fragen der Industrialisierung mutig beantwortet: Armut und soziale Ungleichheit wurden erfolgreich gemindert. »In gewisser Weise«, so Dahrendorf damals, »sind wir (fast) alle Sozialdemokraten geworden«.

Wir halten die grundlegenden Ideen der Sozialdemokratie inzwischen für selbstverständlich. So zum Beispiel das Rechtsstaatsprinzip oder die sozialen Sicherungssysteme im Krankheitsfall, im Alter oder im Fall der Arbeitslosigkeit. Trotzdem, so Dahrendorf weiter, reichten die grundlegenden Themen und Versprechungen der Sozialdemokratie – Wachstum, Arbeit, Gleichheit, Vernunft, Rechtsstaatlichkeit und Internationalismus – nicht mehr aus. Die Sozialdemokratie hätte keine Antworten auf die Fragen des 21. Jahrhunderts: Ökonomisches Wachstum und Arbeitsmöglichkeiten seien an ihre Grenzen gestoßen, mehr Gleichheit wäre nicht mehr finanzierbar, religiöse und andere nicht-rationale Überzeugungen hätten sich wieder in den Vordergrund gedrängt. Der Staat hätte systemisch versagt und der Nationalismus sei wieder zurückgekehrt. Der Liberalismus erschien hier als die passende Antwort: Das Versprechen von Selbstbestimmung, individueller Verantwortung und Freizügigkeit. Im Rückblick wissen wir, dass bekennende Neoliberale, insbesondere Wirtschaftswissenschaftler, diese vagen Annahmen und Visionen in eine fundamentalistische Ideologie der freien Märkte und der Deregulierung von Arbeit und Kapital ummünzten.

Heute sind wir Zeugen eines erneuten Einläutens des Endes der Sozialdemokratie. Sozialdemokratische Parteien haben in fast allen europäischen Ländern empfindliche Niederlagen hinnehmen müssen, vor allem in Polen, Spanien, Deutschland und Griechenland, bis vor Kurzem noch auch in Großbritannien. Linke Parteien müssen sogar in Skandinavien ums Überleben kämpfen. Eine im April 2016 im Economist veröffentlichte Studie zeigt, dass sich der Rückhalt für sozialdemokratische Parteien in Westeuropa auf dem niedrigsten Stand seit 70 Jahren befindet. Am dramatischsten sah man das im Falle Frankreichs, was den amerikanischen Journalisten James Angelos in The New York Times vom 24. Januar 2017 zu der Frage veranlasste: »Beginnt in Frankreich das Totengeläut für die Sozialdemokratie?« Und, um seinen düsteren Ausblick noch zu betonen: »Frankreich ist ein Gründungsmitglied der EU und mit ihr wirtschaftlich und politisch sehr viel stärker verbunden als Großbritannien. Während der Brexit ein Hieb ins Gesicht der EU war, würde der Austritt Frankreichs wohl ihr Ende bedeuten.«

Wir glauben, dass Dahrendorf in seiner Analyse sowohl richtig als auch falsch lag: Er hatte recht hinsichtlich seiner Vision, dass im neuen Jahrtausend ein größeres Augenmerk auf die individuelle, die lokale und regionale Selbstbestimmung gelegt werden muss. Aber er lag falsch in der Annahme, dass die »soziale Frage« endgültig geklärt sei.

Die missliche Lage der Sozialdemokratie liegt darin, noch keine Antworten auf die »neuen sozialen Fragen« gefunden zu haben, die sich im Maschinenzeitalter der »Industrie 4.0« stellen. Wie auch beim »alten« Projekt der Sozialdemokratie müssen die Antworten hier auf eigenen Füßen stehen: auf soliden demokratischen Institutionen und verlässlicher sozialer Gerechtigkeit. Die demokratischen Institutionen müssen weiterentwickelt werden, im Speziellen auf der Ebene der Europäischen Union. Nur eine gerechte Risikoteilung und stabile soziale Sicherungssysteme können in dieser wirtschaftlich globalisierten und zunehmend vernetzten Wissensgesellschaft des neuen Jahrtausends die Basis für eine (inter-)nationale Zusammenarbeit bilden.

Demokratiedefizit

Wir wollen mit den Problemen auf institutioneller Ebene beginnen. Die EU leidet aktuell an einem dreifachen Demokratiedefizit.

Erstens: Die EU wurde hauptsächlich in der Logik freier Märkte und eines offenen Wettbewerbs entworfen, basierend auf diesen vier Grundfreiheiten: freier Warenverkehr sowie Freizügigkeit in den Bereichen Arbeit, Dienstleistungen und Kapital. Die zentrale Macht liegt nicht bei der Politik, sondern bei der Judikativen, hauptsächlich beim Europäischen Gerichtshof (EuGH). Der EuGH hatte in den 60er Jahren durch ein putschähnliches Vorgehen die Vorherrschaft des europäischen Rechts eingesetzt. Er trieb die neoliberale Agenda voran, indem er Marktgrenzen abbaute und nationale Tarifverträge aushebelte (»Negative Integration«). Mit ein paar Ausnahmen, speziell im Bereich der Geschlechtergleichheit, achteten die Europäische Kommission und der EuGH kaum auf die sozialen Folgen dieser neuen Freiheiten: Lohn- und Einkommensgleichheiten sowie Ungleichheiten bei den Kapitalvermögen. Eine »positive Integration«, z. B. in der Entwicklung gemeinsamer Sozialstandards, sozialer Absicherung, fairer Verteilung von Einkommen und Wohlstand, wurde, hauptsächlich aufgrund der geringen legislativen Kompetenzen des Europäischen Parlaments, weitgehend vernachlässigt.

Zweitens: Die EU hat kein echtes Budget, weder vom Volumen her (es beträgt 1 % des EU-Bruttoinlandsprodukts) noch im politischen Sinne. Die Mitgliedsstaaten bringen einen proportionalen Beitrag ein, und die EU gibt dieses Geld hauptsächlich für Landwirtschaftssubventionen aus (37 % des Budgets von 2017) und versucht darüber hinaus, regionale Ungleichheiten auszugleichen (»Kohäsion«) oder »smartes« und »inklusives« Wachstum zu fördern. Die Liberalisierung von Kapitalflüssen und Finanzmärkten förderte nachhaltig die Mobilität von Kapital und führte zu »regulativer Arbitrage« (dem Ausnutzen steuerlicher und regulativer Unterschiede zwischen den Ländern) und somit auch zu finanzpolitischem Wettbewerb zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. Dieser Prozess startete einen Steuersenkungswettlauf und beförderte die Sparpolitik anstelle der Investitionen in Infrastruktur und vernünftige soziale Minimalstandards.

Drittens: Dem Euro als Gemeinschaftswährung fehlen die Souveränitätsattribute, die einen tatsächlichen gemeinsamen wirtschaftlichen und sozialen Raum ermöglichen würden. Trotz aller Bemühungen der Europäischen Zentralbank (mit ihrer fragwürdigen demokratischen Legitimation und fehlendem Mandat hinsichtlich Beschäftigung und Arbeitslosigkeit), hat der Euro zu einem wirtschaftlichen Auseinanderdriften der Mitgliedsstaaten geführt, v. a. zu einer Spaltung zwischen dem Süden und dem Norden, anstatt für eine wirtschaftliche Annäherung zu sorgen. Das BIP pro Kopf ist beispielsweise in Deutschland zwischen 2005 und 2014 um 13,3 % gestiegen, während es im gleichen Zeitraum in Griechenland um 18,6 % gefallen ist. Des Weiteren hat der Mangel an politischer Kontrolle (speziell im Bankensektor) die Investitionen in renditeträchtige Anlagen vorangetrieben (Beispiel Immobilienblase) anstatt Geld in gemeinsam ausgewählte und wichtige europäische Sachinvestitionen zu bringen. Auch der kürzlich aufgetauchte Silberstreif am Horizont – ein Wachstum von 1,6 % in der Eurozone in 2016 (stärker als in den USA) – kann die dadurch entstandene Lücke nicht füllen.

Uneingelöstes Versprechen von sozialer Konvergenz

Das »soziale Europa« bleibt weiterhin schwach und optional, es stellt den Mitgliedsstaaten frei, eigene Sozialsysteme zu entwickeln, was ständig zum Risiko eines Wettbewerbs um sinkende statt anwachsende Sozialstandards führt. Trotz des Versprechens von sozialer Konvergenz sind folgende düsteren Tatsachen nicht zu übersehen:

Erstens: Das spärliche Wirtschaftswachstum hat nicht zu einem Boom auf dem Arbeitsmarkt geführt. Europa ist immer noch weit vom selbstgesetzten Ziel einer Beschäftigungsquote von 75 % bis 2020 entfernt. Von 2005 bis 2015 stieg die EU-weite Erwerbstätigenquote von 67,9 auf gerade mal 70,1 %; in Griechenland fiel sie sogar von 64,4 auf 54,9 %. Zusätzlich besteht nach wie vor ein großer Geschlechterunterschied: Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt unterrepräsentiert. Männer haben eine Erwerbstätigenrate von 75,9 %, Frauen von lediglich 64,3 %. Des Weiteren sind viele der neuen Jobs befristet, in Teilzeit oder (schein-)selbstständig, geben kaum soziale Sicherheit oder eine Langzeitperspektive. Bei diesen unsicheren Jobs sind Frauen wiederum stark überrepräsentiert.

Zweitens: Zeitweise lag die Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ländern bei unglaublichen 50 %. In Griechenland, Italien und Spanien beträgt sie noch immer über 40 %. Auch die sogenannte NEET-Rate bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Not in Employment, Education or Training; auf Deutsch: weder in Ausbildung, Arbeit oder Schulung) stieg in Griechenland auf fast 25 %.

Drittens: Der Anteil der Menschen, die mit einem Armutsrisiko und in Exklusion leben, betrug auf ihren Höhepunkt 2012 24,7 % und lag 2015 immer noch auf dem Niveau von 2010 (23,7 %). Anders gesagt, fast ein Viertel der Menschen in Europa leben in einem Haushalt, dem weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens zur Verfügung steht, in einem Haushalt mit materieller Deprivation oder niedriger Erwerbsintensität. Dem Versprechen der »Strategie Europa 2020« 20 Millionen Europäer aus der Armut zu führen (das wären 20 % von etwa 100 Millionen, die unterhalb der Armutsrisikogrenze leben) steht entgegen, dass die Zahl dieser Menschen zwischenzeitlich sogar um 5 Millionen angestiegen ist. Außerdem hat sich die Einkommensverteilung verschlechtert: Während 2005 die oberen 20 % der EU-Bürger ein fünfmal so hohes Einkommen wie die unteren 20 % hatten, hat sich dieser Faktor leicht auf das 5,2-fache erhöht. Einen besonderen Beigeschmack hat die Tatsache, dass der Anstieg der Einkommensungleichheit besonders in den reicheren Staaten, allen voran Deutschland, stattgefunden hat. Insgesamt gesehen – und das kann vielleicht als weiterer Silberstreif am europäischen Horizont gedeutet werden – tendiert die Ungleichheit zwischen den Mitgliedsstaaten dazu abzunehmen, während aber die Ungleichheit innerhalb der meisten Ländern steigt.

Hat die Sozialdemokratie (SD) in diesem rauen Klima noch eine Chance? Wir glauben, dass sie diese hat und, was viel wichtiger ist, wir sehen es als unsere Aufgabe an, uns gegen all die Kassandrarufe zu stellen (wie bereits am Anfang erwähnt) und uns gegen den aufkommenden Populismus und Nationalismus zu vereinen. Die Ideale der SD bestanden immer darin, sozialer Exklusion entgegenzutreten, durch den Kampf für bürgerliche Partizipation und durch die Errichtung verlässlicher Institutionen zur fairen Risikoteilung und Solidarität gegenüber Benachteiligten; darüber hinaus nahm sie immer eine proaktive Haltung gegenüber der Globalisierung ein und legte starken Wert auf internationale Zusammenarbeit entgegen protektionistischem Nationalismus. Wir sollten das Projekt eines europäischen Sozialmodells nicht aufgeben und wir werden es auch nicht.

Wir möchten auch betonen, dass die Ideale der SD unterschiedliche Formen des politischen Wirkens annehmen können. Es kann die Form einer politischen Partei sein (wie die SPD in Deutschland), die Form eines sozial-politischen Systems (wie beispielsweise in den skandinavischen Ländern), oder die Form einer politischen Philosophie der sozialen Gerechtigkeit (so bei John Rawls oder Amartya Sen). Im Sinne dieser Tradition schlagen wir vor, dass die SD ein generalisierteres Konzept von Demokratie als bisher im Fokus haben sollte, das nicht nur Bürger und Wähler, sondern darüber hinaus auch Arbeiter, Betriebe und Kommunen in den Blick nimmt. Der soziale Dialog sollte bei Arbeit, Entlohnung und sozialer Sicherung eine zentrale Rolle spielen und in diesen vier Hauptbereichen berücksichtigt werden: in der Information bezüglich Arbeitsbedingungen und Karrierechancen; in Verhandlungen auf jeder Ebene bezüglich Lohn, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen; in der dezentralen Organisation sozialer Sicherungssysteme mit besonderem Augenmerk auf der Inklusion benachteiligter Gruppen; und, nicht zuletzt, in der Mitbestimmung in (vor allem großen) Unternehmen, um es Arbeitnehmervertretern möglich zu machen, bei wichtigen Entscheidungen der Unternehmensführung mitzuwirken, wenn angebracht auch in Form einer Teilhaberschaft am Unternehmen.

Wie bereits erwähnt, stellen sich aufgrund neuer Formen der Arbeit auch neue Herausforderungen. Der klassische Fabrikarbeiter verschwindet, neue Typen des Arbeiters treten auf (hauptsächlich im Dienstleistungssektor, viele davon prekär) und es stellen sich neue Fragen in neuen Themenfeldern: Lebensqualität, Geschlechtergleichheit, Umweltschutz, Mobilität, Kampf gegen Diskriminierung, neue Familien- und Karriereformen. Als Antwort auf diese neue Arbeitswelt braucht die SD einen Modernisierungsschub, gerade im Hinblick auf die vielen innovativen aber oft zu halbherzig und schüchtern umgesetzten Initiativen in einigen EU-Staaten, um mehr Individualität im Arbeitsleben und in der Karriere zu ermöglichen: durch personalisierte Aktivitäts- oder Bildungskonten, erweiterte Wahlmöglichkeiten (Ziehungsrechte, Arbeitszeitsouveränität) oder Eingliederungspläne für behinderte Menschen am Arbeitsplatz (Inklusion).

Wir befinden uns am Vorabend einer neuen industriellen Revolution, oft als »Industrie 4.0« bezeichnet. Nach Dampf und Strom war seit den 80er Jahren die Automatisierungstechnik vorherrschend. Jetzt sehen wir die Entwicklung hin zu verbundenen intelligenten Maschinen. Neben der reinen Existenz von Robotern bedeutet die Computerisierung vor allem die Kontrolle physischer Objekte durch Netzwerke. Es entsteht eine neue Art der Kommunikation zwischen Werkzeugen und integrierter Arbeit. Diese ferngesteuerte Arbeit geht Hand in Hand mit einem Dialog zwischen Konsument und Produzent, zwischen Logistik und Arbeitsorganisation.

Während über die Konsequenzen dieser Entwicklung viel debattiert wird, besteht kein Zweifel daran, dass sie sowohl Herausforderung als auch Chance für die Sozialdemokratie in der EU bedeuten können. Herausforderung deshalb, weil diese Entwicklung den Zusammenhalt der EU weiter gefährden könnte: Einige Länder werden hier hinterherhinken, während sich andere schnell an die neuen Bedingungen anpassen werden. Aber sie ist eben auch eine Chance, weil jenseits der Nationalstaaten viel neuer Raum für soziale und politische Innovation und Entwicklung entstehen wird.

Wir sind davon überzeugt, dass die Sozialdemokratie als europäische Sozialdemokratie nur überleben kann, wenn sie die folgenden Strategien beherzigt: 1. Unterstützung von Plänen oder Vorschlägen zur Schaffung echter europäischer Fiskalkapazitäten zur Innovationsförderung, zur fairen Umverteilung und für eine neue umweltfreundliche Produktionsgestaltung; 2. Unterstützung der EU-Kommission und des EU-Parlaments in ihren Bemühungen eine starke Säule der sozialen Rechte in die EU-Verträge aufzunehmen, mit Schwerpunkt auf Mindestlohn und Weiterbildung (skill guarantee); 3. Förderung der Demokratie in Unternehmen sowie auf lokaler und regionaler Ebene; 4. Verstärkung des kosmopolitischen europäischen Selbstverständnisses als Impulsgeber für eine globale Sozialpolitik.

(Übersetzung aus dem Englischen: Julian Heidenreich.)

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