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Soziale Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert

Die SPD führt ihren Bundestagswahlkampf unter dem Motto »Zeit für mehr Gerechtigkeit«. Dies ist begründungspflichtig. Denn schließlich sind die Eckdaten so gut wie lange nicht: Die Wirtschaft wächst, wir haben eine Rekordbeschäftigung und sogar Steuerüberschüsse. Vielen geht es gut. Zugleich zeigen aber Befragungen, dass viele Bürger der Meinung sind, in Deutschland gehe es nicht gerecht zu.

Doch dieser vermeintliche Widerspruch lässt sich leicht auflösen: Gerade weil es derzeit gut läuft und der öffentliche Eindruck vermittelt wird, »alles sei in Butter«, fällt Ungerechtigkeit noch stärker auf. Hinter den abstrakten Zahlen verbirgt sich eine differenzierte Lebenswirklichkeit. Zum einen erfassen wir in den Statistiken das Ausmaß von Ungleichheit nicht vollständig, weil ganz Reiche und ganz Arme wie Obdachlose in ihnen nicht hinreichend vorkommen. Zum anderen – und dies ist wichtiger – geht es nicht nur um die eigene Lebenslage. Zudem bilden sich die konkreten Alltagserfahrungen nicht in Tabellen ab: Die Beschämung die wir empfinden, wenn wir einer betagten Flaschensammlerin begegnen, die persönliche Erfahrung der Benachteiligung von Leiharbeitern gegenüber Stammbelegschaften, die Verzweiflung von Familien auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum oder die Verärgerung über die »Oberschichtenkriminalität« durch Steuerhinterziehung.

Renommierte Ökonomen wie Thomas Piketty, Anthony Atkinson und Branko Milanović wiesen in den letzten Jahren eindrucksvoll darauf hin, dass es in fast allen OECD-Ländern ab etwa 1980 eine Wende zu mehr Ungleichheit gab, wenn auch nicht überall so dramatisch wie im angelsächsischen Kapitalismus. Dass es diese Tendenz auch in Deutschland gibt, bestätigt der von mir im Frühjahr vorgelegte Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Die OECD selbst schreibt in ihrem im Juni vorgelegten Employment Outlook 2017 bemerkenswerterweise: »infrage gestellt werden dadurch die Politikempfehlungen seitens internationaler Organisationen wie der OECD, die lange Zeit auf die wirtschaftlichen Vorteile einer globalen Integration verwies, jedoch erst seit Kurzem einen inklusiven Wachstumsansatz verfolgt, in dem entsprechend auf die Verteilung dieser Vorteile in der gesamten Bevölkerung geachtet wird.«

Es stellt sich also die Frage, ob für Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum der Preis einer hohen Ungleichheit gezahlt werden muss. In der »sozialdemokratischen« Erinnerung ist die historisch einzigartige Phase des »goldenen Zeitalters« des 20. Jahrhunderts fest verankert, in der ein steigendes Pro-Kopf-Einkommen, ein hohes Beschäftigungsniveau (allerdings v. a. für Männer) mit geringerer Ungleichheit durchaus möglich war. Die Suche nach einem solchen Wirtschafts- und Sozialmodell des »inklusiven Wachstums«, auch als politische Antwort auf die Megatrends der Globalisierung, der Digitalisierung und des demografischen Wandels hat neu begonnen. Doch hier gibt es auch Irrwege. Auf der rechten Seite des Spektrums finden wir den Versuch, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Doch eine Welt ohne Globalisierung und Migration wird es nicht geben. Manche Linke und Marktliberale (schon diese Einigkeit sollte stutzig machen) setzen auf das vermeintliche Allheilmittel eines bedingungslosen Grundeinkommens. Doch auch dies ist keine Antwort auf die komplexen Herausforderungen der Wirtschaft und Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts.

Unsere Idee von sozialer Gerechtigkeit

Zunächst einmal ist zu klären, was wir heute unter »Gerechtigkeit« verstehen. Schließlich ist niemand für mehr Ungerechtigkeit. Umgekehrt kann man auch vermeintlich selbstverschuldete Armut »gerecht« finden oder ein Renteneintrittsalter mit 80 Jahren. Gerechtigkeit hat verschiedene Dimensionen, denen verschiedene Wertvorstellungen und Ziele zugrunde liegen.

Ausdruck unseres Wertes der Solidarität ist die Bedarfsgerechtigkeit. Sie soll sicherstellen, dass jeder Bürger in seiner jeweiligen Lebenslage unterstützt wird und Zugang zu elementaren Gütern und Leistungen wie Bildung, Wohnen und Gesundheit hat.

Neben die Bedarfsgerechtigkeit tritt die Verteilungsgerechtigkeit. Aber anders als Konservative sehen wir sie nicht im Gegensatz zur Leistungsgerechtigkeit. Wer viel kann und viel leistet, muss etwas davon haben. Doch die Maßstäbe für die Bewertung von Leistung kann nicht allein der Markt setzen. Dass zum Beispiel vermeintliche »Frauenarbeit« in Deutschland immer noch schlechter bewertet ist als »Männerarbeit« hat nichts mit Leistung, Bildung oder Produktivität zu tun, sondern mit falschen und veralteten gesellschaftlichen Maßstäben der Leistungsbewertung.

Seit einiger Zeit ist auch von Generationengerechtigkeit die Rede. So wichtig dieses Prinzip ist, so wurde mit dem Begriff gerade um die Jahrtausendwende viel Schindluder getrieben, um Jung und Alt gegeneinander auszuspielen, mit dem Ziel unser Rentensystem zu diskreditieren. Richtig ist, dass wir der jungen Generation keine übermäßigen Schulden, keine zerstörte Umwelt aber auch keine marode öffentliche Infrastruktur hinterlassen sollten.

Doch Generationengerechtigkeit ist nicht ohne Chancengleichheit denkbar. Es geht darum, Unterschiede in den Lebenschancen so weit wie möglich auszugleichen, weil wir davon ausgehen, dass jeder Mensch frei und gleich geboren wird und alle die gleichen Chancen haben sollten. Zur Chancengleichheit gehört auch die politische Gleichheit, also, dass jeder Bürger nicht nur formal, sondern faktisch die gleiche Chance hat, auf demokratische Entscheidungen Einfluss zu nehmen.

Unsere Idee von sozialer Gerechtigkeit bündelt diese Prinzipien: Bedarfsgerechtigkeit, soziale und politische Chancengleichheit, Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit. Sie geht dabei von der arbeitsteiligen Gesellschaft aus, in der wir alle aufeinander angewiesen sind, wollen wir Wohlstand schaffen und erhalten. Doch für uns zählt nicht nur die angebliche Produktivität des Einzelnen, sondern das produktive Zusammenspiel aller. Wir haben zum Glück eine starke Industrie. Doch die große Mehrheit arbeitet im Dienstleistungssektor. Manche dieser Dienstleistungen gelten als niedrig produktiv. Doch würden unsere Wirtschaft und Gesellschaft funktionieren ohne Polizistinnen, Busfahrer, Erzieherinnen und Pfleger? Wäre ein Geschäftsmodell wie Amazon denkbar ohne Kommissionierer, Packerin und Auslieferungsfahrer? Und wenn das gutverdienende Akademikerpaar seine 50-Stunden-Jobs nur dann erledigen kann, wenn sie auf Dienstleistungen zurückgreifen (z. B. Kita, Haushaltshilfen oder Pflegedienst), dann muss klar sein, dass auch diese Arbeit ihren Wert und Preis haben sollte.

Wenn wir von Gerechtigkeit sprechen, gelten folgende Grundprinzipien:

Erstens: Jeder sollte die besten Voraussetzungen bekommen, durch Arbeit einen produktiven Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand zu leisten. Dabei geht es – zumal in der digitalen Arbeitswelt – nicht nur um Bildung und Startchancen, sondern um die Unterstützung in der ganzen Erwerbsbiografie.

Zweitens: Jeder soll gerecht am in der arbeitsteiligen Gesellschaft erwirtschafteten Wohlstand teilhaben. Lebensleistung muss im Alter anerkannt werden. Um diesen Ausgleich sicherzustellen, haben alle Bürger soziale Rechte, aber auch soziale Pflichten und Verantwortung.

Drittens gilt, dass im Bedarfsfall beispielsweise von Krankheit oder Behinderung alle Bürger so unterstützt werden, wie es einer reichen Gesellschaft würdig ist.

Viertens: Arbeitsteilung ist international und Gerechtigkeit darf nicht an nationalen Grenzen haltmachen. Wir brauchen einen fairen Welthandel und eine engere politische Zusammenarbeit in der Europäischen Union.

Fünftens schafft eine so verstandene Gerechtigkeit auch wieder mehr Systemvertrauen und eine gemeinsame Wertebasis. Das ist das beste Gegengift gegen diejenigen, die den nationalistischen Rückwärtsgang einlegen wollen.

Eine Politik der sozialen Gerechtigkeit ist für uns zum einen ein Korrektiv zu den Kräften des Marktes. Sie bettet die Marktwirtschaft in Regeln und Prinzipien ein. Sie ist zum anderen auch die Grundlage für eine erfolgreiche Marktwirtschaft. Denn sie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann: Recht und Justiz, Sicherheit, Bildung, qualifizierte Fachkräfte, Wissen, öffentliche Infrastruktur und Forschung und nicht zuletzt sozialer Frieden.

Wir erinnern uns: Die lähmenden 16 Jahre unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl haben wir mit der Formel »Innovation und Gerechtigkeit« beendet. Es ging um beides und die Konservativen standen – wie heute auch – weder für das eine noch das andere. Innovation und Gerechtigkeit sind für uns zwei Seiten derselben Medaille. Doch diese Verbindung ist nicht immer in den Köpfen der Menschen. Es ist die ewige Strategie der Konservativen und Liberalen ökonomische Leistungsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit gegeneinander auszuspielen. Und es ist die immerwährende Aufgabe der Sozialdemokratie, dieses ideologische Spiel nicht nur zu durchschauen, sondern deutlich zu machen, dass eine intelligente Politik hohen Wohlstand mit geringer Ungleichheit verbinden kann. Weniger Lohnungleichheit in Deutschland wäre nicht nur gerecht, sondern gerade mit Blick auf den ökonomischen Ausgleich in der EU auch wirtschaftlich und politisch sinnvoll.

Vor allem stimmt der Mythos »Die Gewinne von heute sind die Arbeitsplätze von morgen« schon lange nicht mehr. Der Widerspruch unserer Zeit besteht zwischen hohen Kapitalvermögen einerseits und zu geringen Investitionen andererseits. Letzteres wird zu Recht von OECD, IWF, EU-Kommission, Wirtschaftsinstituten aber auch der »Fratzscher-Kommission« des Wirtschaftsministeriums problematisiert. Derzeit flüchtet sich Kapital in Finanzspekulationen oder in Anlagen wie Immobilien. Den Preis für diese »Vermögensinflation« haben jedoch die Mieter zu zahlen. Wir sollten an Artikel 14, Absatz 2 des Grundgesetzes erinnern: »Eigentum verpflichtet«. Darum sollte das Prinzip »Fördern und Fordern« nicht nur für Menschen, die Arbeit suchen gelten, sondern auch für die Wirtschaft und Kapitalbesitzer. Wir sollten Lösungen finden, wie wir hohe Vermögen und Kapitaleinkommen so mobilisieren, dass Kapital vermehrt in Zukunftsinvestitionen fließt.

Dies gilt ebenso für öffentliche Investitionen. Gerade bei den Wirtschaftsliberalen und Sparkommissaren zeigt sich ein Widerspruch – zwischen einem wolkigen Zukunfts- und Innovationsgerede und der Hinnahme eines staatlichen Substanzverlusts. Mit Ausnahme der Jahre, in denen die Konjunkturpakete wirksam waren, haben wir seit Anfang des Jahrtausends negative Nettoinvestitionen der öffentlichen Hand. Unser öffentlicher Kapitalstock verliert an Wert, was man an maroden Brücken und Schulgebäuden erkennen kann. Daher sollte die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse um Investitionsziele der öffentlichen Hand ergänzt werden.

Gerechtigkeit in der neuen Arbeitswelt und der Bürger-Sozialstaat

Trotz Rekordbeschäftigung haben wir einen hohen Anteil unsicherer und niedrig entlohnter Arbeit. Für viele Junge wie auch Ältere gilt die Stabilität und Verlässlichkeit der alten Arbeitswelt nicht mehr. Auch im Sozialsystem werden viele Ungerechtigkeiten im Alltag erlebt. Etwa, wenn man als gesetzlich Krankenversicherter auf einen dringenden Arzttermin länger warten muss als der Privatversicherte. Oder wenn der Auftraggeber eines Solo-Selbstständigen nicht verpflichtet ist, einen Beitrag zu den Sozialversicherungen zu leisten.

Doch unser Sozialstaat hat seine Wurzeln in der alten Arbeitswelt mit einem Statusdenken aus dem 19. Jahrhundert. Man war Arbeiter, Angestellte, Selbstständiger oder Beamtin. Ein Leben lang, oft in demselben Beruf. Heute haben wir bunte Biografien und Wechsel zwischen den Tätigkeiten. Es geht nicht nur um Sicherheit, auch um Autonomie. Die Digitalisierung wird diese Entwicklung beschleunigen. Auf eine vielfältigere Arbeitswelt mit Brüchen und Übergängen ist ein universelles System die richtige Antwort, weil es eben alle einbezieht und man ein Erwerbsleben lang in einem verlässlichen System bleibt. Wir wollen schrittweise die Sozialversicherungen zu einem Bürger-Sozialstaat weiterentwickeln. Dazu gehört die Bürgerversicherung für Gesundheit und Pflege. Dazu gehört aber auch, Selbstständige, die keine eigenen Systeme der Alterssicherung haben, in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen, ohne sie dabei finanziell zu überfordern. Generationengerechtigkeit heißt für uns gerade mit Blick auf die Alterssicherung nicht Alt gegen Jung auszuspielen. Es geht darum, den Generationenvertrag langfristig zu erhalten und dies geht nur mit dem Vertrauen aller Generationen in das System. Wir wollen die Finanzierungsgrundlage der Rente im demografischen Wandel dauerhaft sichern. Wenn wir die Steigerung der Beiträge begrenzen wollen, müssen wir die Alterssicherung durch einen höheren Steueranteil als gesamtgesellschaftliche Aufgabe ansehen.

In der Arbeitswelt wollen wir die in der laufenden Legislaturperiode mit dem Mindestlohn und dem Gesetz zur Verhinderung des Missbrauchs von Leiharbeit und Werkverträgen begonnene Strategie der Begrenzung von unsicherer Arbeit fortsetzen, unter anderem durch eine Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Doch es geht nicht nur um »Regulierung«. Wir befinden uns am Vorabend einer massiven Transformation der Arbeitswelt durch die Digitalisierung. Gerade weil der Staat nicht alles mit Gesetzen lösen kann, brauchen wir dezentrale Aushandlungsmechanismen in der Wirtschaft. Es ist schon bemerkenswert, dass gerade das liberale Bürgertum »mehr Demokratie« fordert, aber von der Mitbestimmung in der Wirtschaft nie die Rede ist. Die im kommenden Jahr anstehenden Betriebsratswahlen sollten wir für eine Kampagne zum Comeback von Mitbestimmung und Tarifpartnerschaft nutzen, Vorschläge zur Stärkung der Mitbestimmung einbringen und deutlich machen, dass der sozialdemokratische Weg in die neue Arbeitswelt nur auf dem Weg einer sozialpartnerschaftlichen Aushandlung beschritten werden kann. Dazu gehört auch ein gemeinsamer »Pakt für anständige« Löhne, um die Lohnungerechtigkeit deutlich zu reduzieren.

Nicht zuletzt gilt es, unseren Sozialstaat auf die neue Arbeitswelt auszurichten, um auch mehr Selbstbestimmung im Lebensverlauf zu ermöglichen. Wir wollen die Arbeitslosenversicherung in eine Arbeitsversicherung umbauen, um Beschäftigten einen Anspruch auf Qualifizierungsberatung und im Bedarfsfall geförderte Weiterbildung zu ermöglichen. Ergänzend habe ich das Konzept eines persönlichen Erwerbstätigenkontos in die Diskussion eingebracht, auch als alternativen Denkanstoß zum bedingungslosen Grundeinkommen. Jeder Bürger sollte ein steuerfinanziertes Startkapital im Sinne eines »Sozialerbes« erhalten, dass er für eigene Qualifizierungsphasen oder auch eine Existenzgründung einsetzen kann. In diesem Instrument bündeln sich die Ziele der Chancengleichheit, der Generationengerechtigkeit sowie der Verteilungs- und Bedarfsgerechtigkeit.

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