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Geschichte und Gegenwart eines ambivalenten Verhältnisses Sozialdemokratie und Heimat

Als Nancy Faeser im Mai 2022 die positive Umdeutung des Heimatbegriffs forderte, um den »gesellschaftlichen Zusammenhalt« zu stärken, löste sie eine kontroverse Debatte aus. Dabei ging es nicht in erster Linie um die Frage, ob sich die Sozialdemokratie positiv auf Heimat berufen solle. Stattdessen warfen Kritiker der Bundesministerin des Inneren und für Heimat vor, ihr Plädoyer für ein plurales und offenes Begriffsverständnis ignoriere die bereits existierenden positiven Heimatvorstellungen in der Bevölkerung und wolle dieser ein staatlich vorgegebenes Heimatverständnis oktroyieren.

Diese Momentaufnahme steht beispielhaft für zwei gegenwärtige Entwicklungen. Zum einen ist insbesondere seit Mitte der Zehnerjahre eine parteiübergreifende Aufwertung des Heimatbegriffs zu verzeichnen, die mit einer als zunehmend krisenhaft erfahrenen Gegenwart koinzidiert. Ein Kulminationspunkt dieser Entwicklung war die vielfach kritisierte Umbenennung des Innenministeriums in Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat durch Horst Seehofer 2018. Faeser hielt daran unter veränderter Ausrichtung fest, wodurch Heimat als gleichermaßen geteilter wie umstrittener Bezugspunkt der politischen Debatte sichtbar wird.

Auffallender Bedeutungszuwachs

Eng damit zusammenhängend, lässt sich zum anderen auch über die Episode hinaus in der SPD ein auffallender Bedeutungszuwachs des Heimatbegriffs feststellen. 2017 forderte beispielsweise Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit, Heimat »nicht den Nationalisten [zu] überlassen«. Heimat beziehe sich nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft, sei kein spaltender, sondern ein integrierender Begriff. Heimat sei »der Ort, den wir als Gesellschaft erst schaffen«. In ähnlicher Weise plädierte Wolfgang Thierse 2018 in dieser Zeitschrift dafür, Heimat als »politische Aufgabe der Beheimatung« zu begreifen. So verstanden, verwahre sich Heimat gegen »alles Starre, Konservative, Reaktionäre« und sei »weder sozial noch ethnisch noch religiös exklusiv«. Nicht zuletzt zeigt sich diese Entwicklung daran, dass der SPD-Parteivorstand 2019 im Nachgang des SPD-Debattencamps festhielt, es gelte »den Diskurs über den Begriff Heimat zurückzuerobern« und »ein einladendes Verständnis von Heimat« zu entwickeln, das Ansporn und Resultat sozialdemokratischer Politik sein müsse.

»Der sozialdemokratische Heimatbegriff soll eine Vorstellung von gesellschaftlicher Kohäsion zum Ausdruck bringen.«

Im gegenwärtigen sozialdemokratischen Diskurs stehen sich also die Vorstellung eines schlechten nationalistischen und eines guten progressiven Heimatverständnisses gegenüber. Zwar bezieht sich auch der sozialdemokratische Heimatbegriff auf die Nation. Sigmar Gabriels Eintreten für eine verstärkte sozialdemokratische Auseinandersetzung mit den Konzepten »Heimat« und »Leitkultur« in einem Gastbeitrag für den Spiegel im Dezember 2017 macht dies besonders deutlich. Die SPD beansprucht jedoch, den nationalen Raum auf andere Weise zu gestalten und verknüpft Heimat eng mit sozialpolitischen Forderungen, etwa nach Bildungsgerechtigkeit oder bezahlbarem Wohnen. Betont werden dabei in der Regel zudem der offene Charakter und die Zukunftsorientierung des Begriffs. Auf diese Weise soll Heimat eine nicht-exklusive Vorstellung von gesellschaftlicher Kohäsion zum Ausdruck bringen.

Wie ist die gegenwärtige sozialdemokratische Heimatemphase einzuordnen? Dazu lohnt sich ein Blick in die Geschichte der Arbeiterbewegung. Denn anders als oftmals angenommen, beginnt die sozialdemokratische Beschäftigung mit Heimat nicht erst in jüngerer Zeit. Wie ich in meinen Forschungen zu dieser vergessenen Geschichte zeigen konnte, wird seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Sozialdemokratie darüber gestritten, ob sich der Begriff als Bezugspunkt für die eigene Theorie und Praxis eigne. Zwei Lager lassen sich grob unterscheiden: eines, dass Heimat als per se konservativ-nationalistischen Begriff ablehnte, sowie ein anderes, dass eine sozialdemokratische Aneignung des Begriffs für möglich hielt. Dabei changierte das sozialdemokratische Heimatverständnis im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zwischen einem sozialistischen Zukunftsversprechen und einer herkunftsbezogenen Orientierung an Region und Nation.

Insbesondere bis zur Jahrhundertwende war die Geschichte der sozialdemokratischen Bezugnahme auf Heimat vor allem eine Geschichte der Abgrenzung und Neuinterpretation. Kurz nach der Reichsgründung setzte beispielsweise Wilhelm Liebknecht dem nationalistischen Heimatverständnis der bürgerlichen Parteien die Vorstellung eines »ubi bene ibi patria« entgegen. Die Heimat der Arbeiterbewegung verortete er dort, »wo es uns wohl geht, d.h. wo wir Menschen sein können«. Diese internationalistische Ausrichtung schloss positive Bezüge auf die Nation nicht unbedingt aus; es handelte sich dabei jedoch stets um die Vorstellung einer bürgerlich unrechtmäßig okkupierten Nation, die erst noch in den Besitz der Arbeiterschaft überzugehen habe.

Vorstellung einer solidarischen »Heimat Arbeiterbewegung«

Angesichts politischer und ökonomischer Exklusionserfahrungen bildete sich die Vorstellung einer solidarischen »Heimat Arbeiterbewegung« heraus, die die Härten des Alltags auffangen sollte, bis die eigentliche Heimat erreicht sein würde: die sozialistische Heimat der Zukunft. Ein solches Verständnis basierte auf den vormodernen ökonomischen und rechtlichen Bedeutungsgehalten des Heimatbegriffs: Das Heimatrecht regelte mittels der stabilen Zugehörigkeit zu einer Gemeinde die Armenfürsorge.

Da sich die Arbeiterschaft zu fortwährender Mobilität gezwungen sah, ging Besitzlosigkeit nicht selten mit Heimatlosigkeit einher. Im sozialdemokratischen Verständnis waren die Arbeiterinnen und Arbeiter im Kapitalismus deshalb gewissermaßen heimatlos geworden. Diese Heimatlosigkeit war jedoch nicht nur zu beklagen, sondern bildete gleichzeitig die Voraussetzung für die veränderte sozialistische Heimat der Zukunft. Mit einer solchen Argumentation begegnete die Sozialdemokratie auch bürgerlich-konservativen Fremdzuschreibungen, die alle Übel der modernen Gesellschaft auf die Arbeiterschaft projizierten und sie als »heimat- und vaterlandslose Gesellen« zu verunglimpfen trachteten.

»Heimat konstituierte sich nicht in erster Linie durch gemeinsame nationale Herkunft, sondern durch solidarische Beziehungen.«

Dem sozialdemokratischen Heimatverständnis kam im Kaiserreich folglich eine ausgeprägte Zukunftsorientierung zu. Heimat konstituierte sich nicht in erster Linie durch gemeinsame nationale Herkunft, sondern durch solidarische Beziehungen zwischen Menschen. In diesem Sinne plädierte die Sozialdemokratie dafür, die Welt durch gemeinsame Praxis zu einer Heimat – verstanden im Sinne ökonomisch und sozial sicherer Lebens- und Arbeitsverhältnisse – zu machen.

Diese spezifisch sozialistischen Konnotationen des Heimatbegriffs blieben auch in der Weimarer Republik erhalten. Zugleich näherte sich das sozialdemokratische dem bürgerlichen Heimatverständnis zunehmend an und erlebte seine eigentliche Hochphase. Insbesondere zwei Gründe lassen sich hierfür festhalten: Zum einen führte der Erste Weltkrieg zu einer Nationalisierung auch des sozialdemokratischen Heimatdiskurses. Zum anderen lokalisierten führende Sozialdemokraten wie Friedrich Ebert Heimat nach der Novemberrevolution zunehmend in den demokratisierten politischen Räumen der Gegenwart. Da die Nation in den Besitz des Volkes übergegangen sei, müsse die Gestaltung von Heimat nunmehr als Gegenwartsaufgabe begriffen werden. Diese Veränderungen betrafen insbesondere den reformorientierten Teil, während der abgespaltene weiter linksstehende Flügel Heimat weiterhin in der Zukunft verortete.

Parteipolitisch umkämpfter Bezugspunkt

Als Regierungspartei versuchte die SPD mittels eines demokratisierten Heimatverständnisses ein überparteiliches republikanisches Integrationsangebot zu formulieren und die Republik durch eigene Formen der heimatbezogenen Kulturpolitik, etwa demokratische Heimatgeschichte und Heimatkunde, auch in der Region zu verankern. Ähnlich wie heute versuchte sie also, mittels eines demokratisierten Begriffsverständnisses gesellschaftlichen Konsens zu stiften. Doch ein solches Vorhaben blieb ohne langfristigen Erfolg. Gegen Ende der Weimarer Republik avancierte Heimat zu einem parteipolitisch zunehmend umkämpften Bezugspunkt. Immer deutlicher trat hervor, dass verschiedene Parteien und Milieus divergierende, mitunter konträre Gesellschaftsvorstellungen mit dem Begriff verknüpften.

»Auch in der SPD implizierte der Rückgriff auf Heimat oftmals eine tendenziell mythologisierende Sicht auf die gesellschaftlichen Krisenphänomene.«

Das bedeutete letztlich, dass der als Integrationsvokabel verwendete Heimatbegriff das Gegenteil von Integration nach sich zog. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Heimat zwar Einheit und Klarheit suggerierte, aber eigentlich mit zutiefst ambivalenten und unreflektierten Deutungen und Erwartungen aufgeladen war. Auch in der SPD implizierte der Rückgriff auf Heimat oftmals eine tendenziell mythologisierende Sicht auf die gesellschaftlichen Krisenphänomene, anstelle einer theoretisch und politisch versierten Analyse derselben. Die mit dem Begriff explizit oder implizit verbundene Sehnsucht nach einer zukünftigen Gesellschaft frei von Not oder Konflikten, erfüllte sich nicht; sie konnte in der weiterhin kapitalistischen Gesellschaft der Weimarer Republik auch nicht voll­ends erfüllt werden.

Die mit Heimat benannten gesellschaftlichen Konfliktlinien ließen sich auf diese Weise nicht lösen, sondern wurden nunmehr über den Kampf um den Begriff ausgetragen. Die Durchsetzung des nationalsozialistischen Heimatverständnisses, das auf einer Blut-und-Boden-Ideologie und Antisemitismus beruhte, beendete diese Debatten. Die sozialdemokratische Suche nach einer demokratischen, nicht-exklusiven Heimat ließ sich in Deutschland nicht mehr fortsetzen. Doch auch die Sozialdemokratie hatte sich über ihre Bezugnahme auf Heimat verändert: Selbst manche ihrer ehemaligen Anhänger konnten dem nationalsozialistischen Heimatverständnis, das sich positiv auf das »werktätige Volk« bezog, etwas abgewinnen. Nicht alle Sozialdemokraten hielten also am eigenen Heimatbegriff fest.

»Internationalismus und sozialistische Zukunftsorientierung spielen im aktuellen Heimatverständnis der SPD kaum noch eine Rolle.«

Geschichte und Gegenwart des sozialdemokratischen Heimatdiskurses weisen wichtige Unterschiede auf. Internationalismus und sozialistische Zukunftsorientierung spielen im aktuellen Heimatverständnis der SPD kaum noch eine Rolle. Auch unterscheidet sich unsere politische Gegenwart trotz zahlreicher Krisenphänomene in wesentlichen Punkten von der Endphase der Weimarer Republik. Zugleich lässt sich jedoch eine wichtige Gemeinsamkeit festhalten: Sowohl in der Weimarer Republik als auch heute argumentiert die SPD für die Aneignung von Heimat, um auf diese Weise »gesellschaftlichen Zusammenhalt« herzustellen. Doch wer für eine solche Umdeutung des Heimatbegriffs eintritt, sollte sich keinen Illusionen hingeben: Heimat verweist als politisch geführter Diskurs auf die tatsächliche oder zumindest wahrgenommene Krisenhaftigkeit aktueller Vergesellschaftung, lässt sich mithin nicht beliebig definieren.

Die Geschichte des Heimatdiskurses in der Weimarer Republik lässt es fraglich erscheinen, gesellschaftliche Herausforderungen auf eine solche Weise sistieren oder gar lösen zu können. Stattdessen besteht die Gefahr, dass diese Herausforderungen über die Frage nach Begriffsdefinitionen mehr oder weniger bewusstlos verhandelt werden, womit eine zunehmende parteipolitische Politisierung des Begriffs einhergeht.

Wie in der Weimarer Republik beschwören auch heute verschiedene Parteien mittels des Heimatbegriffs gesellschaftliche Einheit, verstehen darunter jedoch Unterschiedliches. Gesellschaftliche Kohäsion lässt sich nicht über Begriffe herstellen. Vielversprechender erscheint es, dem Bedürfnis nach Einheit und gesellschaftlicher Identität, der Politik auf Grundlage emotional aufgeladener Begriffe, eine theoretisch präzise und sachlich nüchterne Analyse der politischen Gegenwart entgegenzuhalten.

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