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Der große Wurf von Marc Saxer Soziale Demokratie – für eine Neuausrichtung der Debatte

Im deutschen Wahljahr 2021 sind nun erstmals seit anderthalb Jahrzehnten die Karten für eine Bundestagswahl wirklich neu gemischt. Die entpolitisierende Beruhigungssuggestion der guten Landesmutter Angela Merkel, die alle Konkurrenz mit der Lockung »Sie kennen mich« ja von vorherein auf die Plätze verwies, entfällt nun als Einflussfaktor. Neue Kandidaten haben die Arena betreten, die sich in ihrem Profil, Stil und politischen Hintergrund deutlich voneinander unterscheiden. Noch ist offen, ob der Versuch des CDU-Kandidaten Armin Laschet gelingt, nun seinerseits in das Kostüm der Kanzlerin zu schlüpfen und deren Erfolgsrolle als eine Art männlicher Merkel über den Schlussvorhang hinaus weiterzuspielen. Es ist auch offen, ob es der dafür anfällige Teil der Mainstreammedien schafft, seine bislang so hingebungsvoll nach oben geschriebene Favoritin Annalena Baerbock nun zugunsten hoch bleibender Nachrichtenwerte auch wieder in den Keller zu schreiben. Olaf Scholz hat nach seinen erfolgreichen Hamburger Regierungsjahren schon während der Corona-Krise mit zahlreichen Beispielen gelungener sozialdemokratischer Politik seine Tauglichkeit als Kanzler unter Beweis gestellt. Anfang Juni nun wurde seine ansehnliche Bilanz auch noch mit dem seit Langem herbeigesehnten Erfolg des G7-Beschlusses über eine globale Mindestbesteuerung der großen internationalen Konzerne gekrönt. Er ist gewiss ein glaubwürdiger sozialdemokratischer Kanzlerkandidat und seine Partei trifft mit dem von ihm inspirierten Leitmotiv »Respekt« in vielen der anstehenden Fragen den Nerv einer sozialdemokratischen Reformpolitik nach Corona. Allerdings bleibt nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt vom Juni die Frage völlig offen, ob die SPD ihre neuen Chancen zur Rückgewinnung politischer Offensivkraft für die Bundestagswahl auch wird nutzen können.

Als Bedingung dafür ist in den letzten Jahren innerhalb und außerhalb der Sozialdemokratie immer wieder angemahnt worden, dass sie für eine nachhaltige Erholung vor allem ein neues »Narrativ«, eine gewinnende politische Reformerzählung brauche. Eine Erzählung, in deren Bild von der Welt, in der wir leben, sich die große Mehrheit des Landes wiederkennt und deren Ideen für die dauerhafte Überwindung der großen Krisen, die uns verunsichern, bei einer deutlichen Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger über unterschiedliche Milieu- und Klassenzugehörigkeiten hinweg Gehör und Vertrauen finden. Eine solche Erzählung sollte vor allem auch zeigen, wie sich die tagespolitischen Reformschritte von heute zu einer Erneuerung des Ganzen zusammenfügen, die den allermeisten Menschen wünschenswert erscheint. Eine überzeugende Antwort – im Rahmen des in dieser Hinsicht Möglichen – auf diese Heraufforderung gibt das kürzlich erschienene, ideenreiche Buch von Marc Saxer: Transformativer Realismus. Zur Überwindung der Systemkrise. Es ist dem Autor in durchaus überraschendem Maß gelungen, für die seit mehr als einem Jahrzehnt intensiv geführte Debatte zum Doppelthema Krise der Gesellschaft und Krise der Sozialdemokratie mit ihrer nahezu fast unüberschaubaren Zahl an Publikationen einen originellen Beitrag zu leisten, indem er mehrere ihrer losen Enden konstruktiv zusammenführt und vor allem Verbindungen und Brücken baut, wo andere in der Heftigkeit bloßer Polemik stecken geblieben sind.

Reformprojekte und Lebenswelten verlinken

Der Begriff Transformation im Titel des Buches bezieht sich auf eine umfassende Kernsanierung unserer Gesellschaft, mit der es gelingen kann, die seit Längerem schwelend miteinander verlinkten Finanz-, Euro-, Flüchtlings-, Demokratie- und Klimakrisen nachhaltig zu überwinden. Dafür schlägt der Autor im Anschluss an die laufenden politischen und wissenschaftlichen Debatten zu den einzelnen Problemfeldern eine Palette aufeinander abgestimmter Reformstrategien vor, die diesen Anspruch plausibel einlösen. Der Begriff »Realismus« zielt zum einen auf die tatsächliche Realisierbarkeit dieser konkreten Reformstrategien in der gegebenen Welt. Die entscheidende Innovation dieses spannenden Buches besteht aber in der zweiten Bedeutung, die der Begriff Realismus hier gewinnt. Der Autor liefert damit sozusagen das missing link, das fehlende Verbindungsglied zwischen den Reformprojekten und den sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen-Milieus und Lebenswelten, an deren Werten, Einstellungen und Interessen sie tatsächlich anschließen können. Er legt damit unter Bezug auf den sozialwissenschaftlichen Forschungsstand eine solide empirische Grundlage für seine Vorschläge für transformierende »Reform-Plattformen« und die für deren Realisierung nötigen gesellschaftlichen Bündnisse, die das Selbstverständnis der Sozialdemokratie aktualisieren und bekräftigen können. Vor allem demonstriert er sorgfältig Punkt für Punkt, durch welche Art von inhaltlich politischem Brückenschlag in den unterschiedlichen Reformfeldern der größte Teil der in einer eher verzerrenden Terminologie »Kommunitaristen« genannten Globalisierungsverlierer und der als »Kosmopoliten« bezeichneten Modernisierungsgewinner zu einem gemeinsamen politischen Handeln zusammengeführt werden können. Damit knüpft er in der Sache auf originelle Weise an ein klassisches Projekt an, mit dem die Sozialdemokratie in der Ära Willy Brandt/Peter Glotz auf die wachsende gesellschaftliche Differenzierung, die Neuen Sozialen Bewegungen und neuen sozio-kulturellen Milieus geantwortet hatte. Peter Glotz hatte nämlich zu Beginn der 80er Jahre bei dem auf diesem Forschungsfeld führenden Sinus-Institut in Heidelberg die Studie »Planungsdaten für eine mehrheitsfähige SPD« (1984) in Auftrag gegeben, um die strategische Erfolgsformel Willy Brandts vom »Bündnis zwischen Arbeiterklasse und aufgeklärtem Bürgertum« unter den Bedingungen einer dominant werdenden Strukturierung der Gesellschaft in vielfältige Milieus auf den neuesten Stand zu bringen. Damit schuf er die Grundlagen für das Berliner Programm von 1989, das mit seiner Betonung von Ökologie, Geschlechtergleichheit und kultureller Liberalisierung die Voraussetzung für die rot-grüne Koalition und die progressive Reformpolitik ihrer ersten Phase schuf.

In der Zwischenzeit hat sich die Lage abermals entscheidend verändert. In den Sozialwissenschaften ist heute unbestritten, dass die wirtschaftsliberale Globalisierung einen neuen sozialen und politischen Grundkonflikt hervorgetrieben hat. Er verläuft zwischen denen, die sich aufgrund ihrer globalisierungsaffinen Bildungswege und Berufspositionen mit der Entgrenzung begeistert identifizieren und jenen, die sich infolge ihrer an lokale Bedingungen gebundenen Berufe und Lebensformen durch sie bedroht, benachteiligt und abgewertet fühlen und daher das Gemeinschaftsleben vor Ort vehement verteidigen. Die üblich gewordene Entgegensetzung der beiden Pole und die Vorstellung, es handele sich dabei um homogene Kollektive wie auch die Vorstellung, hier fresse sich eine starre sozial-politische Konfrontation ins gesellschaftlich-kulturelle Gewebe ein, liefern ein sehr ungenaues Bild der Lage. In Wahrheit haben wir es nämlich mit einer höchst flexiblen und wandelbaren Konstellation sozio-kultureller Interessen und Mentalitäten zu tun. Um das der Realität entsprechende genauere Bild der aktuellen sozio-kulturellen Differenzierung der Gesellschaft in Klassen, Milieus und Lebenswelten zu gewinnen, bereichert Saxer seinen »Baukasten der Allianzbauer« mit den aktuellsten Befunden der einschlägigen Sozialforschung zur gesellschaftlichen Differenzierung. Dabei zeigen sich neun Milieus in allen sozio-ökonomischen Klassen mit unterschiedlichen Interessen, Lebenswelten und Affinitäten zu Werten und Ideologien. In ihnen kommen jeweils auf sehr direkte und konkrete Weise die tatsächlichen Mentalitäten und politischen Handlungsorientierungen großer gesellschaftlicher Kollektive zum Ausdruck.

Sein Versprechen eines »Transformativen Realismus« löst der Autor nun durch eine sorgfältige Sondierung ein, indem er abgleicht, wie die Interessen und Werte dieser großen sozialen Milieus und die übergreifenden sozialdemokratischen Reformprojekte zusammenpassen, mit denen sich die Krisen der Gegenwart zugunsten einer nachhaltigen Ökonomie und einer guten und menschengerechten Gesellschaft überwinden lassen. Die fünf übergreifenden Reformprojekte verraten schon in ihren bildhaften Namen ihre Zielrichtung und Inhalte: der Green New Deal, der hegende und pflegende Gärtnerstaat, die menschengerechte Wirtschaft, die solidarische und souveräne Schutzmacht Europa und die lebenswerten Heimaten. Für jedes dieser Projekte wird detailliert belegt, warum und wie es mit dem Interessen- und Wertekern einer mehrheitsbildenden Koalition von Milieus und Lebenswelten im mitte-linken Spektrum zusammenhängt.

Plattform der Brücke

Im Vergleich der konkurrierenden Angebote für eine Neubestimmung der sozialdemokratischen Mission, die zuletzt in den Debatten kursierten, vom Autor im Einzelnen präsentiert und miteinander verglichen, erweist sich die »Plattform der Brücke« als tragfähigstes Modell. Es spannt nicht einfach das »breite Zelt der alten Volksparteien« noch einmal auf und bittet dann quer durch die Bevölkerung um Eintritt. Stattdessen beruht die programmatische »Plattform der Brücke auf einem überwölbenden Narrativ von einem besseren Morgen« und spricht für dessen Unterstützung gezielt die dafür empfänglichen Wertewelten in der Gesellschaft an. So kann sie ihren Kampf um die Diskurshoheit mit der politischen Organisation gesellschaftlicher Mehrheiten verbinden. Dafür ist der Universalismus der gemeinsamen ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Interessen in ihrer inneren Verflochtenheit, der für jede besondere Lebensweise Chancen und Freiräume schafft, besser geeignet als der Versuch des Einsammelns immer weiter ausdifferenzierter identitätspolitischer Sonderinteressen.

Beim Bilden der Allianzen im politischen Diskurs zeigen sich dann nicht nur die zahlreichen Vorurteile und Missverständnisse im mitte-linken Lager, an deren Überwindung gearbeitet werden muss, sondern auch, welche Extrempositionen in ihnen gewillt sind, sich jeder Kompromiss- und Konsensbildung prinzipiell zu entziehen. Das zeigt sich beispielhaft bei der Reformplattform »lebenswerte Heimaten«. Denn ohne kollektive Identitätsangebote können die Vielen, die in den Verunsicherungen der neoliberalen Globalisierung »nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Selbstachtung« suchen, nicht erreicht werden. Eine Linke, die identitätsstiftende politische Leitbilder wie »Heimat« oder »Nation« als missbrauchsanfällig einfach preisgibt, statt sie mit emanzipatorischem Inhalt zu füllen, treibt die Suchenden dem rechten Populismus in die Arme. Ähnliches gilt für die Resignation gegenüber einem ins Maßlose erweiterten Verständnis von »Solidarität«, das deren Ziele erst in einer alle Grenzen und Nationen auflösenden Welt erfüllt sieht und dabei verkennt, dass der Solidarität damit wider Willen die Bedingungen ihrer eigenen nachhaltigen Wirksamkeit entzogen werden. Zu alldem bietet Saxers gewichtiges Buch nicht nur in seinen großen Konzeptionen, sondern für viele der Teildiskurse, auf den sie beruhen, eine Fülle anregender Argumente. Ein must read für die demokratische Linke.

Marc Saxer: Transformativer Realismus. Zur Überwindung der Systemkrise. J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2021, 240 S., 22 €.

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