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Warum die SPD (noch?) nicht von der Wechselstimmung profitieren kann Sozialdemokratische Dilemmata

Die Situation der SPD und ihrer Chancen im Bundestagswahlkampf 2021 ist von der Gleichzeitigkeit dreier Dilemmata gekennzeichnet, die grundlegenden Wandlungsprozessen, aber auch der Corona-Pandemie geschuldet sind. In der Lage der Sozialdemokratie spiegelt sich der Zustand der Gesellschaft und der Demokratie in Deutschland insgesamt. Es ist eine Entwicklung, die auch die Unionsparteien erreicht hat, jedoch noch nicht in der Tragweite wie die SPD. Und: Die SPD hat ihren Anteil an diesem Wandel.

Dilemma 1: Wechselstimmung richtet sich gegen die SPD

Seit Beginn des Jahres deutete es sich in Umfragen bereits an und wurde im Mai durch die Befunde einer Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Bertelsmann Stiftung bestätigt: Es gibt eine Wechselstimmung zur Bundestagswahl, die von Anhängerinnen und Anhängern aller Parteien getragen wird. Nur unter den Befragten, die den Unionsparteien zuneigen, ist die Wechselstimmung eher verhalten. Interessant an der Befragung ist, dass es nicht vorrangig um neue Farbenspiele in der Regierungskonstellation, sondern um einen inhaltlichen Politikwechsel geht. Und hier wird es differenzierter und kompliziert: Es gibt kein einhelliges Ranking von politischen Themen, bei denen sich etwas ändern soll. Befragte in Ostdeutschland setzen andere Prioritäten als die in Westdeutschland, Frauen unterscheiden sich von Männern oder die Befragten differenzieren sich nach Alter und Parteineigung. Unter der SPD-Anhängerschaft – und nur unter dieser – steht mit fast 61 % die Anti-Corona-Politik in der Kritik und damit auf Platz 1 der Prioritätenliste. »Umwelt- und Klimaschutz« rangiert zwar mit Platz 3 relativ hoch auf der Liste der politischen Themen, bei denen ein Politikwechsel gewünscht ist. Jedoch sind es zusammengenommen in erster Linie sozialstaatliche Themen, die mehrheitlich bei den Befragten mit Neigung zur SPD auf dem Prüfstand stehen. In der Reihenfolge ihrer Relevanz sind es »Rente«, »Soziales, soziale Absicherung«, »Wohnen, Wohnungsmarkt«, »Bildung« und »Gesundheit«. Eine vergleichbare Priorisierung ist bei keiner der anderen pro-demokratischen Parteien zu finden: weder bei der Linkspartei, bei Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU oder bei der FDP. Diese Befunde sind sowohl eine gute als auch eine schlechte Nachricht für die SPD. So sprechen diese sozialstaatlichen Themen die Kernkompetenz der Sozialdemokratie an, sie sind Gegenstand der Wahlkampagne von Olaf Scholz und des Sozialstaatskonzepts der SPD, das im Dezember 2019 auf einem Bundesparteitag verabschiedet wurde. Dies müsste der SPD in die Hände spielen – zumindest, was die eigene Anhängerschaft angeht. Dagegen steht ein großes Aber: Die SPD befindet sich seit 1998 mit einer Unterbrechung von nur vier Jahren in Regierungsverantwortung – erst als führende Partei und dann als Juniorpartnerin in der nicht mehr ganz so großen Großen Koalition. Die Forderung nach einem Politikwechsel richtet sich damit auch an die SPD als Trägerin der aktuellen Politik – oder genauer: gegen die SPD.

Hierin dürften durchaus Gründe liegen, wieso die SPD in diversen Umfragen (Stand Juni 2021) bei rund 15 % wie festgetackert erscheint. Sie erklären aber die Situation nicht hinreichend. Liegt es dann vielleicht eher an den Folgewirkungen der Agenda-Politik aus der Zeit der rot-grünen Koalition? Diese Erklärung griffe ebenfalls zu kurz. Analysen aus der Milieuforschung, wie die von Heiko Geiling und Michael Vester von der Universität Hannover, haben zwar durchaus gezeigt, dass die SPD einen Verlust an sozialem Vertrauen in ihren traditionellen sozialen Milieus erlebt hat. Gleichzeitig dokumentieren Umfragen aber, dass das Thema »soziale Gerechtigkeit« weiterhin mit der Partei verbunden blieb – zumindest bis 2017.

Dilemma 2: Die Sozialdemokratische Ära bleibt (noch) aus

Die Ergebnisse der Umfragen verweisen jedoch noch auf etwas anderes: Letztendlich wird keiner Partei im Parteiensystem eine klare Kompetenz in Fragen sozialer Gerechtigkeit zugewiesen. Und dies in einer Zeit, in der sich die sozialen und geschlechtlichen Ungleichheitsverhältnisse beim Zugang zu Bildung, Beruf, Einkommen, Gesundheit und Wohnen immer weiter verschärfen – und zwar nicht erst durch die Corona-Pandemie und die politischen Gegenmaßnahmen. Diese haben die ungleich verteilten Lebenslagenchancen allerdings ungeschminkt offengelegt und die Ungleichverteilung weiter dynamisiert. In der Struktur der hierarchisierten Geschlechterverhältnisse wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung und vom SPD-geführten Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) von einem Backsliding, also von Rückschritten gesprochen: Der »Gender Care Gap« hat sich wieder vertieft.

Die Zunahme ungleich verteilter Lebenslagenchancen, wie sie seit mehr als 20 Jahren mess- und spürbar ist, hätte erwarten lassen, dass die soziale Frage und Fragen nach Gleichstellung der Geschlechter in ihrer gegenwärtigen Struktur und Qualität von Interessenorganisationen, Protestbewegungen und Parteien vehementer auf die politische Agenda gehoben werden und eine sozialdemokratische Ära einläuten. Dem war aber nicht so, und es gelang auch nicht in der Corona-Pandemie. Dass das BMFSFJ nach dem Rücktritt von Franziska Giffey von der Justizministerin nur noch mit verwaltet wird, ist in diesem Kontext ein fatales, aber gleichzeitig symptomatisches Signal: Die Gleichberechtigung von Frauen – auch die Rechte von Kindern und alten Menschen in prekären Lebensverhältnissen – werden – so die Botschaft – nicht als relevant angesehen – auch nicht in der Pandemie.

Wieso sind die soziale Frage und Fragen nach Gleichstellung der Geschlechter so schwer politisierbar? Ist alles Folge neoliberaler Politik – auch der SPD in der Vergangenheit – und von Identitätspolitiken – auch in der SPD –, die den Blick auf grundlegende Ungleichheitsstrukturen versperren? Dies wäre eine verkürzte Erzählung. Neoliberales und meritokratisches, gar marktradikales Denken hat sich mittlerweile tief in die politische Kultur eingeschrieben. Der Siegeszug des Neoliberalismus, ob nun progressiv oder wie bei der AfD regressiv ausgerichtet, findet hier seinen Niederschlag. Hierauf verweisen Befunde aus den »Mitte-Studien« des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld, die regelmäßig im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt werden (soeben ist die neueste Ausgabe »Die geforderte Mitte« bei J.H.W. Dietz Nachf. erschienen). Dieses Denken wird hier als »marktförmiger Extremismus« bezeichnet. Das Statement »Wer nicht bereit ist, was Neues zu wagen, der ist selber schuld, wenn er scheitert« stieß in der Erhebung von 2016 auf Zustimmung bei fast Vierfünftel der Befragten und ist eng mit weiteren Merkmalen des »markförmigen Extremismus«, mit antidemokratischen Einstellungen und Präferenzen für die AfD verbunden. Hieraus mag sich erklären lassen, dass es schwer geworden ist, für eine egalitäre Politik zu mobilisieren. Es ist eine paradoxe Situation: Die SPD hat sich von ihrer Agenda-Politik distanziert und setzt wieder auf Regulierung und Intervention in Marktbeziehungen. Es fehlt ihr aber die politisch-kulturelle Unterstützung.

Dilemma 3: Der Wandel in die Mittelschichtsdemokratie

Es gab in der Geschichte der Bundesrepublik wohl kaum so viele Möglichkeiten, politisch zu partizipieren wie gegenwärtig. Und immer neue Formen der politischen Partizipation werden ersonnen und gefordert – mal »top down« (z. B. mehr Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene), mal »botton up« (z. B. mehr direkte Demokratie). Diese vielfältigen und neuen Möglichkeiten werden aber vor allem von höher Gebildeten genutzt. Und: Seit der Jahrtausendwende ist empirisch zu beobachten, wie sich soziale Ungleichheit zunehmend in politische Ungleichheit übersetzt und sich in sinkender Wahlbeteiligung auf Bundes- aber vor allem auf Länderebene dokumentiert. Wir erleben eine soziale Schließung bei politischen Teilhabechancen, die traditionelle Arbeitnehmermilieus der SPD trifft. Es ist ein Wandel, der mit Alexander Petring und Wolfgang Merkel als ein Wandel in die Zweidrittel- oder Mittelschichtdemokratie beschrieben werden kann. Er hat direkte Folgewirkung auf die politische Repräsentation gesellschaftlicher Interessen – auch durch die Schwäche von Interessenorganisationen wie den Gewerkschaften: Soziale und geschlechterpolitische Interessen höher gebildeter Mittelschichtmilieus sind dort wie auch in den Parteien und Parlamenten mittlerweile überrepräsentiert. Soziale Bewegungen als Trägerinnen von Emanzipationsbestrebungen sind gegenwärtig nicht in Sicht. Auch dies offenbarte sich in der Corona-Pandemie wie unter einem Brennglas. Dieser Wandel spielt vor allem den Grünen mit ihrer Programmatik in die Hände und erklärt u. a. ihre Stärke bei Wahlen und bei Umfragen in Westdeutschland nicht erst aktuell, sondern gleichfalls vor der Corona-Pandemie. Es zeigt sich also, dass es sich bei diesen Wahlerfolgen und bei den Umfragehochs der Grünen nicht um einmalige Effekte handelt, wie etwa nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011. Zudem sind sie Adressaten von Protestbewegungen aus höher gebildeten Mittelschichten wie »Fridays for Future«.

Bündnis 90/Die Grünen werden so zwar keine »Volkspartei«. Sie avancieren jedoch zu einer Mittelpartei zwischen 20 und 30 % Zustimmung, während CDU und SPD im Gegenzug zu solchen schrumpfen. In Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen tritt die antidemokratische, völkisch-nationalistische Partei AfD hinzu. Die Partei Die Linke ist eine solche Mittelpartei nur noch in Thüringen – in direkter Konkurrenz zu CDU und AfD. Die SPD ist hier nur eine kleine Partei – wie in Sachsen-Anhalt und Sachsen oder auch in Bayern und Baden-Württemberg.

Das Zeitalter der Volksparteien, oder präziser: der Massenintegrationsparteien, die das Parteiensystem tragen, scheint endgültig vorbei. Damit wäre auch das Narrativ der SPD überholt, eine Volkspartei zu sein oder wieder werden zu können.

Folgen für die Bundestagswahl

Die Gleichzeitigkeit der Dilemmata für die Sozialdemokratie ist kein Spezifikum in Deutschland, sondern ist in den meisten etablierten Demokratien Westeuropas zu beobachten. Sozialdemokratische und sozialistische Parteien sind teilweise »pulverisiert«, beispielsweise in Frankreich und Italien.

Gibt es einen Ausweg aus diesen Dilemmata? Mit Blick auf die Bundestagswahl könnte es schwierig werden, einen solchen zu finden. Es wäre allerdings Kaffeesatzleserei, aus Sonntagsfragen Schlüsse auf einen möglichen Ausgang der Wahl zu ziehen. Es können sich im Wahlkampf noch Dynamiken entfalten, die Stand Juni noch gar nicht absehbar sind. Sie können der SPD entgegenkommen oder sie weiter schwächen. In einer längerfristigen Perspektive gedacht, liegen die Chancen der Partei in einzelnen Bundesländern, in denen sie noch gegen den Bundestrend relativ stark ist und als regierungsführende Partei ihre gestalterische Kraft beweisen kann. So entscheidet am 26. September nicht allein die Bundestagswahl über die nähere Zukunft der Sozialdemokratie, sondern es entscheiden auch die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin – in Thüringen eher nicht – sowie die Kommunalwahl in Niedersachsen. Da all diese Wahlen gemeinsam mit der Bundestagswahl stattfinden, kann von einer höheren Wahlbeteiligung ausgegangen werden. Dadurch wird sich ein klareres Bild über den Zustand der Partei, aber auch des Parteiensystems insgesamt zeichnen lassen, und dies nicht nur mit Blick auf die Endergebnisse, sondern gleichfalls mit Blick auf die Struktur und die Wanderung der Wählerschaft. Ansonsten wird die SPD einen langen Atem brauchen und auf einen politisch-kulturellen Wandel hoffen müssen, um für mehr egalitäre Politik Rückhalt zu finden.

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